Schrödingers Theologie
Mit „Digital Mensch bleiben“ hat Volker Jung, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, einen nur teilweise gelungenen Durchgang durch die Digitalisierung vorgelegt.
Fast jede theologische Beschäftigung mit Technik, mit neuen Entwicklungen, ja mit dem Fortschritt überhaupt, lässt sich unter Zuhilfenahme eines Schiebereglers einordnen. Auf der einen Seite kommt unser Regler auf der „Sünde“ zu stehen. Das andere Ende wird von „Gnade und Erlösung“ markiert. Je nach Ausführungen der christlichen Autorin oder des Autors können wir nun justieren, wie es um den technischen Fortschritt bestellt sein soll.
Steht der Untergang des Abendlandes, der Menschheit oder gar der ganzen Welt bevor oder wird das Reich Gottes bald in dieser Welt verwirklicht werden? Bei allen inhaltlichen Unterschieden eint diese Positionen, dass sie eine Antwort auf die Frage „Was ist der Mensch?“ bereits gefunden haben.
All jene Bastelwütigen und Heimwerker, die vor der Lektüre von Volker Jungs Büchlein „Digital Mensch bleiben“ nun die vorgestellte Blaupause in die Tat umsetzen wollen, seien gewarnt. Es wäre vermutlich vergebliche Liebesmühe. Schon nach wenigen Seiten hielte die Konstruktion des Reglers dem beständigen Hin und Her kaum mehr stand. Der Regler findet einfach keine Ruhe.
Der „Medienbischof“ der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) weiß selbst noch nicht so genau, wo der Regler stehen sollte. Die Leserinnen und Leser erhalten einen eindrücklichen Einblick in die Gedanken Volker Jungs. Diese präsentieren sich nicht als versteckter Rechenschaftsberichts eines „Medienbischofs“, sondern als ernsthafte, auch in seiner persönlichen Biografie begründete Suche nach einem Umgang mit einer sich selbst beschleunigenden und immer im Wandel befindlichen Welt, die zunehmend von Technik durchdrungen wird.
Fix-, aber keine Haltepunkte
Allem Hin und Her zum Trotz, ein paar Fixpunkte stellt Jung dann aber doch heraus:
„Ich plädiere dafür, sich pragmatisch mit der Digitalisierung auseinander zu setzen. Pragmatisch heißt für mich, nicht nur nach dem zu fragen, was Menschen praktisch nutzt. Es heißt für mich auch und vor allem danach zu fragen, was Menschen guttut und dem Leben dient. Dazu gehört, sich bei all den digitalen Möglichkeiten klar- und bewusst zu machen, was und wer der Mensch ist.“ (S. 43f)
Wer sollte einem solchen Plädoyer widersprechen? Vor allem nach den gelungenen Einwänden, die Jung gegen Yuval Noah Hararis „Homo Deus“ anführt. Hararis Unterstellung einer naiven Bibelhermeneutik (in der Bibel steht nichts zur Gentechnik – Next!) führt ins Leere. Denn gerade die christliche Überlieferung verhandelt eben jenes Problem des inzwischen nicht mehr geheimen Wunsches nach der Gottwerdung des Menschen. Sie erinnert uns daran, dass die Welt nicht von uns erlöst werden muss, sondern schon immer als erlöst erkannt werden kann.
Das befreit zu einem verantwortlichen Umgang mit unserer Umwelt. Jung schließt daraus: „Der Mensch sieht aber, dass die besondere Würde und der Wert dieses Lebens gerade auch in seinen Grenzen und Begrenzungen liegen kann.“ (S. 41) Es ist nicht die Aufgabe des Menschen, die Welt oder sogar sich selbst zu erlösen. All solche Versuche sind zum Scheitern verurteilt.
Ich wünschte mir, der Autor hätte an diesen Fixpunkten einen Halt gemacht: Sie genauer betrachtet, gewendet und sich schließlich von der Innovationskraft des Silicon Valley, die ihn bei einem Besuch beeindruckte, stärker inspirieren lassen.
Stattdessen folgen aneinandergereihte Er- und Aufzählungen zu zweifelsohne wichtigen Anwendungsbereichen: Kommunikation (kann gut sein, muss es aber nicht), vernetztes Leben (kann gut sein, muss es aber nicht), Arbeitswelt (kann ganz gut sein, muss es aber nicht), Medizin (kann ganz hervorragend sein! Oder aber auch nicht), künstliche Intelligenz (man kann es sich denken).
Das starke Plädoyer als Maßstab einer theologischen Ethik des Digitalen verblasst im Laufe der Ausführungen auf eigentümliche Weise. Das Buch verläuft sich in der kurzen Darstellung technologischer Entwicklungen, die jeder und jedem nur Halbinteressierten längst bekannt sind. Es entwickelt sich kein systematischer Mehrwert oder, was viel wichtiger wäre, eine inhaltlich genauere Bestimmung seines Prinzips der Lebensdienlichkeit.
„Schrödinger-Theologie“
Volker Jung überspannt damit die potenziell konstruktive Uneindeutigkeit des Lebensbegriffs, der die Mitte seines Maßstabs darstellt. Doch gerade hier wäre Innovation angebracht! Durch die allgemeine Formel „was Menschen guttut und dem Leben dient“ wird eine spontane Zustimmung erzeugt. Im Gang durch die Praxisfelder der Digitalisierung und die von Jung prägnant herausgearbeiteten Ambivalenzen, kann sich eine jede und ein jeder widerfinden.
Jemand der den modernen Entwicklungen tendenziell positiv gegenüber eingestellt ist, wird sich darüber freuen, dass auch ein Kirchenpräsident seine Auffassung teilt. Eine Person, die gegenüber der Entwicklung eher negativ gestimmt ist, kann zum gleichen Schluss gelangen. Es stimmt immer beides. Alles scheint gleich wahr und falsch.
Mit dieser „Schrödinger-Theologie“ erreicht ein Bischof sicherlich viele Menschen und das soll er ja auch. Diese Unaufgeregtheit macht die Lektüre angenehm, aber irgendwie auch blutleer, sofern man von den autobiografischen und persönlichen Erzählungen absieht.
Die Prägnanz mit der Jung die Ambivalenzen konkreter Herausforderungen der Digitalisierung beschreibt, täuscht bei einem flüchtigen Blick darüber hinweg, dass die zentralen Begriffe des Buches bis zum Schluss im Unklaren bleiben.
Was heißt „Leben“?
Dieser Umstand mutet seltsam an. Denn legt man das Prinzip der Lebensdienlichkeit zugrunde, zeigt der Durchgang durch die Themenfelder, dass Bewertungen bezüglich digitaler Herausforderungen vollkommen davon abhängen, wie die Begriffe Mensch und Digitalisierung gefüllt sind.
Die zentrale Frage „Was ist der Mensch?“ wird bei Volker Jung kaum hinreichend beantwortet und auch „Digitalisierung“ wird nicht näher bestimmt. Offensichtlich entfaltet der Begriff des Lebens eine derart große Spannweite, dass „Mensch“ und „Digitalisierung“ selbstredend darunterfallen.
Diese Selbstverständlichkeit irritiert mich etwas. Vielleicht liegt das einfach daran, dass der Lebensbegriff nur einen kleinen Teil der Digitalisierung erfassen kann. Vielleicht ist er sogar nach seiner Konjunktur seit den späten 1960er-Jahren überholt. Durch seine ständige Aus-, Um- und Neudeutung ist er seines „moralischen Zaubers“ verlustig geworden. Seine Uneindeutigkeit konnte vor einigen Jahren noch als konstruktive Kraft eine neue Bereichsethik, die sich heute „Bioethik“ nennt, aus der Taufe heben und insbesondere der theologischen Ethik bis heute einen Platz in Talk-Shows garantieren.
„Leben“ changierte stets zwischen der unmittelbaren Evidenz von Sinneswahrnehmungen und der Ausdeutung von menschlichen Beziehungen. Leben hat also immer einen empirischen und einen nicht-empirischen Anteil. Der Lebensbegriff ist somit immer auch auf die Natur gerichtet, ohne eine allein aus der Natur abgeleitete moralische Evidenz zu erzeugen. Er garantierte der Theologie ein Mitspracherecht gegenüber der Naturwissenschaft.
„Digital Mensch bleiben“
Volker Jung, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und „Medienbischof“ der EKD, hat im Herbst 2018 ein Buch mit persönlichen Reflexionen zur Digitalisierung und ihren Herausforderungen für Theologie und Kirche vorgelegt. „Digital Mensch bleiben“ ist im Claudius-Verlag erschienen.
Ich bin mir nicht sicher, ob sich der Lebensbegriff ohne Weiteres für eine Ethik im digitalen Zeitalter fruchtbar machen lässt. Seinen Bezugspunkt bildete schließlich die Natur, also die gegebene Welt und nicht eine vom Menschen selbst geschaffene Sphäre, die sich teilweise ohne sein weiteres Zutun jenseits alles Natürlichen fortschreibt.
Aber vielleicht hat die Theologie zum Beispiel zur Maschinen-Maschinen-Kommunikation auch einfach nichts zu sagen – oder erst dann, wenn die Lebensdienlichkeit für die Menschen gefährdet wird. Allerdings scheint mir die Reichweite der Lebensdienlichkeit dann zu kurz. Die theologische Ethik wäre dann nur eine Putzkolonne, die dem Fortschritt hinterher fegt.