„Auch die Gläubigen können sich ihre Kirche ohne Papst nicht vorstellen“
Vor genau 150 Jahren stimmte das 1. Vatikanische Konzil der Unfehlbarkeit und dem Jurisdiktionsprimat des Papstes zu. Seitdem wird darüber bis zur Kirchenspaltung gestritten. Ein Gespräch zum Jubiläum:
Am 18. Juli 1870 stimmten 553 Teilnehmer des Ersten Vatikanischen Konzils der Dogmatischen Konstitution „Pastor aeternus“ zu. Darin wurden der Jurisdiktionsprimat sowie die Unfehlbarkeit des Papstes bei Entscheidungen in Fragen von Glaubens- und Sittenlehre als Dogmen, also ihrerseits als unfehlbare und für alle Mitglieder der römisch-katholischen Kirche verpflichtende Glaubensinhalte formuliert. Alternative theologische Vorstellungen, der Papst habe etwa aus historischen Gründen einen „Ehrenprimat“ oder für die Gültigkeit unfehlbarer Glaubenslehren sei eine „Zustimmung der Kirche“ erforderlich, wurden ausdrücklich als „Irrlehren“ zurückgewiesen.
Katholiken, die diesen Dogmen die Zustimmung verweigerten, wurden mit der schärfsten Kirchenstrafe, der Exkommunikation, belegt. Einige gründeten in den Folgejahren, insbesondere im deutschsprachigen Raum, „alt-katholische“ Gemeinden, die heute in der „Utrechter Union“ alt-katholischer Bistümer zusammengeschlossen sind. Bis auf eine Ausnahme lehnten 1870 auch die Professoren der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn die Dogmen des Ersten Vatikanischen Konzils ab. Bonn wurde dadurch einer der wichtigsten Standorte der alt-katholischen Kirche. Bis heute sind hier das Alt-Katholische Seminar der Universität Bonn und das Bischöfliche Ordinariat angesiedelt.
Anlässlich des 150. Jahrestages der Papst-Dogmen haben wir mit Prof. Dr. Norbert Lüdecke gesprochen. Lüdecke ist seit 1998 Professor für Kirchenrecht in Bonn.
Eule: Herr Prof. Lüdecke, vor 150 Jahren hat Ihre Fakultät die Papst-Dogmen von 1870 fast geschlossen abgelehnt. Wird daran in diesem Jahr erinnert oder spielen die damaligen Auseinandersetzungen für das römisch-katholische Theologie-Studium in Bonn nach Ihrem Eindruck keine Rolle mehr?
Lüdecke: Als Katholisch-Theologische Fakultät haben wir für ein historisches Schisma natürlich keinen Festakt vorgesehen. Aber die Ablehnung des Ersten Vatikanums durch praktisch die gesamte Fakultät mit den benannten Konsequenzen bleibt ein markanter Punkt unserer Fakultätsgeschichte und eine weiter wirksame Herausforderung.
Ihr hat sich unsere Fakultät zu einem etwas vorgezogenen Termin anlässlich des 200-jährigen Bestehens der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn gestellt. Im Rahmen einer zusammen mit der Evangelisch-Theologischen Fakultät, dem Altkatholischen Seminar und dem Zentrum für Religion und Gesellschaft (ZERG) veranstalteten Festwoche Ende Januar 2018 haben wir eine eigene moderierte Debatte mit Studierenden zum „Streit um die Unfehlbarkeit“ angeboten.
Aufgrund der guten Aufnahme war eine Fortsetzung in diesen Tagen geplant, die allerdings aus Corona-Gründen zunächst abgesagt werden musste. Und im regulären Studium führt an den Papstdogmen etwa im Lehrrecht, in der Dogmatik oder in der neueren Kirchengeschichte natürlich kein Weg vorbei.
Norbert Lüdecke
Prof. Dr. Norbert Lüdecke, geboren 1959 in Düsseldorf, ist seit 1998 Professor für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Zusammen mit seinem Freiburger Kollegen Georg Bier hat er 2012 „Das römisch-katholische Kirchenrecht. Eine Einführung“ veröffentlicht. (Foto: Volker Lannert)
Zum 100. Jahrestag des Ersten Vatikanischen Konzils vor 50 Jahren wurde, angestoßen durch Hans Küngs Buch „Unfehlbar? Eine Anfrage“, noch eine heftige Debatte in Theologie und Kirche geführt, die für den Schweizer Theologen mit mehreren Verfahren der Glaubenskongregation und dem Entzug der kirchlichen Lehrerlaubnis endete. Eine vergleichbare Diskussion scheint 2020 nicht in Sicht. Wie erklären Sie sich das?
Lüdecke: Na ja, aus Jubiläumsgründen hat das Thema zur Zeit wieder eine gewisse Konjunktur, allerdings in der Tat nicht in der früheren Heftigkeit. Der damals neue und inzwischen heilige Papst Johannes Paul II. hat von Beginn seines Pontifikats an keine Zweifel daran gelassen, wer der Herr im katholischen Haus zu sein hat.
Er wollte das Trauma des breiten katholischen Ungehorsams nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und besonders nach der Enzyklika „Humanae Vitae“ durch eine Re-Etablierung und neue Stabilisierung hierarchischer, insbesondere lehramtlicher Autorität bewältigen. Mit Johannes Paul II. begann eine neue Reihe von Lehrbeanstandungen, von denen der „Fall Küng“ ein besonders markanter ist. Das Exempel, das an ihm unter Mitwirkung deutscher Bischöfe und Theologen statuiert wurde, hat seine beabsichtigte Präventivwirkung sicher nicht verfehlt.
Hinzu kam, dass dieser Papst die disziplinäre Infrastruktur mit dem neuen Kirchenrecht, dem Codex Iuris Canonici (CIC) von 1983, schnell wiederhergestellt hat. Über die Glaubenslehren hinaus ist bis heute selbst bei nicht-unfehlbaren Lehren rechtlich Gehorsam und Verzicht auf jeden öffentlichen Widerspruch gefordert, und zwar unter Strafandrohung. Und das war nicht nur symbolisch gemeint, sondern wurde auch angewendet.
Eule: Seitdem ist „Ruhe im Karton“?
Lüdecke: Das Problemthema „Unfehlbarkeit“ war nie ganz weg, es wurde nur vorsichtiger behandelt. Und es kehrte in einem neuen Gewand wieder, auf das ebenfalls Küng schon hellsichtig hingewiesen hatte, ohne dass man ihn hier so konsequent wie in Bezug auf die Papstdogmen gehört hätte. Die Unfehlbarkeit wird heute weniger in Bezug auf den Papst problematisiert als auf einen anderen Träger dieses „Charismas“, der gleichfalls von Papst Johannes Paul II. erstmals aktiviert wurde.
Das Zweite Vatikanum verkündet in Lumen Gentium 25, dass auch das Bischofskollegium mit und unter dem Papst nicht nur auf einem Konzil, also in außerordentlicher Form, unfehlbar lehren kann, sondern auch in seinem ordentlichen und universalen Lehramt, wenn die Bischöfe untereinander und mit dem Papst darin überstimmen, eine Glaubens- oder Sittenlehre sei definitiv, das heißt unfehlbar, und daher mit unwiderruflichem Gehorsam anzunehmen.
Was außer Küng in der nachkonziliaren systematischen Theologie niemand als realistische Möglichkeit erkannt hat, ist dann von Papst Johannes Paul II. praktiziert worden, etwa als er 1994 die Unmöglichkeit der Priesterweihe für Frauen als solch eine definitive Lehre des Bischofskollegiums für alle erkennbar markiert hat. Mit der nach wie vor anzutreffenden Bestreitung der Geltung dieser Lehre ist die Unfehlbarkeitsdebatte sozusagen erneut auf Dauer gestellt.
Eule: Steht das Dogma vom Jurisdiktionsprimat des Papstes nicht eigentlich im Schatten der Unfehlbarkeit?
Lüdecke: Das ist in der Tat eigenartig. Vielleicht liegt es an dem Wort „Unfehlbarkeit“, das die Absolutheit des hier erhobenen Wahrheitsanspruchs viel unmittelbarer transportiert. Dem fachlicher und damit fremder klingenden „Jurisdiktionsprimat“ merkt man den noch weitergehenden Absolutheitsanspruch gar nicht an, obwohl er viel nachhaltiger den katholischen Alltag prägt – und von dem die Unfehlbarkeit sogar als Unterfall gelten kann.
Eule: Was genau „regeln“ denn die beiden Dogmen?
Lüdecke: Der Jurisdiktionsprimat bedeutet nach der rechtlichen Umsetzung der beiden vatikanischen Konzilien im geltenden CIC die nicht mehr änderbare absolute rechtliche Höchststellung des Papstes in Lehre und Leitung. Es geht nicht um einen „Ehrenprimat“, sondern um eine absolute, alle Gewalten vereinigende rechtmäßige Regierungsgewalt über die gesamte Kirche wie auch die einzelnen Diözesen und jeden einzelnen Gläubigen, also um eine universale Gewalt.
Der Papst kann ohne Umweg über Diözesanbischöfe immer und überall direkt ein- und durchgreifen, alle Rechtsfälle annehmen oder an sich ziehen. Alle Gläubigen müssen dem Papst gegenüber ehrfürchtig sein und ihm unter Strafe gehorchen, Kleriker in besonderer Rechtspflicht. Die Papstgewalt wird nicht von einer kirchlichen Autorität übertragen, sondern durch Gott im Moment der Wahlannahme. Sie ist jeder menschlichen Gewalt gegenüber unabhängig, autonom und souverän nach außen und innen und jederzeit frei ausübbar. Der Papst ist immun, er kann von niemandem gültig vor Gericht gezogen werden. Rechenschaft schuldet er nur Gott.
Eule: So etwas wie ein „Impeachment“-Verfahren wie bei einem US-Präsidenten ist also nicht denkbar?
Lüdecke: Nein. Der Papst verliert sein Amt nur durch Tod oder durch eindeutigen und freiwilligen Verzicht, wie wir ihn bei Benedikt XVI. erlebt haben. Das Papstamt ist gottunmittelbar. Zwar wurde und wird in der Theologie immer wieder vertreten, in Analogie zum Tod verliere ein Papst auch bei zweifelsfreiem und sicher unheilbarem Verlust des Vernunftgebrauchs oder durch Häresie de facto seine Gewalt.
Da aber jeder, der den Papst für irre oder häretisch erklären würde, zumindest in diesem Moment über ihm stünde und dies mit der dogmatisierten Höchstgewalt des Papstes kollidiert, sind solche Ansätze seit dem Ersten Vatikanum auf der Ebene reiner Theorie festgenagelt. Es gibt für solche Fälle systemgerecht keine gesetzlichen Vorkehrungen. Katholisch hilft hier nur beten und das gläubige Vertrauen, Gott werde einen verrückten, komplett handlungsunfähigen oder ungläubigen Papst nicht zulassen.
Eule: Und diese höchste Gewalt kommt auch beim Dogma der Unfehlbarkeit zum Tragen?
Lüdecke: Als Vollgewalt bezieht sich die Gewalt des Papstes auf die gesamte Glaubens- und Sittenlehre wie auf die gesamte kirchliche Rechtsordnung, also Lehre und Disziplin. Während er als „Herr des Gesetzes“ in der Disziplin seine Gewalt jederzeit frei und ohne Bindung an Recht und Gesetz ausüben kann, gilt das nicht ganz im Bereich der Lehre. Seine Unfehlbarkeit im Amt ist nämlich an bestimmte Bedingungen gebunden. Sie bezieht sich inhaltlich nur auf Glaube und Sitte, also auf theologisch-spekulative Aussagen und auf moralische Normen, und dies dem Umfang nach nur auf solche, die in Schrift oder Tradition geoffenbart wurden oder in einem notwendigen schützenden Umfeld der Offenbarung angesiedelt sind.
Der Form nach muss der Papst bei der Ausübung seiner Unfehlbarkeit im Amt deutlich erkennbar machen, dass er als Hirt und Lehrer aller Gläubigen spricht und tatsächlich eine unwiderrufliche Lehre verkünden will. An bestimmte Formvorschriften kann er dabei wegen seiner Höchstgewalt nicht gebunden werden. Dabei markiert die Unfehlbarkeit an einer Stelle des Papstamtes Macht und Ohnmacht zugleich: Der Papst kann alle Maßnahmen seiner Vorgänger widerrufen – außer deren unfehlbare Festlegungen. Umgekehrt muss ein Papst, wenn er nicht nur alle Gläubigen, sondern auch seine Nachfolger effektiv binden will, unfehlbare Lehren produzieren.
Eule: Wenn für die unfehlbare Gültigkeit der Dogmen des Ersten Vatikanischen Konzils eigentlich nur die Feststellung und Verkündung durch den Papst, nicht aber die Zustimmung des Konzils erforderlich war, wozu dann überhaupt eine Abstimmung?
Lüdecke: Warum sollte ein Papst in dieser brisanten Frage einen dann als solchen vorwerfbaren Alleingang riskieren? Mit dem ersten Mariendogma von 1854 über die Erbsündenfreiheit Mariens hatte es eine Art Probelauf gegeben. Ein bedeutsamer Widerspruch im Episkopat war nicht zu verzeichnen. Der Clou am Ersten Vatikanum ist gerade, dass ein Konzil sich unwiderruflich dem Papst unterwirft und alle vorher bestehenden Theorien über eine auch nur zeitweilige, notfallmäßige konziliare Oberhoheit über den Papst ohne Auferstehungshoffnung beerdigt.
Eule: Sie sprachen eben davon, der Jurisdiktionsprimat präge, obwohl weniger im katholischen Bewusstsein als die Unfehlbarkeit, das katholische Alltagsleben. Inwiefern ist das so?
Lüdecke: Die Rahmenbedingungen katholischer Alltagskultur sind primatsgeprägt, mal unmittelbarer, mal beiläufiger oder subkutan. Nur einige Beispiele:
Papst Johannes Paul II. hatte immer wieder und gegen Vorschläge nicht nur deutscher Bischöfe primatial daran festgehalten und wieder eingeschärft: Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe, also auch von ungültig wieder Verheirateten, sei immer und ausnahmslos, also unabhängig von der Gewissensüberzeugung der Betroffenen, schwere Sünde, die daher von der Kommunion ausschließt.
Papst Franziskus hat diese Lehre ebenfalls primatial geändert, indem er in seinem Apostolischen Schreiben „Amoris laetitia“ indirekt und später – in seiner Übernahme der Umsetzung der argentinischen Bischöfe in sein höchstes authentisches Lehramt – direkt lehrte, eine pastoral betreute Gewissensentscheidung zum Kommunionempfang sei auch dann möglich, wenn die Partner nicht sexuell enthaltsam lebten. Sex außerhalb der Ehe ist damit auch katholisch nicht mehr ausnahmslos schwere Sünde, die von der Eucharistie ausschließt, sondern bei wiederverheirateten Geschiedenen gegebenenfalls nur eine lässliche.
Auch wenn der Papst hier sozusagen über Bande spielt und das genaue Verständnis seiner Lehre mit den Worten anderer vorlegt, kann an der Änderungsgeltung kein Zweifel bestehen. Bei jeder Bischofssynode zeigt sich der Primat. Die Bischöfe beraten, der Papst entscheidet. Dürfen sie ausnahmsweise doch einmal mitentscheiden, verdankt sich das einem Zugeständnis des Papstes.
Eule: Reichskanzler Otto von Bismarck sprach nach dem Konzil davon, mit dem Jurisdiktionsprimat seien die Bischöfe zu „Oberministranten des Papstes“ geworden. Da ist was dran, oder?
Lüdecke: Dass Bischöfe wie Beamte in Amt und Handeln zur Disposition des Papstes stehen, hat nicht nur die Entlassung des bekannten französischen Bischofs Gaillot gezeigt, sondern in Deutschland in markanter Weise auch der Ausstieg aus der von den Bischöfen zunächst gestützten staatlichen Schwangerenkonfliktberatung:
26 Bischöfe gehorchten dem Befehl des Papstes in Erfüllung ihrer entsprechenden Rechts-, Amts- und Eidespflicht. Nur der damalige Bischof von Limburg, Franz Kamphaus, weigerte sich aus Gewissensgründen den Befehl persönlich umzusetzen. Er ließ sich darauf ein, im Amt zu bleiben, sich aber vom Papst seine Amtsbefugnis zeitweilig beschränken zu lassen, indem sein Weihbischof vom Papst beauftragt wurde, den Ausstieg auch des Bistums Limburg aus der Beratung zu verfügen. 2001 ist den Bischöfen – aus meiner Sicht zu spät – die primäre Verfahrenszuständigkeit in Missbrauchsfällen entzogen worden.
Eule: Der Jurisdiktionsprimat kann also auch als kirchenpolitisches Instrument eingesetzt werden?
Lüdecke: Mit dem fast weltweit unbeschränkten Ernennungsrecht der Diözesanbischöfe kann der Papst sukzessive ganze Bischofskonferenzen „umpolen“. Sorgfältig geprüft auf ihre Papstloyalität in Lehre und Disziplin, kommen in der Regel nur solche Männer in den Bischofsstand, von denen Gehorsam nachhaltig zu erwarten ist.
Als „Papstgeschöpfe“ sind sie ihm als jederzeit absetzbare beamtengleiche Funktionsträger rechtlich ausgeliefert. Deshalb verzichten sie oft auch dort, wo sie es könnten, darauf, Probleme in eigener Autorität anzugehen, um sich nicht dem Risiko einer primatialen Korrektur auszusetzen. Der Hinweis auf die „Weltkirche“ – das ist eine Chiffre für den Primatsinhaber – gehört daher zum Standardrepertoire der, wie mein Kollege Georg Bier das nennt, „Verantwortungs-Zurückweisung-Rhetorik“ der Bischöfe.
Der Jurisdiktionsprimat wirkt auch ohne spektakuläre Aktivierung allein schon durch seine bloße Existenz. Auch die Gläubigen können sich ihre Kirche ohne Papst nicht vorstellen. Vor jeder Papstwahl bestätigen sie mit ihrer Hoffnung auf den guten Papst je aufs Neue das primatiale System und seine internalisierte Alternativlosigkeit.
Eule: Die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. gelten als konservative Kirchenlenker oder reaktionäre Hardliner, der neue Papst Franziskus tritt hingegen als fröhlicher „fehlbarer Sünder“ auf. Gibt es aus kirchenrechtlicher Sicht große Unterschiede im Umgang mit Unfehlbarkeit und Jurisdiktionsprimat in den letzten Pontifikaten?
Lüdecke: Nein, keine substantiellen. Lediglich die perfomance ist eine andere. Papst Franziskus lässt sich medial anders als seine Vorgänger eher als Entscheidungsverweigerer denn als Durchsetzer inszenieren, will sich in der Beurteilung der Lage vor Ort nicht an die Stelle der Diözesanbischöfe setzen, spricht von der Notwendigkeit einer heilsamen Dezentralisierung der Kirche. Dabei handelt er gleichzeitig primatsbewusst. Natürlich weiß er, dass er bestimmt, was heilsam ist, und was nicht (mehr). Natürlich rührt er nicht an der unter seinen Vorgängern offenkundig gemachten Unwiderrufbarkeit der Unmöglichkeit, Frauen zu Priesterinnen zu weihen. Er weiß, dass er damit die Kirche in einen Selbstverständnis-Gau stürzen würde.
Franziskus hält wie seine Vorgänger an der im Codex nicht mehr vorgesehenen Einsetzung von Päpstlichen Administratoren sede plena fest, um kurzfristig in die Leitung von Diözesen einzugreifen. Und obwohl sich 2018 eine Mehrheit der deutschen Bischöfe entsprechend ihrer gesetzlichen Zuständigkeit auf die Absprache dafür entschieden hatten, nicht-katholische Partner einer konfessionsverschiedenen Ehe nach betreuter Gewissensentscheidung zur Kommunion zuzulassen, ging der Papst auf die Beschwerde einer Minderheit ein und verfügte, das vereinbarte Schreiben so nicht zu veröffentlichen.
Eule: Welchen Einfluss hatte das Erste Vatikanische Konzil auf die Kodifizierung des Kirchenrechts? War der CIC 1917 die „Krönung des Konzils“, wie Sie das entsprechend für den Nachfolger, den CIC 1983, in Bezug auf das Zweite Vatikanische Konzil formuliert haben?
Lüdecke: So wie Papst Johannes Paul II. mit dem Codex von 1983 in der Diktion des Zweiten Vatikanischen Konzils die wesentlichen ekklesiologischen Marker des Ersten Vatikanums, einschließlich der Papstdogmen, in Recht transformiert und zusätzlich abgesichert hat, so war auch der Codex von 1917 die rechtliche Transformation der damaligen konziliaren Ekklesiologie.
Schon die Gesetzgebungstechnik einer systematischen Kodifikation war systemstimmig dem rechtlichen Parallelsystem der neuzeitlichen absolutistischen Staaten entliehen. Das Recht machte auch damals nicht die Ekklesiologie, sondern folgte ihr und setzte sie in eine Rechtsordnung um. Nicht im Recht als solchem besteht gegebenenfalls ein Problem, sondern in der ihm zugrunde liegenden amtlichen Lehre.
Eule: „Ich weiß, dass das Amt des Papstes das größte Hindernis auf dem Weg zur Einheit der Kirche ist“, so Papst Paul VI. 1967. Und Johannes Paul II. sah sich in seiner Enzyklika „Ut unum sint“ 1995 in der Verantwortung, „eine Form der Primatsausübung zu finden, die zwar keineswegs auf das Wesentliche ihrer Sendung verzichtet, sich aber einer neuen Situation öffnet“.
Was konkret könnte das für die Ökumene bedeuten? Manche denken an eine Art „moralischer Selbstverpflichtung“ des Papstes, auf seine (ihm eigentlich zustehenden) Rechte zu verzichten. Oder ist eine vollständige Kirchengemeinschaft mit der römisch-katholischen Kirche denkbar, bei der auf die Anerkennung und Geltung der Papst-Dogmen des Ersten Vatikanums verzichtet würde?
Lüdecke: Klares Nein! Das Versprechen eines Papstes, seinen Primat nur dezent oder zurückhaltend einzusetzen oder gar auf seine Ausübung gänzlich zu verzichten, bliebe eine an die Person des Amtierenden gebundene Zusage, eine Gunst, kein Anspruch. Sie wäre nicht nur jederzeit zurücknehmbar, sondern hätte auch keinerlei Bindewirkung für seine Nachfolger.
Ich kann mir schlechterdings nicht vorstellen, wie etwa von der Position einer lutherischen „Freiheit eines Christenmenschen“ aus eine solche Auslieferung an ein päpstliches Versprechen akzeptiert werden könnte. In Diskussionen mit evangelischen KollegInnen und Studierenden zu solchen Ideen kommt an einem gewissen Punkt die einfache Rückfrage: Darf der Papst dann seinen Primat nicht ausüben oder kann er nicht? Mit der ersten Alternative als Antwort ist das Schicksal dieser ökumenischen Perspektive regelmäßig besiegelt.
Eule: Michael Seewald, Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Münster, unterscheidet in seinem jüngsten Buch „Reform. Dieselbe Kirche anders denken“ drei Modi dogmatischer Entwicklung, mit der das Lehramt „den Anschein einer ohne Brüche auskommenden, objektiven Lehrtradition aufrechtzuerhalten“ versuche:
Eine „Autokorrektur“, etwa bei Papst Pius‘ XII. Änderung von Form und Materie des Weihesakraments, den „Obliviszierungsmodus“ (wie beim „Vergessenlassen“ des Monogenismus und der Akzeptanz der Evolutionstheorie seit Paul VI.) sowie die „Innovationsverschleierung“, etwa bei der Anerkennung der Religionsfreiheit seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Ist aus Ihrer Sicht auf diesem Wege eine „Revision“ der Papst-Dogmen von 1870 möglich?
Lüdecke: Es gibt keine katholische Theorie der Dogmenrevision, das wäre ein Widerspruch in sich! Unter dem Stichwort der „Dogmenentwicklung“ wird versucht, interpretative Spielräume ein und desselben Dogmas auszuloten, wie etwas bei der älteren und engen Auslegung des Axioms „Außerhalb der Kirche kein Heil“ und der jüngeren und weiteren Interpretation. Auch die angeführten Beispiele gehören zu solchen sympathischen, aber letztlich nicht zielführenden Suchbewegungen. Es gibt keinen theologischen Konsens darüber, welche Papstlehren vor dem Ersten Vatikanum als unfehlbar nach den Kriterien dieses Konzils gelten können, außer, dass die Zahl sehr restriktiv angesetzt wird.
Die von Seewald angeführten drei Beispiele scheitern vor allem daran, dass für sie keine zweifelsfrei amtlich beanspruchte Unfehlbarkeit vorliegt, so dass man von der Rücknahme oder substantiellen Korrektur einer als irreversibel vorgetragenen Lehre sprechen könnte. Die Behauptung von Theologen reicht nicht aus, um die auch rechtlich erforderliche Eindeutigkeit herzustellen. Ich halte solche interpretatorischen Bemühungen auch für kontraproduktiv, denn sie schüren eine Hoffnung auf Revision der Papstdogmen, für die es keinen Anhalt gibt. Der Jurisdiktionsprimat ist nur hinnehmbar oder bestreitbar, sei es in stillschweigendem Ignorieren oder explizit. Eine dritte Möglichkeit sehe ich nicht.
Das Interview führte Thomas Wystrach.
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