Geisterstunde – Die #LaTdH vom 2. September
Zeit, sich zu entscheiden! In Chemnitz demonstrieren mutige Demokratinnen gegen wütende Rechtsextreme. Außerdem: Viganò vs. Franziskus, ein neuer Bischof und Stevie Wonder.
Debatte
Einen Überblick über den gestrigen Demo-Sonnabend in Chemnitz gibt u.a. die taz, wo der Liveticker von gestern nachgelesen werden kann. Kurz: Viele Rechtsextreme und ihre willigen Mitläufer, ungefähr genauso viele Demokraten auf den Straßen. Und: Keine der rechtsextremen Demos (AfD, ProChemnitz) konnte die Route absolvieren, die sie sich vorgenommen hatte.
Polizei so la la, bemüht, aber streckenweise wieder zurückfallend in alte, in Sachsen leider aktuelle Muster: So wurden die Personalien von vielen tatverdächtigen rechtsextremen Demonstranten vor Ort nicht aufgenommen.
Mehrere Journalisten wurden während ihrer Arbeit angegriffen, zum Glück wurde niemand ernsthaft verletzt. Flaschenwerferein etc. gab es von Nazis wie von linken Autonomen. Teilweise wurden auch Demokraten Opfer von Übergriffen, auch hier keine schwerwiegenden Verletzungen oder gar Schlimmeres.
Unsere Reporter*innen vor Ort berichten davon, dass einige rechte Demonstranten sich jetzt in Dönerbuden stärken. (20:59 Uhr)
Kommen wir nun zur „Sonntagspredigt“:
Unterscheidung der Geister
Die in Chemnitz zu Tage getretene Geisteshaltung haben weder Sachsen noch Ossis, ja nicht einmal die Deutschen exklusiv. Die brandgefährliche Mischung aus Minderwertigkeitskomplex und Chauvinismus – sich zugleich für Opfer der Zeitenläufe und etwas Besseres zu halten – liegt jedem Extremismus zu Grunde.
Gegen diesen paranoiden Narzissmus anzuargumentieren funktioniert nicht, er ist eine zutiefst irrationale Geisteshaltung, die zu pflegen einen allerdings nicht der Verantwortung für das eigene Denken und Handeln enthebt. Wer so fühlt, hat in einer Demokratie nicht mit Verständnis oder gar Zustimmung zu rechnen, sondern mit Widerstand.
Wir Ossis sind, bitte schön, nicht zu bevormunden. Wer bei „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“-Rufen mitgehen kann, der hat dem Grundkonsens dieser Republik den Rücken gekehrt. Dieser besteht aus mehr als dem, was Ministerpräsident Kretschmer seinen Chemnitzer Gesprächspartnern abzuringen versucht („Sind wir uns darüber einig, dass der Hitlergruß nicht okay ist?“, taz). Der Grundkonsens dieser Republik, die deutsche Leitkultur findet sich in jenen Büchlein, die gestern den Rechtsextremen in den Weg gestellt wurden:
16:13 auf der Bahnhofstraße wurde ein Blockade aus Grundgesetzen gebildet || #c0109 #Chemnitz #Grundgesetz pic.twitter.com/clegNPP4xR
— Lukas (@LukasKretzschm4) September 1, 2018
Die „gesprächsoffene“ Haltung derjenigen, die „mit Rechten reden“ wollen, ist gescheitert. Wer „Frei, Sozial und National!“-brüllend durch die Straßen zieht, ist nicht an einem Gespräch interessiert und hat den Langmut der Mehrheit längst verwirkt. Was 2015/2016 mit viel Wohlwollen noch als bedachte Vereinnahmungspolitik konservativer Kreise gelten konnte und noch heute von Akteuren wie Werner Patzelt empfohlen wird, ist endgültig zum Appeasement verkommen („Da hört sich jeder Spaß auf!“, Rudi Fußi bei Fellner! live, sehenswert!).
Den selbsternannten „nationalen Revolutionären“ muss sich die demokratische Mehrheit beherzt entgegenstellen. Erster Schritt: Die eigene Selbstverzwergung beenden. Wenn die sächsische CDU sich dazu nicht durchringen kann, dann vielleicht die sächsische Bevölkerung am 26. Mai (Kommunalwahlen) & 1. September (Landtagswahl) nächsten Jahres. Die sächsischen Demokraten müssen sich emanzipieren, das inkludiert die Emanzipation von der mütterlichen CDU.
Wäre dieses Land noch bei Sinnen, würde es drei Jahre nach „Wir schaffen das“ mit Stolz und Recht von sich behaupten: „Wir haben schon ganz schön was geschafft!“
— Henning Sußebach (@hsussebach) August 31, 2018
Zweiter Schritt: Auch eine demokratische Mehrheit kann ihren Willen zum Guten einbüßen und sich in Verzagtheit ergehen. Dagegen hilft Zusammenstehen und Solidarität. Und es braucht eine positive Zukunftsvision, die Menschen mit konkretem Handeln füllen. Ein „Wir schaffen das!“, für das sich niemand schämt, auch die Urheberin nicht. Ein #Wirsindmehr, das nicht nur Trost ist, sondern Bekenntnis: Wir sind viele. Wir sind ganz verschieden. Aber wir halten zusammen, um eine bunte und gerechte und friedliche Gesellschaft zu schaffen.
Stellungnahme des EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm (EKD)
Der Ratsvorsitzende der EKD, Heinrich Bedford-Strohm (@landesbischof), hat den #HerzstattHetze-Demonstranten in Chemnitz seine Solidarität ausgesprochen. In einem Gottesdienst in München sagte er gestern:
„Während wir hier Gottesdienst feiern, sind in Chemnitz viele Menschen zusammen, um gegen Fremdenfeindlichkeit zu demonstrieren. Uns alle, ob wir jetzt hier in München zusammen sind oder in Chemnitz verbindet die Sehnsucht nach einer Gesellschaft, in der jeder Mensch seinen Platz hat. Ganz egal, woher er kommt oder wieviel er verdient: Wir alle sind geschaffen zum Bilde Gottes und haben eine Würde, die uns niemand bestreiten darf.“
Im Vorfeld des Gottesdienstes hatte er seine Kritik an der AfD erneuert:
„Wenn aus den Reihen der AfD Hass- und Hetzparolen verbreitet werden, kann dies von Christinnen und Christen nicht stillschweigend hingenommen werden.“
nachgefasst
Viganò vs. Franziskus – Ein Skandal auf dem Rücken der Missbrauchsopfer
Statt über die Konsequenzen aus den letzten Missbrauchsskandalen zu diskutieren, streitet sich die röm.-kath. Kirche über die schweren Vorwürfe, die Erzbischof Viganò gegen Papst Franziskus erhebt. Sein „Zeugnis“ – ein Schreiben, in dem er Franziskus und zahlreiche andere Würdenträger der Kirche der Vertuschung von Missbrauch angklagt – hat Die Tagespost in einer deutschen Übersetzung komplett zur Verfügung gestellt.
Und hier in der Eule haben wir am Freitag die deutsche Übersetzung eines Artikels von Andrea Tornielli (@Tornielli) veröffentlicht. Der Vatikanexperte setzt sich darin kritisch mit den Anklagen Viganòs auseinander, und zwar indem er die von ihm angegebenen Fakten unverbrüchlich ernst nimmt und ohne die Person Viganò selbst zu thematisieren.
Das übernimmt Raoul Löbbert (@RaoulLoebbert), Redaktionsleiter der Christ & Welt („Ein Erzbischof sieht rot“):
Vieles an der aktuellen Intervention des enttäuschten Aufklärers [Viganò] bleibt rätselhaft. Das heißt aber nicht, dass seine Vorwürfe gänzlich aus der Luft gegriffen sind. Tatsächlich fährt Franziskus in Sachen Missbrauchsaufarbeitung einen Schlingerkurs: Seinem im australischen Adelaide derzeit wegen Missbrauchsvorwürfen vor Gericht stehenden Vertrauten George Pell […] hielt er lange demonstrativ die Treue. Als in Chile Vorwürfe laut wurden, Juan Barros, der Bischof von Orsono, habe den Missbrauch durch einen seiner Priester gedeckt, stellte sich Franziskus anfangs auf die Seite des Bischofs und polemisierte gegen die Opfer-Vertreter, um dann, als der öffentliche Druck zu groß wurde, die gesamte Bischofskonferenz des Landes zum Rücktritt zu drängen. Ebendiese politische Geschmeidigkeit muss einen promovierten Juristen, selbst ernannten Aufklärer, Whistleblower und enttäuschten Karrieristen [wie Viganò] an sich schon empören.
„Homo-Mafia“ statt Aufarbeitung
Gestritten wird nicht mehr über angemessene Reaktionen auf Missbrauchsfälle, deren Prävention, Opferentschädigungen und gerechte Bestrafungen, Transparenzreformen und schädlichen Klerikalismus (der von Franziskus als Hauptursache für den grassierenden Missbrauch und dessen Vertuschung benannt wurde), sondern über die von Viganò ins Fadenkreuz genommene „Homo-Mafia“, d.h. über homosexuelle Priester und Bischöfe, die angeblich ein weltumspannendes Netzwerk geknüpft haben, um Missbrauch zu vertuschen.
Das Perfide daran: Der Pennsylvania-Bericht (s. #LaTdH von letzter Woche) hatte genau so ein Netzwerk offengelegt, allerdings mit Beteiligung von Geistlichen sowohl hetero- als auch homosexueller Orientierung. Über Missbrauchsfälle mit Blick auf die sexuelle Orientierung der Täter zu diskutieren, lenkt von den systemischen Ursachen des Missbrauchs und der Vertuschungen ab (und ist dazu noch eklig homofeindlich). Die „Homo-Mafia“ wird von Leuten ins Spiel gebracht, denen daran gelegen ist, den Status quo in der röm.-kath. Kirche zu erhalten.
Die moralisch bankrotte Papstkirche – Alexander Görlach (DW)
In einem Kommentar für die Deutsche Welle attestiert Alexander Görlach (@agoerlach), ehemaliger Chef von The European und Herzblutkatholik, der Kirche absolutes Versagen. Auch er kommt, wie Andrea Tornielli (s.o.) auf den – eigentlich offensichtlichen – Fakt zu sprechen, dass vor Franziskus andere Päpste unzureichend kontrolliert und sanktioniert haben. Das stimmt ganz unabhängig davon, ob die Vorwürfe gegen den amtierenden Papst nun zutreffen oder nicht.
Die Wahrheit scheint doch aber viel eher die zu sein, dass hier ein System, das ausgelebter Sexualität mit Ausnahme einiger, weniger geregelter Fälle negativ gegenüber steht, dass eine Struktur, in der Seilschaften und Männerbünde zur Natur der Sache gehören, zu schlimmsten Exzessen geführt hat. Die zölibatäre Papstkirche ist moralisch bankrott, sie hat sich selbst abgeschafft. Wir erleben den größten Schicksalsmoment der Kirche seit der Reformation. Man kann sich im Moment nichts denken, was ihren totalen Untergang noch verhindern könnte.
Man braucht den apokalyptischen Furor Görlachs nicht zu teilen, um zu erkennen, dass die Papstkirche tatsächlich am Scheideweg steht. In seinem Artikel über die längst steckengebliebene Kurienreform (eines der zentralen Projekte des amtierenden Papstes) analysiert Felix Neumann (@fxneumann) auf katholisch.de:
Für eine Organisation ist es aber verheerend, wenn keine unabhängigen Überprüfungen möglich sind, wenn Macht und Autorität statt Recht und Gesetz die Abläufe bestimmen. Das sind Strukturen, die nicht nur schlechte Verwaltung erzeugen: Sie begünstigen auch Missbrauch und Vertuschung.
Einstweilen aber beschäftigt sich die Kirche statt mit solchen Fragen lieber mit einem Grabenkampf zwischen Traditionalisten und Reformern, der völlig unterkomplex derart ausagiert wird, dass es nur noch darum geht, ob man nun auf Seiten Franziskus‘ steht oder nicht. Wenn darin überhaupt etwas zum Ausdruck kommt, dann die tiefsitzende Sehnsucht nach Vereindeutigung und klaren Fronten. Ein derb reaktionäres Bedürfnis.
Buntes
Pater Wilmer zum Bischof geweiht (Bistum Hildesheim)
Pater Heiner Wilmer wurde gestern zum 71. Bischof des Bistums Hildesheim geweiht. In seiner Ansprache, die er teilweise auf Plattdeutsch, Spanisch, Englisch, Französisch und Italienisch hielt, sagte er:
„Im Dienst an den Menschen, die im Bistum Hildesheim leben, verstehe ich mich selbst als einer unter mehreren Gehilfen zu ihrer Freude. […] Es wird schwierige Themen geben. Das schwerste und bitterste Thema ist für mich der Zusammenhang von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch in unserer Kirche. Diesem Thema werde ich mich von Anfang an mit aller Kraft widmen. Was die Menschen brauchen, ist Heilung und Hoffnung.“
Der Wahlspruch des neuen Bischofs zu #Hildesheim: "Wir sind nicht Herren eures Glaubens, sondern Gehilfen zu eurer Freude!" (2 Kor 1,24) 🙌🏻 #BischofHeiner
— Judith (@YouDidinVienna) September 1, 2018
Das Jugendwort des Jahres 2018 (Langenscheidt Verlag)
Wer mehr als fünf Wörter der Auswahl schon einmal gehört hat, der darf sich wohlbegründet „jung“ dünken. Ich bin also alt. Und da es um Jugendlichkeit geht: Die Liste eignet sich auch als Inspirationsquelle für Pfarrer ♂, die in der nächsten Predigt oder Konfistunde ihre unbedingte Zeitgenossenschaft unter Beweis stellen wollen. Oder man lässt es einfach mit der „Jugendsprache“ und lindnert ne Runde („Lieber old as fuck, als wack berufsjugendlich. Du Lauch!“)
They’re all nuts, FUCKING NUTS pic.twitter.com/GVMAIzSwid
— ALBΞRT MacGloan ➐ (@AlbertMacGloan) August 31, 2018
Die Bildungslücke – Dirk Pilz (Die Zeit)
400 Jahre ist der Beginn des Dreißigjährigen Krieges nun her. Aus diesem Anlass sind eine Reihe Bücher und viele, viele Artikel erschienen, die das gewohnte Bild vom großen Religionskrieg auf dem europäischen Kontinent in Frage stellen. Da gibt es viel zu lernen, auch, dass es eben ganz und gar nicht nur um die Religion ging. Ganz außer Acht lassen darf man die Religionshaltigkeit des Gemetzels hingegen auch nicht, hält Dirk Pilz (@pilz_dirk) dagegen:
Aber der laute, geradezu aufstampfende Ruf wider den Dreißigjährigen Krieg als Religionskrieg verrät dabei viel über das (westliche) Religions- und damit das Geschichts- wie Gegenwartsverständnis der beteiligten Rufer – ein Verständnis, in dem Religion entweder zur Privatsache verkleinert und als Konflikttreiber beschuldigt wird.
Für die Einführung einer europaweiten Weihnachtszeit! – Heiko Kuschel (Stilvoll glauben, evangelisch.de)
Heiko Kuschel (@citykirche_sw) empfiehlt statt Winter- oder Sommerzeit die Weihnachtszeit. Das kommt Ihnen zur Unzeit?! Dann geht es Ihnen wie mir beim Thema Zeitumstellung. Ich weiß wirklich nicht, was die Leute daran so anfixt. Übrigens: Die EU-Kommission kann entscheiden was sie will, am Ende müssen Rat (das sind die Regierungen der Mitgliedsländer) und EU-Parlament (Wahl am 26. Mai 2019) zustimmen. Hier mal eine Wahlempfehlung: Wählen Sie eine Kandidatin, die sich um die wirklich wichtigen Fragen kümmert.
Es gibt Hoffnung für die Menschheit (QI, Twitter, englisch)
Anscheinend sind wir sogar gegenüber Maschinen empathiefähig: 70 % der Probanden ließen sich beim Abschalten eines Roboters mehr Zeit, wenn dieser bekannte, im Dunkeln Angst zu haben, oder sie darum bat, ihn nicht abzuschalten. 30 % konnten sich überhaupt nicht dazu überwinden abzuschalten.
Predigt
Stevie Wonder auf der Trauerfeier für Aretha Franklin (PBS, Youtube, 15 min)
Auf der knapp 9 (!) stündigen Trauerfeier für Aretha Franklin am Freitag sprachen viele Personen: Der ehemalige US-Präsident Bill Clinton, mehrere Geistliche (mit zum Teil verstörenden Nachrufen und creepy Gesten), Rev. Al Sharpton, der einen Brief Barack Obamas verlas und zum Widerstand gegen Trump aufrief, und ganz zum Schluss Stevie Wonder, der aussprach, was zu sagen war, und sang und Mundharmonika spielte:
Ein guter Satz
„Es ist heute weitaus mutiger, zu den Gelassenen zu gehören als zu den Empörten“
– Wolf Lotter, aus seinem Plädoyer für mehr „Kühlen Mut“