Politik

OpenDoors: Die Grenzen des „Weltverfolgungsindex“

Wie jedes Jahr hat die evangelikale Organisation OpenDoors einen „Weltverfolgungsindex“ darüber veröffentlicht, „wo Christen am stärksten verfolgt werden“. Wird der Bericht der Komplexität der Lage gerecht?

Rund um den Erscheinungstermin des „Weltverfolgungsindex“ von OpenDoors gibt es zahlreiche Berichte in evangelikalen und anderen kirchlichen Medien, denn mit Rangliste, Weltkarte und persönlichen Storys von Betroffenen bietet OpenDoors interessierten Leser:innen und Journalist:innen reichlich Material an.

Aber der „Weltverfolgungsindex“ der evangelikalen Organisation erhält auch in großen Medien Resonanz. In diesem Jahr berichtete unter anderem die Deutsche Welle, nicht ohne auf die Probleme mit „Weltverfolgungsindex“ und OpenDoors hinzuweisen, z.B. was den Umgang mit Spenden angeht. Die Arbeit von OpenDoors wird seit Jahren nicht nur bereitwillig weiterverteilt und rezipiert, sondern auch kritisiert.

Vor allem Christen im Blick

Der OpenDoors-„Weltverfolgungsindex“ fokussiert auf verfolgte und bedrängte Christen. Dass auch Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften Opfer von Gewalt und Unterdrückung werden, die religiös begründet werden, fällt häufig unter den Tisch.

In diesem Jahr bildet China mit seinem wachsenden Führerkult um Xi Jinping einen Schwerpunkt des fast 700-seitigen ausführlichen Berichts, der die aufwendige mediale Präsentation des „Weltverfolgungsindex“ unterfüttert. Das Schicksal der traditionell muslimischen Uiguren, die zu Zehntausenden in Zwangslager eingesperrt werden, wird darin zwar erwähnt, doch geht es auch in diesem Kontext alsbald um christliche Konvertiten, die dieses Schicksal teilen.

Einem „Weltverfolgungsindex“, der vor allem auf den christlichen Ausschnitt des Gefährungdungspotentials für religiöse Menschen (immerhin 88 % der Weltbevölkerung oder 7,85 Milliarden Menschen) schaut, entgeht ein großer Teil des tatsächlich gewaltvollen Geschehens. Enno Haaks, der Generalsekretär des Gustav-Adolf-Werkes, weist im Interview mit der Eule darauf hin, dass „verfolgt zu werden, kein christliches Alleinstellungsmerkmal ist“.

Schwieriger Verfolgungsbegriff

Auch die Methodik des OpenDoors-Bericht wird immer wieder kritisiert. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die römisch-katholische Deutsche Bischofskonferenz (DBK) nutzen für ihren „Ökumenischen Bericht zur Religionsfreiheit weltweit“ (2013, 2017, 2023) die Verfolgungsdefinition der Vereinten Nationen. Daher wird in den Berichten zwischen bedrängten und verfolgten Christen, Einschränkungen der Religions- und Glaubensfreiheit und gewalttätigen Verfolgungen differenziert.

OpenDoors nutzt nach eigener Aussage für seinen Bericht „die international gebräuchliche Definition des UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees)“, aber die Methodik folge „darüber hinaus eher einer theologischen als einer soziologischen oder juristischen Definition“. Damit korrespondiert auch die professionelle Präsentation des OpenDoors-Berichts anhand persönlicher Leidensgeschichten von Betroffenen.

EKD und DBK schreiben zu Beginn ihres Berichts von 2017: „Wir sind uns bewusst, dass hinter der nüchternen Sprache einer Überblicksdarstellung zahllose konkrete Einzelschicksale und menschliche Dramen stehen.“ Diese „individuellen Leidensgeschichten“ dürften nicht relativiert werden, stehen aber in der wissenschaftlichen Untersuchung naturgemäß zurück. OpenDoors hingegen stellt genau diese in den Vordergrund. Damit beweist die Organisation Geschick bei der medialen Präsentation, denn ohne Emotionalisierung gehen Zahlen und Hintergründe im Medienkarussell leicht unter. Doch wo verläuft die Grenze hin zur Boulevardisierung oder sogar zur Verzweckung der Opferschicksale?

Eine Hitparade der Christenverfolgung?

Der Logik von Vereinfachung und Vereindeutigung verdankt sich die Rangliste als Herzstück des „Weltverfolgungsindex“. Auf ihr verteilt OpenDoors Punkte für die Verfolgung in unterschiedlichen Lebensbereichen in einzelnen Ländern und „errechnet“ so eine griffige Liste von 50 Ländern, in denen Christen besonders bedroht werden.

Angeführt wird die Liste traditionell von Nordkorea: „Werden Christen entdeckt, werden sie in Arbeitslager verschleppt und wie politische Gefangene behandelt oder sogar auf der Stelle getötet“, beschreibt OpenDoors die Verfolgungen, denen Christen im Land ausgesetzt sind. OpenDoors schätzt die Zahl der Christen in Nordkorea auf 400.000, „aber es könnten auch 500.000 sein“. Regime-Quellen sprechen von ca. 15.000, und das, um den Eindruck von Religionsfreiheit zu erschwindeln.

Vor dem Koreakrieg gab es tatsächlich eine größere christliche Minderheit in der heutigen nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang. Dass diese über mehrere Generationen hinweg, trotz des Verbots jeglicher Versammlungen und christlicher Frömmigkeit, überlebt habe, bildet den Kern des Nordkorea-Kapitels des OpenDoors-Berichts. Südkoreanische Hilfswerke hingegen zweifeln die Existenz einer „Untergrundkirche“ an.

Wie auch in anderen Ländern beruft sich OpenDoors auf „Augenzeugenberichte“ von Flüchtlingen und Einwohnern sowie auf Informationen von „Hausgemeinden“ und evangelikalen Organisationen. Konkrete Quellen werden in dem ausführlichen Bericht zur Lage in Nordkorea nicht angeführt. Aufgrund der Abschottung des Landes lässt sich nicht überprüfen, wie viele Menschen die Kim-Diktatur in ihren Lagern überhaupt zur Zwangsarbeit zwingt – und wie viele davon Christen sind.

Außer Indien (Hindu-Nationalismus), Myanmar und Laos (Buddhismus), wo neben den kleinen christlichen Minderheiten auch Muslime unterdrückt werden, sowie China, Vietnam und Nordkorea („Kommunismus“) und Kolumbien und Mexiko (Drogenkriminalität) finden sich auf der Liste des „Weltverfolgungsindex“ nur muslimische Länder.

Dabei ist die Lage für Christ:innen in den Ländern der arabischen Halbinsel von denen in Südostasien oder in den ehemaligen Sowjetrepubliken zu unterscheiden. In einigen Fällen geht Gewalt gegen religiösen Minderheiten vom Staat aus, anderswo sind sie Ziel islamistischen Terrors, wieder anderswo gibt es gegenseitige Animositäten. Eine Komplexität, die durch eine Betrachtung der Liste nicht deutlich wird.

Beispiel Nigeria

In diesem Jahr stehen vor allem die Staaten in Subsahara-Afrika im Fokus des Berichts. Zu Recht, denn in vielen dieser Länder werden ethnische Konflikte und die Konkurrenz um Lebensgrundlagen, die sich aufgrund des Klimawandels noch weiter verschärft, religiös aufgeladen. Am Beispiel Nigeria wird das besonders deutlich: Den islamistischen Terrororganisationen Boko Haram und Islamischer Staat in Westafrika (ISWAP) gelingt es, ihre wirtschaftlichen und ethnischen Motive religiös zu überhöhen.

Der „Ökumenische Bericht zur Religionsfreiheit 2017“ von EKD und DBK hält daran fest, dass „weitere­ konfliktbestimmende ­Elemente ­wie ­Zugang zu Land und Ressourcen, politische Machtinteressen, nicht zuletzt […] tradierte ethnische Rivalitäten“ nicht übersehen werden dürften. Andernfalls würde man der Argumentation der islamistischen Terroristen zu weit entgegen gehen. Die Lage in Nigeria und den restlichen Subsahara-Ländern ist komplex. Im Land leben ebenso viele Christen wie Muslime (je 46 %), die muslimische Bevölkerung eher im Norden, die Christen eher im Süden.

Weil Muslime aus dem Volk der Fulani aufgrund des Klimawandels im Norden des Landes keine Lebensperspektive mehr sehen, wandern sie in die vornehmlich christlichen Gebiete ein. Daraus entstehen viele regionale und lokale Konflikte. Auf Gewalt folgt nicht selten Gegengewalt. Es besteht kein Zweifel daran, dass es Islamisten und Politikern unterschiedlicher Parteien gelingt, diese Verteilungskämpfe religiös aufzuladen. Hinzu kommt der islamistische Terror von Boko Haram und ISWAP. Wer im Einzelfall aus welchen Motiven für Entführungen, Schändungen und Morde verantwortlich ist, lässt sich kaum sagen, weil sich Kriminalität, ethnische Konflikte und Terror überlagern und gegenseitig verstärken.

Dort wo die Christen in der Mehrheit sind, stellt sich die Lage gleichwohl anders dar. So berichtete die Schweizer Zeitung Republik erst im Dezember 2020 von der Einflussnahme evangelikaler Organisationen auf die Politik des Landes. Evangelikale Pfingstkirchen wachsen in Nigeria wie in vielen Schwellenländern. Das Aufeinanderprallen von fundamentalistischen Glaubensvorstellungen gebiert weitere Religionskonflikte. In kaum einem Land der Welt ist demnach die Sterblichkeit bei Geburten und illegalen Abtreibungen so hoch wie Nigeria. Trotzdem machen evangelikale Fundamentalisten gegen Frauenkliniken Front, die von internationalen Hilfswerken unterstützt werden. Ihrerseits werden die evangelikalen Organisationen vor allem von der christlichen Rechten aus den USA unterstützt.

Krieg der Religionen?

In vielen Ländern der Erde stehen Religionsgemeinschaften zueinander in Konkurrenz. Es ist eine Binse, trotzdem: Wo Menschen um ihre Zukunft kämpfen müssen, unter Armut leiden, sich auf ein Mindestmaß staatlicher Ordnung nicht verlassen können, da brechen Konflikte in Gesellschaften entlang traditioneller Bruchlinien von Herkunft und Religionszugehörigkeit auf.

Dabei wird auf allen Seiten „gekämpft“, wenn nicht mit Waffen, so doch zumindest mit den Mitteln der Medien und eben auch „geistlich“. Der Wettstreit der Religionen wird nicht mit den Mitteln aufgeklärter Religiosität geführt – „Nathan der Weise“ ist ein Bühnenstück. Mit Desinformation und Propaganda und sehr viel Geld treten Fundamentalisten aller Religionen – auch Christen – gegeneinander im Kampf um die gesellschaftliche Vorherrschaft an.

Treibstoff für die Konflikte liefern jedoch nicht nur die oft schwierigen Lebensumstände, sondern auch der religiöse Fundamentalismus selbst. Auch ihn finden wir in allen Religionen der Erde. Es besteht kein Zweifel daran, dass insbesondere der islamistische (Staats-)Terror eine Gefahr für religiöse Minderheiten darstellt. In mehrheitlich muslimischen Ländern sind davon neben anderen, viel kleineren Religionsgemeinschaften auch Christen betroffen. Die Gewalt der Islamisten bedroht allerdings ebenso Jüdinnen und Juden und den Staat Israel sowie nichtzuletzt die muslimische Mehrheitsbevölkerung selbst.

Religions- und Glaubensfreiheit als Menschenrechte bedroht

Wo Religions- und Glaubensfreiheit bedroht werden, werden auch andere Menschenrechte gefährdet. Und andersherum: Wo das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und Freiheitsrechte unter die Räder kommen, da können Menschen auch nicht frei glauben. „Das Menschenrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit wird weltweit zunehmend eingeschränkt und infrage gestellt“, mahnt der zweite Religionsfreiheitsbericht der Bundesregierung, der im Oktober 2020 von Markus Grübel, dem 2018 berufenen ersten Beauftragten der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit, vorgestellt wurde.

Dass es das Amt inzwischen gibt, ist auch dem Engagement konservativer, christlicher Politiker:innen zu verdanken. Vor allem ist es aber Zeichen eines Lernprozesses, dass man Einschränkungen der Religionsfreiheit in Europa und der Welt offensiv angehen und thematisieren muss, will man nicht riskieren, das Thema allein in die falschen Hände religiöser Fundamentalisten und Rechtspopulisten zu legen

Dazu muss man gleichwohl erst einmal Aufmerksamkeit für das komplexe Themenfeld herstellen. Zumindest das gelingt dem „Weltverfolgungsindex“ von OpenDoors. Ist er darüber hinaus von Nutzen?

Der viele Seiten umfassende Bericht enthält zweifelsohne Informationen, die wahrzunehmen sind. Doch er schaut zu sehr durch die evangelikal-christliche Brille auf die Welt. Obwohl OpenDoors seit einigen Jahren die Herstellung des Berichts ausführlich erläutert, können Zweifel an Methodik und Quellen nicht ausgeräumt werden. Als einzige Quelle für die Berichterstattung über Religionsfreiheit oder die Lage der Christen weltweit sollte er nicht genutzt werden.


Aktualisierung 23.04.2024: Ergänzt um den EKD/DBK-Bericht von 2023.

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