Die Fakten und Leerstellen in Erzbischof Viganòs Zeugnis
Der ehemalige Apostolische Nuntius in den USA, Carlo Maria Viganò, fordert den Rücktritt des Papstes. Eine tiefgehende Analyse seines Zeugnisses und seiner widersprüchlichen Schlussfolgerungen.
Der ehemalige Apostolische Nuntius in den USA, Erzbischof Carlo Maria Viganò wirft Papst Franziskus vor, er hätte den durch Missbrauchsvorwürfe diskreditierten Kardinal Theodore McCarrick rehabilitiert und sich dadurch der Vertuschung von Missbrauch schuldig gemacht. Er fordert den Papst zum Rücktritt auf.
Seine Vorwürfe hat Viganò in einem elfseitigen „Zeugnis“ vorgelegt, das Die Tagespost vollständig auf Deutsch dokumentiert. Diese Analyse des „Zeugnisses“ ist in englischer Sprache im Vatican Insider der La Stampa erschienen. Wir haben den Artikel mit freundlicher Genehmigung des Autors übersetzt.
„Ich denke, Viganòs Statement spricht für sich selbst, und Sie haben die professionelle Reife ihre eigenen Schlüsse zu ziehen.“ Mit diesen Worten lud Franziskus die Journalisten an Bord seines Rückflugs von Dublin ein, das elfseitige Dossier zu lesen, das der ehemalige Nuntius in den USA, Carlo Maria Viganò, veröffentlichte. Dieser fordert den Rücktritt des Papstes und wirft ihm vor, den ehemaligen Erzbischof von Washington Theodore McCarrick (83) gedeckt zu haben, der homosexuelle Verhältnisse zu erwachsenen Seminaristen und Priestern geführt hatte.
Es ist darum notwendig, den Text gründlich zu lesen, ihn zu analysieren und die Fakten von Meinungen und Interpretationen zu trennen. Und, auf Auslassungen hinzuweisen.
Die Anti-Bergoglio-Operation
Die aufmerksamkeitsheischende Entscheidung des ehemaligen Vatikandiplomaten, den Treueeid gegenüber dem Papst und sein Dienstgeheimnis zu brechen, ist eine erneute organisierte Attacke jener Kreise auf Franziskus, die schon vor einem Jahr den Versuch unternahmen ihn im Nachgang der Veröffentlichung der Exhortation „Amoris laetitia“ wegen Lehrübertretungen aus dem Amt zu jagen. Der Versuch scheiterte. Tatsächlich ist Viganò gut vernetzt mit erzkonservativen Kreisen in Amerika und im Vatikan und ein Unterzeichner einer Erklärung, in der Papst Bergoglio als Scheidungsbefürworter bezeichnet wird.
Dass dies nicht einfach der Wutausbrauch eines Kirchenmannes ist, der der scheußlichen Dinge müde ist, die er um sich her erblickt, sondern eine von langer Hand und sorgfältig geplante Operation, ein Versuch den Papst zum Rücktritt zu bewegen, wird durch das Timing und durch die Beteiligung desselben internationalen Medien-Netzwerks deutlich, das schon seit Jahren – oft unter Nutzung anonymer Quellen – die Forderungen derjenigen verbreitet, die das Ergebnis des Konklave von 2013 umstoßen wollen.
Es wird weiter bestätigt, durch die in einigen Blogs veröffentlichten Aussagen der Journalisten, die das Viganó-Dossier verbreiteten: Sie stehen sonst immer in der vordersten Reihe, wenn es darum geht, die traditionelle Familie zu verteidigen, aber waren achtlos genug, die Bombe an genau jenem Tag platzen zu lassen, an dem Franziskus das internationale Familientreffen mit einer großen Messe beendete.
Lassen sie uns zuerst einmal die Fakten anschauen und davon ausgehen, dass Viganò die Wahrheit sagt.
Die Beschwerde von 2000
Am 22. November 2000 schrieb der Dominikanerpater Boniface Ramsey an den Apostolischen Nuntius in den USA Gabriel Montalvo und informierte ihn über Gerüchte Kardinal McCarrick betreffend, die ihm zu Ohren gekommen waren, der Kardinal „teile das Bett mit Seminaristen“.
Am Tag zuvor hatte Johannes Paul II. McCarrick zum Erzbischof von Washington ernannt (21. November 2000). Viganò hält fest, dass die Beschwerde des Nuntius beim vatikanischen Staatssekretariat, damals geleitet von Kardinal Angelo Sodano, keine Folgen hatte. Zu beachten ist: Die erste Beschwerde, die die Nuntiatur und von dort aus den Vatikan erreicht, wurde unmittelbar nach der Berufung nach Washington eingereicht.
Man mag sich allerdings wundern: Wenn doch die Gerüchte über McCarrick – wie behauptet – so weitverbreitet und triftig gewesen sein sollen, warum wurde er trotzdem zum Weihbischof ernannt (1977, am Ende des Pontifikats von Paul VI.), zum Bischof von Metuchen berufen (1981, am Beginn des Pontifikats von Johannes Paul II.), in die Erzdiözese von Newark versetzt (1986, wiederum unter Papst Wojtyla) und zuletzt nach Washington befördert (2000) und zum Kardinal ernannt (2001)?
Ist alles Sodanos Fehler?
Im Jahr nach seiner Berufung nach Washington nahm Papst Wojtyla McCarrick in das Kardinalskollegium auf. In seinem Dossier schiebt Viganò die Verantwortung für diese Nominierung – ohne jeglichen Beweis – Sodano zu, indem er erklärt, dass der Papst zu dieser Zeit bereits krank war und nahezu außerstande, den Vorgang zu verstehen und die Kirche zu regieren. Jeder, der sich mit dem Vatikan einigermaßen auskennt, weiß, dass dies nicht wahr ist. Jedenfalls war es im Jahr 2000 nicht wahr: Johannes Paul II. sollte noch fünf weitere Jahre leben.
Was wir wissen, ist, dass der Privatsekretär des Papstes, Stanislaw Dziwisz (ein Name, den Viganò auslässt), und der damalige Substitut im vatikanischen Staatssekretariat und Präfekt der Kongregation für die Bischöfe, Giovanni Battista Re (der von Viganò entlastet wird), Teil der kleinen Gefolgschaft Wojtylas waren, die die Nominierungen kontrollierte.
War der erste Bericht vielleicht deshalb nicht vertrauenswürdig genug, weil die Beschwerdeführer selbst keine Verantwortung für die Vorwürfe übernahmen? Oder war es McCarricks Macht – z.B. in finanzieller Hinsicht -, die im Vatikan Türen öffnete, die besser verschlossen geblieben wären?
Man kann durchaus über die Berufung nach Washington ins Grübeln geraten, aber warum dachte niemand daran die Vorwürfe zu untersuchen, bevor McCarrick im darauffolgenden Jahr zum Kardinal ernannt wurde? Und warum beharrte der Nuntius nicht darauf, von Johannes Paul II. empfangen zu werden, wenn er sich des Missbrauchs an Seminaristen und Priestern (allesamt volljährig) so sicher war?
Die Sanktionen Benedikts XVI.
Neue Beschwerden über McCarrick wurden 2006 vorgebracht, als Benedikt Papst und Tarcisio Bertone Kardinalstaatssekretär geworden waren. Die Szenerie betritt nun Georg Littleton, ein ehemaliger Priester und selbst des Kindesmissbrauchs schuldig. Er erinnert sich gegenüber dem Nuntius in den USA (zu dieser Zeit Monsignore Pietro Sambi) daran, von McCarrick sexuell belästigt worden zu sein (ebenfalls als Volljähriger). Viganò erstellte eine Notiz für seine Vorgesetzten, die darauf nicht antworteten.
Zur Erinnerung: Zu dieser Zeit war McCarrick bereits in den Ruhestand eingetreten. Der neue Papst, Benedikt XVI., hatte den altersbedingten Rücktritt des Bischofs am 16. Mai 2006 angenommen, den jener bereits ein Jahr zuvor, am 7. Juli 2005, eingereicht hatte, gemäß des kanonischen Rechts beim Erreichen des 75. Lebensjahres. Wenn die Gerüchte und Beschwerden so umfassend bekannt waren, wie behauptet, warum wurde McCarrick nicht sofort aus dem Dienst entlassen, als er 75 Jahre alt wurde?
Im Jahr 2008 zirkulierten erneut Vorwürfe über unangemessenes Verhalten McCarricks. Viganò schreibt, dass er darum eine weitere Notiz an seine Vorgesetzen gesendet habe. Zu diesem Zeitpunkt scheint Bewegung in die Sache gekommen zu sein, wenn auch mit der für die vatikanische Bürokratie typischen Verzögerung. Tatsächlich soll, laut Viganò, Benedikt XVI. dem inzwischen emeritierten Kardinal eine Strafe auferlegt haben. Viganò kann den genauen Termin dieser Sanktionen nicht nennen, weil er zu dieser Zeit seine Stellung im Staatssekretariat, von der aus er die Arbeit der Nuntiaturmitarbeiter koordiniert hatte, schon verlassen hatte und zum Generalsekretär des Governatorats der Vatikanstadt berufen war.
Folglich soll Benedikt XVI. „in 2009 oder in 2010“ eingeschritten sein und McCarrick den Rückzug aus der Öffentlichkeit in ein Leben des Gebets und den Auszug aus dem neokatechumenalen Seminar „Redemptoris Mater“, das er in Washington gegründet hatte, befohlen haben – soweit Viganò die Wahrheit sagt, was wir einmal voraussetzen.
Mysteriöse Sanktionen
Benedikts Anordnung wird nicht öffentlich gemacht und dem Nuntius in Washington (Sambi) vom Heiligen Stuhl nurmehr mündlich überbracht, so dass er sie an die betreffende Person weitergeben kann. Ein Akt der Nachsicht gegenüber einem inzwischen alten und pensionierten Kardinal, dem die Schande öffentlicher Bloßstellung erspart bleiben soll?
Oder wurden die Beweise von Benedikt XVI. nicht genügend gewürdigt, der ja offensichtlich ausreichend über die McCarrick zur Last gelegten Vorwürfe unterrichtet wurde? Wie sonst hätte er Urheber der Sanktionen sein können? Papst Ratzinger wusste folglich um die Vorwürfe, dachte aber, es wäre genug, dem ohnehin pensionierten Kardinal zu empfehlen, sich still im Abseits zu halten.
Zur Erinnerung: Niemand hat bisher von Kindesmissbrauch gesprochen, noch gar Kardinal McCarrick dessen bezichtigt. Es geht um die Belästigung erwachsener Personen. Sie stellt tatsächlich einen Missbrauch dar, weil es der Bischof war, der Seminaristen oder Priester in sein Bett eingeladen hat. Dies waren keine Begebenheiten zwischen Gleichgestellten: vor dem sexuellen Missbrauch steht darum der Missbrauch geistlicher Macht.
Gleichwohl hat niemand jemals behauptet, dass „Onkel Ted“ (wie sich McCarrick selbst nannte) Gewalt oder Drohungen gebrauchte, um mit Seminaristen kurz vor der Priesterweihe und jungen Priestern zu schlafen. Wir könnten fragen: Wenn doch diese ernstzunehmenden Fakten so erwiesen waren, warum wurde kein Exempel statuiert und der Kardinal öffentlich bestraft, indem man ihm ein Leben in Buße verordnete?
Warum hat niemand hingeschaut?
Zweifel an den mutmaßlichen Sanktionen sind mehr als angebracht, besonders im Lichte des weiteren Fortgangs der Ereignisse. In seinem Dossier behauptet Viganò, dass McCarrick die letzten drei oder vier Jahre von Ratzingers Pontifikat als Einsiedler oder zurückgezogener Mönch gelebt habe und sich sein Käfig erst nach der Wahl Franziskus‘ zum Papst öffnete. Abermals müssen wir uns an die dokumentierten Fakten halten: Das stimmt so ganz und gar nicht. Die Wahrheit ist eine andere, gut dokumentiert und nachvollziehbar für jeden mit einem Internetzugang. McCarrick hat seinen Lebensstil während der letzten Amtsjahre Ratzingers nicht geändert: Es stimmt, dass er das Seminar verließ, in dem er bis dahin wohnte, aber er zelebrierte weiter Diakonen- und Priesterweihen, zum Teil gemeinsam mit bedeutenden Kardinälen der römischen Kurie und engen Mitarbeitern Papst Ratzingers. Er hielt Vorlesungen.
Am 16. Januar 2012 nahm er gemeinsam mit anderen US-Bischöfen an einer Audienz Benedikts XVI. im Vatikan teil, sein Name wurde auf der Teilnehmerliste der Pressemitteilung des Heiligen Stuhls geführt. Am 16. April 2012 traf er Benedikt erneut, diesmal bei der Audienz der Päpstlichen Stiftung, und feierte den Geburtstag des Pontifex gemeinsam mit allen Anwesenden.
Er kehrte im Februar 2013 abermals nach Rom zurück, um sich vom zurückgetretenen Papst zu verabschieden und schüttelte ihm bei dieser Gelegenheit lächeln die Hand. Alle Begebenheiten wurden von den Kameras des Vatikanfernsehens für die Ewigkeit festgehalten. Es ist klar, dass seine Position als nicht so gravierend eingeschätzt wurde, dass seine Schuld nicht als unübersehbar galt, und dass die Sanktionen nicht allzu restriktiv gehandhabt wurden.
Auch Viganò stand neben McCarrick
Und auch Viganò selbst, der in der Zwischenzeit von Benedikt XVI. aus dem Vatikan weg zum Nuntius in Washington „befördert“ worden war, schien die Situation überhaupt nicht zu besorgen.
Seine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen mit Kardinal McCarrick, wie z.B. Konzelebrationen in den USA, sind dokumentiert. Auch eine Veranstaltung, auf der McCarrick eine Auszeichnung erhielt (am 2. Mai 2012, Pierre Hotel in Manhattan) und während der Viganò alles andere als empört oder beschämt darüber erschien, mit dem alten Belästiger-Kardinal fotografiert zu werden.
Es bleibt offen, warum Nuntius Viganò nicht aufstand, nicht handelte, nicht um eine Audienz bat, die restriktiven Bestimmungen nicht durchsetzte, nun da er als päpstlicher Abgesandter auf einem der bedeutendsten diplomatischen Posten einen direkten Draht zu Benedikt hatte.
Franziskus‘ Beitrag
Der amtierende Papst, das eigentliche Ziel der ganzen Operation, betritt die Bühne im Juni 2013, einige Monate nach seiner Wahl. Wir erinnern uns: McCarrick, der als über achtzig Jähriger nicht am Konklave teilgenommen hatte, ist ein pensionierter, aber hyperaktiver Kardinal. Er reist weiterhin um die ganze Welt, hält Vorlesungen, leitet Gottesdienste.
Viganò hat eine Audienz bei Franziskus. Es ist der Papst, der ihm eine Frage zu McCarrick stellt und Viganò erinnert ihn, dass der Kardinal „Generationen von Seminaristen und Priestern verdorben“ hätte und es im Vatikan ein Dossier gäbe, das dies beweise.
Vorsicht: Es war nicht Viganò, der aus Sorge über den Kardinal sprach. Es war der Papst, der um eine Einschätzung bat. Der Nuntius sagt nicht, dass er Bergoglio eine Notiz über die Angelegenheit gegeben habe oder ihn gebeten hätte einzuschreiten. Heute schreibt Viganò völlig entrüstet über Sanktionen Benedikts XVI., die keiner kennt. Sollte es sie je gegeben haben, von ihm als Nuntius wurde jedenfalls nichts unternommen diese Maßnahmen durchzusetzen. Jene Antwort auf die Frage Franziskus‘ ist alles, was er dem heutigen Papst mitteilte.
McCarrick, ein Berater des Papstes?
Viganò schreibt weiter, der alte Kardinal wäre in den frühen Jahren des Pontifikats Franziskus‘ sein Berater geworden, besonders für Berufungen in Amerika. Beweise dafür bleibt er, jedenfalls bis jetzt, schuldig. Stattdessen argumentiert er – und es gibt hier keinen Grund ihm nicht zu glauben -, dass der neue Papst bei jenem ersten Treffen im Juni 2013 empfohlen habe: „Die Bischöfe in den Vereinigten Staaten sollen keine Ideologen sein, sie müssen Hirten sein.“ Weil sich ein paar Monate später McCarrick auf ähnliche Weise gegenüber einem Monsignore der Nuntiatur äußerte (der dies Viganò berichtete), schließt der ehemalige Nutius, der den Rücktritt des Papstes fordert, dass McCarrick hinter Bergoglios Haltung gegenüber der us-amerikanischen Kirche steckte. Eine haltlose Schlussfolgerung.
Es ist doch viel einfacher und plausibel genug anzunehmen, dass Franziskus – der die Amerikanische Kirche kennt – aus eigenem Antrieb heraus gegenüber unterschiedlichen Personen auf die gleiche Formel von den Bischöfen als „Hirten, statt Ideologen“ zurückgriff. Es genügt eine der Reden des Papstes zu lesen, um zu verstehen, dass dies einer der Eckpunkte seiner Vorstellung vom Bischofsamt ist, und dass er schon lange vor dem Konklave 2013 so dachte.
Das Dementi des ehemaligen Botschafters
Eine bemerkenswerte Widerlegung der Theorie Viganòs brachte am Montag dieser Woche Miguel Díaz ein, der von 2009 bis 2012 us-amerikanischer Botschafter beim Heiligen Stuhl war. Er teilte sein Erstaunen über Viganòs Zeugnis bezüglich Franziskus‘ Aussage zu den amerikanischen Bischöfen mit: „Ich erinnerte mich sofort an mein erstes Treffen mit Monsignore Sambi (Papst Benedikts Botschafter) in seiner Residenz in Washington D.C.“, er sagte, „wir brauchen Bischöfe, die weniger politisch und mehr pastoral sind, keine Kulturkämpfer“.
Demzufolge gab es schon unter Papst Ratzinger den Hinweis an den Apostolischen Nuntius in den USA, Bischöfe mit pastoralem Profil statt „Kulturkämpfer“ zu berufen. Offensichtlich wurde die übermäßige Identifikation des us-amerikanischen Episkopats mit bestimmten politischen Positionen und ein ziemlich einseitiges Interesse an einigen wenigen ethischen Fragen bereits am Ende des Pontifikats Ratzingers als problematisch angesehen.
Ein neuer Vorwurf
Viereinhalb Jahre sind seitdem vergangen, als im Jahr 2018 der Vatikan zum ersten Mal Nachricht erhält von einem Missbrauch an einem Minderjährigen, den McCarrick vor fünfzig Jahren als junger Priester verübt haben soll. Der Vorwurf wurde nie zuvor erhoben, noch hatte – Viganòs Bericht zufolge – irgendjemand jemals zuvor über möglichen Missbrauch von Minderjährigen durch McCarrick gesprochen. Die Diözese von New York eröffnete zügig die für diesen Fall vorgeschriebenen Ermittlungen und übermittelte die Akten an die Glaubenskongregation.
Die Diözese von Newark informierte darüber hinaus über zwei Streitbeilegungen, bei denen McCarrick Entschädigungszahlungen leistete. Diese beziehen sich auf Vorwürfe der sexuellen Belästigung von damals schon volljährigen Seminaristen. Was nun geschah, sucht in der jüngeren Geschichte der Kirche seinesgleichen: McCarrick wurde durch Franziskus Schweigen und ein zurückgezogenes Leben auferlegt (d.h. genau jene Sanktionen, die bisher nicht gegen ihn verhängt wurden oder die – sollten sie doch verhängt worden sein – niemand durchsetzte) und die Kardinalswürde entzogen. Der emeritierte Kardinal von Washington ist nicht länger Kardinal.
Verdrehte Fakten und schiefe Logik
Wir sollten uns nicht nur fragen, ob Viganòs Zeugnis wahr ist, umso mehr desto lauter Medien seine Aussagen wie ein Mantra wiederholen und Franziskus‘ Rücktritt fordern. Es muss auch gefragt werden, ob die Abfolge der Ereignisse, wie sie Viganò beschreibt, seine Überlegungen, seine Auslassungen, seine Interpretationen begründet sind und tatsächlich dazu führen sollten, dem amtierenden Pontifex eine Mitverantwortung zuzuschreiben.
Angenommen, dass jedes vom ehemaligen Nuntius vorgebrachte Detail stimmt, so sprechen die reinen und rohen Fakten eine klare Sprache:
Es gab einen heiligen Papst, dessen wesentlich weniger heiliges Gefolge einen homosexuellen Bischof beförderte und zum Kardinal erhob, der seine Macht dazu missbrauchte mit Seminaristen zu schlafen. Auch wenn heute nicht mehr geklärt werden kann, wieviele Informationen den damals noch vollständig verständigen und fähigen Johannes Paul II. persönlich erreichten, dem die Bedeutung einer Ernennung des Erzbischofs von Washington ganz sicher bewusst war.
Es gibt einen weiteren Papst, der heute [Dienstag, 28.08.2018] von sich Reden machte, Benedikt, der McCarrick (vielleicht) ein zurückgezogenes Leben befahl, diesen Befehl aber dann nicht durchsetzen konnte. Der nie zusammenzuckte, als er ihn daraufhin mehrmals im Vatikan traf. Dessen Nuntius in den USA, Viganò selbst, nie ein Problem damit hatte, mit ihm abgelichtet zu werden, mit ihm die Messe zu zelebrieren, mit ihm zu speisen, in seiner Gegenwart Reden zu halten.
Und es gibt schließlich einen Papst, Franziskus, der dem Kardinal trotz seines Alters und seines Ruhestandes die Kardinalswürde aberkannte, ihm Schweigen befahl und ihm verbot öffentlich die Messe zu zelebrieren. Und doch ist es der Kopf des Letzteren, den der ehemalige Nuntius entrüstet fordert, wahrscheinlich allein deshalb, weil Franziskus es sich „herausgenommen“ hat, in den Vereinigten Staaten einige Bischofe zu ernennen, die weniger konservativ sind als zuvor berufene, als es Kardinäle wie Bernard Law waren, die Einfluss auf die amerikanischen Berufungen hatten.
Dass es sich um eine gezinkte Operation handelt, ist jedem offensichtlich, der die Reihenfolge der Ereignisse bedenkt. Übrigens ganz ohne Informationen zur Kenntnis zu nehmen, die die Person Viganò selbst in Verruf bringen würden.
Korrektur:
In Überschrift und Teaser haben wir Carlo Viganò inkorrekt als Kardinal bezeichnet. Er ist tatsächlich Erzbischof. Im Artikel von Andrea Tornielli wird er selbstverständlich korrekt tituliert. Wir haben unseren Fehler korrigiert. (Auf Facebook & Twitter wird trotzdem gelegentlich „Kardinal“ angezeigt.) Danke für den Hinweis an unsere aufmerksamen Leser_innen!