Querida Amazonia, die Frauen und die Inkarnation
In seinem nachsynodalen Schreiben „Querida Amazonia“ verwickelt sich Papst Franziskus‘ in Widersprüche: Eine inkarnatorische Kirche kann es nur geben, wenn alle Geschlechter gleichberechtigt sind.
„Ich träume von christlichen Gemeinschaften, die in Amazonien sich dermaßen einzusetzen und Fleisch und Blut anzunehmen vermögen, dass sie der Kirche neue Gesichter mit amazonischen Zügen schenken.“
Papst Franziskus beginnt „Querida Amazonia“, sein nachsynodales Schreiben zur Amazonien-Synode im vergangenen Herbst, mit vier Träumen, die er für das Amazonas-Gebiet hegt. Der vierte Traum (s.o.) ist der Kirche in Amazonien gewidmet. Nachdem Franziskus von Gerechtigkeit (1), kulturellem Reichtum (2) und der Bewahrung der Schöpfung (3) träumte, nun also eine Vision für die „christlichen Gemeinschaften“.
„Fleisch und Blut“ nehmen diese in Franziskus‘ Traum an, und dienen so als Beispiel der ganzen Kirche. „Fleisch und Blut“ annehmen sollen sie, wie der Logos einst Fleisch ward und unter uns wohnte. Die Kirche ist hier gut katholisch die Fortsetzung der Inkarnation in Jesus Christus.
Querida Amazonia und die Frauen
Als Diskussionspapier hat „Querida Amazonia“ bisher herausragend funktioniert. Die Rolle der Frau in der Kirche, die Frage der Priesterweihe für „erprobte Männer“, das Thema Inkulturation und sogar das Herzensanliegen Franziskus‘ – die ökologisch-soziale Katastrophe Amazoniens und die notwendige weltweite Solidarität – werden breit diskutiert. Als verbindliches Lehrdokument liest man „Querida Amazonia“ allerdings ernüchtert. Mit heftigem Kopfschütteln.
Eigentlich läuft Franziskus‘ Argumentation im Kapitel „Die Kraft und die Gabe der Frauen“ (99-103) geradewegs auf das Diakonat der Frau zu. Im Frauendiakonat wäre erfüllt, was er unter 103 verspricht. Nämlich, dass das Amt der Frauen „Dauerhaftigkeit, öffentliche Anerkennung und eine Beauftragung durch den Bischof voraussetzt“. Dies bedeutete auch, „dass Frauen einen echten und effektiven Einfluss in der Organisation, bei den wichtigsten Entscheidungen und bei der Leitung von Gemeinschaften haben“.
Franziskus‘ Argumentation wird von zwei Einschaltungen unterbrochen, die diese nach der Amazonas-Synode naheliegenden und dringend erwarteten Zugeständnisse in ihr Gegenteil verkehren und katholische Frauen weltweit entmutigen müssen: Denn es geht Franziskus‘ explizit um Dienste der Kirche, „die nicht die heiligen Weihen erfordern“. Und die Mitwirkung an der Leitung der Gemeinschaften soll natürlich so erfolgen, dass Frauen dabei „ihren eigenen weiblichen Stil“ nicht aufgeben.
Der Machismo des Papstes überdeckt: Die Ablehnung des Weiheamts für Frauen steht zunächst auf den tönernen Füßen biologistischer Argumente. Schwerer noch wiegt, dass Franziskus und seine Ko-Autoren diese durch eine verfehlte Interpretation der Inkarnation theologisch abzusichern suchen. Ein Versuch, der „Querida Amazonia“ von vorne bis hinten zerreißt.
Die zwei menschlichen Gesichter
Unter 101 stellt Franziskus eine theologische Begründung der Ausgrenzung von Frauen vor. Sie orientiert sich traditionell am Bild der Kirche als eucharistischer Gemeinde, der Jesus „als Bräutigam“ und darum „in der Gestalt eines Mannes“ als „Zeichen des einen Priesters“ vorsteht. Gott habe es vorgezogen, „seine Macht und seine Liebe in zwei menschlichen Gesichtern“ kundzutun. Das soll wohl heißen, er habe seine Macht auf zwei Weisen in der Kreatur des Menschen offenbart. Einmal in der göttlichen, menschgewordenen Gestalt des Sohnes (Inkarnation). Und auf der anderen Seite im weiblichen Geschöpf Maria (Geschöpflichkeit).
Die „Kraft und Zärtlichkeit der Mutter Maria“ rührt Franziskus. Theologisch gemeint ist damit nichts anderes als der Verweis auf die Gebürtlichkeit allen Menschenlebens. Pessimistisch betrachtet, handelt es sich um eine Rückführung des weiblichen Charismas auf die Mutterschaft. Das „Gebären können“ erscheint als „spezifische Macht“ der Frauen. Das ist seelsorglich unsensibel, aber bleiben wir einmal dabei.
Auch der fleischgewordene Logos, Jesus Christus, wurde von einer Frau geboren. Inkarnation und Gebürtlichkeit kann man nicht auseinanderreißen, will man überhaupt eines davon verstehen. Der Eingang Gottes in die Welt geschieht auf dem Weg der Geburt, wie es die weltweite Christenheit in ihren alten Bekenntnissen glaubt. Und in jeder Geburt, in jedem Kind Gottes, spricht sich das Weltvertrauen Gottes zu seinen Geschöpfen aus (Gen 1, 28).
Inkarnation in der Bibel
Als Protestant komme ich nicht umhin, in die Bibel zu schauen, um zu klären, was „inkarnatorische Kirche“ heißen kann. Der Johannes-Prolog (Joh 1, 1-18) beschreibt die Ankunft des göttlichen Logos in der Welt in poetischer Sprache. Dreh- und Angelpunkt ist Vers 14 mit dem Satz „das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“.
Bereits in den Versen 12 & 13 wird umschrieben, wie „das wahre Licht“ von Menschen aufgenommen werden kann: Allen, die an seinen Namen glauben, gibt er Macht, „Kinder Gottes“ zu werden. Die Kinder Gottes werden „nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren“.
Das ist eine scharfe Absage an alle biologistischen Deutungen des Menschseins und zugleich Grundlegung einer inkarnatorischen Kirche. Die kann nur sein, wenn die Kinder Gottes nicht durch ihr Fleisch – ihr Geschlecht, ihre Gesundheit, ihre sexuelle Identität, etc. – determiniert sind, sondern frei und gleich durch die Geburt in Gott. Joh 1, 14 lässt sich nicht trennen von Joh 1, 16: „Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade über Gnade.“ (χάριν ἀντὶ χάριτος) Die Kinder Gottes sind nicht allein vor dem Schöpfer gleich, ihnen werden alle die gleichen Gnadengaben zuteil. In der paulinischen Theologie der Korintherbriefe teilt der Geist die Geistesgaben (Charismen) eine*r jeden so zu, „wie er will“.
Diese biblische Erfahrung spiegelt sich in der Amazoniens, wie sie auf der Synode geschildert wurde und selbst noch in „Querida Amazonia“ aufbewahrt ist. Die Kirche falle ohne die Frauen zusammen, so Franziskus, „so wie viele Gemeinschaften in Amazonien auseinandergefallen wären, wenn es dort keine Frauen gegeben hätte, die sie aufrechterhalten, bewahrt und sich ihrer angenommen hätten“. Das Wirken der Frauen in den amazonischen Gemeinschaften ist nichts anderes als ein Erweis des Geistwirkens.
In Jesus Christus, als wahrem Gott und wahrem Menschen zugleich, ist Gott in das ganze Menschengeschlecht eingegangen und hat nicht nach der Geschlechtlichkeit der Menschen unterschieden. Man würde die Inkarnation rückgängig machen und entwerten, wenn man nicht auch sagte, dass Gott Frau geworden sei – weil er ganz Mensch geworden ist.
Im Philipperhymnus (Phil 2, 5-11) verarbeitet Paulus einen liturgischen Text. Mit diesen Versen rücken wir recht nah an das, was die ersten Christen geglaubt haben, weil sie bereits während oder sogar vor dem Wirken des Paulus‘ im gottesdienstlichen Gebrauch waren. Der Christus war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, „sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen“ (Phil 2, 7). Hier ist nicht die Rede von Mann oder Frau, sondern von der Erscheinung als Mensch (ἄνθρωπος).
Heute davon zu sprechen, dass Gott in Jesus Christus Mann und eben nicht Frau geworden sei, erscheint demgegenüber ziemlich kleingläubig. Der Philipperhymnus steht also in großer Spannung zu den „zwei menschlichen Gesichtern“, die Franziskus‘ in „Querida Amazonia“ erkennen will.
Inkarnation Gottes heißt, er ist geboren worden. Die Gebürtlichkeit ist das Mittel der Inkarnation. Beides lässt sich nicht voneinander trennen oder gegeneinander ausspielen, als ob Gott in Christus auf andere Art inkarniert wäre als auf fleischliche, d.h. menschliche Weise. Daran hängt, ob er ganz Mensch gewesen ist.
Inkarnatorisch glauben und leben in der Kirche Jesu Christi
Wie kann man in der Kirche Jesu Christi heute in diesem Sinne inkarnatorisch glauben und leben? Zwei kurze Ausflüge in das Denken des 20. Jahrhunderts:
Nach dem katholischen Philosophen Robert Spaemann ist das Personsein die Weise, in der Individuen der Art „Mensch“ sind: Ohne vorherige Erfüllung „bestimmter qualitativer Bedingungen“, sondern „als geborenes, nicht als kooptiertes Mitglied der Menschheit“. „Personenrechte werden nicht verliehen und nicht zuerkannt, sondern von jedem mit gleichem Recht in Anspruch genommen.“ („Personen“, S. 263)
Den Gedanken der Gebürtlichkeit (Natalität) hat vor allem Hannah Arendt in das Denken des 20. Jahrhunderts eingeführt. Arendt bedient sich bei Augustinus, der vom Menschen als neuem Anfang in der Schöpfung spricht. „Mit der Erschaffung des Menschen erschien das Prinzip des Anfangs, das bei der Schöpfung der Welt noch gleichsam in der Hand Gottes und damit außerhalb der Welt verblieb, in der Welt selbst und wird ihr immanent bleiben, solange es Menschen gibt.“ („Vita activa“, S. 216)
In jeder Geburt vollziehen wir das Prinzip des Anfangs nach, das in der Schöpfung des Menschen angelegt ist. Die Geburt ist für Arendt der „Anfang des Anfangens“. Mit jedem neuen Anfang, in dem sich Menschen handelnd in die Welt einbringen, wiederholen sie den ersten Anfang der Geburt. Die Menschen haben die Möglichkeit, immer wieder neu anzufangen. In jedem neuen Anfang des Glaubens aktualisiert sich die Inkarnation. Weil Gott in Jesus Christus den Anfang gemacht hat, können alle Menschen ungeachtet der vorherigen Erfüllung „bestimmter qualitativer Bedingungen“, „nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes,“ sondern aus Gott heraus als freie und gleichberechtigte Kinder Gottes geboren werden.
Gleiche Rechte in Anspruch nehmen
Wenn alle Menschen mit Hannah Arendt begabt zum Anfangen sind und mit Spaemann ihre Personenrechte „mit gleichem Recht in Anspruch“ nehmen, verbietet sich der Abstieg in die historisierende Amtstheologie, die auch „Querida Amazonia“ kennzeichnet. Vielmehr ergeben sich daraus drei Handlungsoptionen für Frauen und Männer inkarnatorisch zu glauben und zu leben:
1. Complaint
Die feministische Wissenschaftlerin Sara Ahmed arbeitet seit 2017 an einer Studie unter dem Schlagwort „Complaint“, das man durch eine Übersetzung ins Deutsche höchst unterschiedlich interpretieren kann. Ich versuche es hier mit dem an religiöse Praktiken erinnernden „Klage“ und dem bürokratischeren „Beanstandung“.
Ahmed sammelt in ihrer Studie schriftliche und mündliche Zeugenaussagen von Betroffenen von Missbrauch, Belästigung und Mobbing an Universitäten. Darunter auch solche von Betroffenen, die sich gegen eine Anzeige (oder „Beanstandung“) entschieden haben. Mit der Studie führt sie ihre Arbeit am Begriff des „feministischen Hörens“ weiter.
Das „feministische Ohr“ hört die Geräusche, die von der Gemeinschaft ausgeblendet werden: „Die Geräusche des Neins, die Klagen über Gewalt, die Verweigung über sexistische Witze zu lachen, die Weigerung sich unvernünftigen Ansprüchen auszusetzen.“ Sich ein „feministisches Ohr“ zuzulegen bedeutet, diese Geräusche als Stimmen zu hören.
„Complaint“ bedeutet also zunächst nicht, den lauten Widerspruch zu wagen. Wenngleich dafür in den jüdischen und christlichen religiösen Traditionen Erfahrungen von Klage und Widerspruch als Ressourcen aufbewahrt sind. „Complaint“ bedeutet zunächst, sich zu schulen, die leise, unterdrückte oder gar schweigende Klage anderer wahrzunehmen. Es ist damit nichts anderes gemeint als eine Praxis des Zuhörens, mit der Frauen und Männer zugleich anfangen können, und die alle Geschlechter frei machen kann.
„Querida Amazonia“ kennt ein solches Zuhören in globaler Perspektive, wenn Franziskus davon spricht, sich von den Eigenarten und Charismen Amazoniens anstecken zu lassen. Immerhin soll Amazonien „der Kirche neue Gesichter mit amazonischen Zügen schenken“. Das kann global wie kommunal nur gelingen, wenn dem „Complaint“ der Frauen zugehört wird.
2. Eucharistie als Vergegenwärtigung der Inkarnation
Kern der Eucharistie ist nicht der Priester, sondern die Gemeinschaft der Kinder Gottes. Das Eucharistische Mahl ist die Vergegenwärtigung der Inkarnation, mit der sich Gott in die Gemeinschaft der Menschen hineingibt. Sie sollte und kann darum von allen Kindern Gottes gleichberechtigt und frei gefeiert werden.
Die Aufforderung „nehmt, esset, das ist mein Leib“, richtet sich inkarnatorisch gelesen nicht allein an die Jünger, die laut den Evangelien beim letzten Mahl Jesu zugegen waren, sondern an alle Menschenleiber: „Und er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den und sprach: Trinket alle daraus; das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.“ (Matthäus 26, 26-28)
Tischgemeinschaften mit eucharistischem Charakter, bei denen zu Beginn die Verse der Abendmahlseinsetzungen aus den Evangelien gelesen werden, und danach Brot und Wein, Speis und Trank von allen Menschen am Tisch geteilt werden, entsprechen dem Bild der Tischgemeinschaft Gottes mit den Menschen – vielmehr jedenfalls als das Zelebrieren eines einzelnen Mannes vor der Gemeinschaft der Hungrigen.
In „Querida Amazonia“ fordert Franziskus, dass „wir nicht bei einem funktionalen Ansatz stehen bleiben“, sondern „in die innere Struktur der Kirche“ eintreten sollen. Der inneren Struktur der Kirche Jesu Christi entspricht die freie Gemeinschaft der Kinder Gottes jedenfalls mehr, als das Gegenüber von männlichem Bräutigam (Priester) und weiblicher Braut (Gemeinde).
3. Christliche Gemeinschaften in Fleisch und Blut
Wenn Franziskus sich in seinem vierten Traum für Amazonien „Gemeinschaften aus Fleisch und Blut“ erträumt, dann wandert er im Traum in das Land ein, dessen Grenzen er wachen Auges verrammelt und verriegelt. Eine inkarnatorische Kirche aus dem Fleisch und Blute Christi kann nur eine Kirche der gleichberechtigten Geschlechter sein.
Daraus folgt ein großer Anspruch an die Kirchen weltweit: Das starre Gegenüber der Geschlechter (Bipolarität) muss überwunden werden. Alle Menschen – welchen Geschlechts, welcher sexuellen Identität auch immer – gebührt ein Platz am Tisch des HERRn. Alle Menschen sind, wie der Geist will, zu allen Aufgaben und Ämtern in der Gemeinde der Kinder Gottes berufen. Eine christliche Gemeinschaft aus Fleisch und Blut kennt darum auch keine sonderbaren Ämter für Frauen und Männer, sondern allein Dienste, die allen Geschwistern Jesu offenstehen.
Solche Gemeinschaften können überall nach dem Vorbild der lateinamerikanischen Christ*innen gebaut werden. Gott selbst wird ihnen Dauer und Ansehen geben, dazu braucht es keinen Bischof. Ihren Zweck, die Liebe und Macht des einen Gottes in der Gemeinschaft seiner Kinder zu zeigen, können sie auch ohne amtskirchliche Anerkennung erfüllen. Das wäre ein Ausgang der Kirche aus ihren überkommenen Formen. Nichts mehr, aber auch nicht wenig.