Der lange Schatten des Krieges
Bundesinnenminister Dobrindt sieht seine „Mission“ darin, Abschiebungen zu maximieren. Deutschland will sich seiner Verantwortung für Flüchtlinge aus Afghanistan entziehen. Die evangelische Kirche hält mit Kollektenmitteln dagegen.

Liebe Eule-Leser:innen,
20 Jahre lang war die Bundeswehr in Afghanistan im Einsatz. Von 2001 bis 2021 dauerte dieser längste und größte Auslandseinsatz deutscher Streitkräfte. In diesen Jahren hat sich Deutschland eine Verantwortung für Afghanistan und seine Bevölkerung angemaßt und zugemutet. Eine Verantwortung, die „wir“ jetzt lieber ganz los wären?
Für den Bundesminister des Innern, Alexander Dobrindt (CSU), ist der „Politikwechsel in der Migration“ eine „Mission“. Auch an jenen Tagen, an denen Migrationspolitik mal nicht das nachrichtenbestimmende Thema im Lande ist, arbeitet er beharrlich daran, „die Überforderung unseres Landes zu beenden“, wie er im Sommer dem STERN gegenüber sagte. Sein Ministerium ist über dieses Interview so glücklich, dass es das Gespräch auf der Ministeriumswebsite „nachdruckt“.
Zur „Mission“ Dobrindts gehört, Abschiebungen von Afghan:innen in ihr Heimatland zu maximieren. Das ist schwer genug, denn die herrschenden Taliban entrechten systematisch die Bevölkerung, vor allem Frauen. Im Herbst 2024 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) darum, dass afghanischen Frauen pauschal und ohne individuelle Prüfung Flüchtlingsstatus zusteht. Bereits die Ampel-Regierung hatte im Sommer 2024 damit begonnen, straffällige afghanische Männer in ihr Heimatland abzuschieben. An den Männern, die auf wenig Sympathie in der deutschen Bevölkerung zählen können, kann erprobt werden, was man allen Afghan:innen an den Hals wünscht.
Seit Monaten befindet sich Inneminister Dobrindt in Verhandlungen mit den Taliban über weitere Rücknahmen, (kostspielige) Rückführungen finden immer wieder statt. Der Status der Abgeschobenen ist unklar. Und die Bundesregierung legitimiert so auch das verbrecherische Regime der Taliban. Die neuen Taliban-Mitarbeiter in der Berliner Botschaft des Landes bringen Afghan:innen konkret in Gefahr, erklärt ProAsyl. Und dann wäre da noch die versprochene Aufnahme von Ortskräften, die während des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr für die Deutschen gearbeitet haben, und ihrer Familien.
Gleich nach Regierungsantritt hatte sich Innenminister Dobrindt mit Rückendeckung aus dem Kanzleramt dafür eingesetzt, alle Aufnahmeprogramme für Afghan:innen zu stoppen. „Das ist für mich der Wählerauftrag“, erklärte er dazu im Sommer dem STERN. Rund 2.000 Afghan:innen warten (vor allem) im Nachbarland Pakistan darauf, dass Deutschland die ihnen bereits gegebene Zusage für eine Aufnahme in Deutschland einlöst. Mehr als 60 Prozent der Betroffenen sind Frauen und Kinder. Deutschland bezahlt derweil für Aufenthalt und Unterkunft in Pakistan. Trotzdem hat Pakistan im Jahr 2025 damit begonnen, Familien nach Afghanistan abzuschieben.
„Deutschland steht bei ihnen im Wort“
Für Dobrindt sind die „notwendigen Sicherheitsprüfungen“, die von den ehemaligen Ortskräften und ihren Familien durchlaufen müssen, der Knackpunkt. Dazu befinden sich deutsche Beamte inzwischen wohl auch wieder in Pakistan. Laut Dobrindt sind die Verzögerungen ein Erbe der Ampel-Regierung, die sich nach dem Abzug der Bundeswehr nicht ausreichend um eine schnelle Lösung des Problems gekümmert habe. Doch gelte:
„Diejenigen, die eine rechtsverbindliche Aufnahmezusage der Bundesrepublik Deutschland aus der Ampelzeit haben, können mit einer Aufnahme rechnen, wenn sie die notwendigen Sicherheitsprüfungen positiv durchlaufen“.
In der Praxis läuft das darauf hinaus, dass sich Betroffene ihren Weg nach Deutschland vor Verwaltungsgerichten freiklagen müssen. Immerhin 200 Personen haben sich so ihre Ausreise nach Deutschland bereits erfolgreich eingeklagt. Für solche Klageverfahren hat der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) nun 100.000 Euro aus Kollektenmitteln an die Organisation Kabul Luftbrücke gespendet (s. EKD-Pressemitteilung, dpa-Meldung). Der Flüchtlingsbeauftragte des Rates, Bischof Christian Stäblein (EKBO), erklärte:
„[Die Ortskräfte] haben für unsere Werte und Interessen, nicht zuletzt für Freiheit und die gleiche Würde aller, ihr Leben riskiert und ebenso das ihrer Familien. Die Bundesrepublik Deutschland hat ihnen daher Schutz zugesichert und eine verbindliche Aufnahmezusage erteilt. Die evangelische Kirche lässt die Schutzsuchenden und ihre Familien nicht im Stich. Deutschland steht bei ihnen im Wort, daher helfen wir nun mit, dass diese Menschen zu ihrem Recht kommen.“
Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon!
Wie immer, wenn sich die evangelische Kirche auf dem Feld der Flüchtlings- und Migrationspolitik engagiert, gibt es auf Social-Media-Plattformen und direkt and die Kirche vielfältige Rückmeldungen: Wie üblich überwiegen auf diesen Kommunikationskanälen jene Stimmen, die den Einsatz der Kirche für Geflüchtete kritisch sehen. Gut, dass sich die Kirche von der Stänkerei einer lauten Minderheit nicht beirren lässt!
Diesmal im Fokus der Kritik: Die Verwendung von „Kirchengeld“. Dazu ist eigentlich nur zu sagen, dass es sich nicht einmal um „Geld der Kirche“ handelt, auch nicht um Kirchensteuermittel – was die (wie üblich) eintrudelnden Drohungen mit Kirchenaustritten ad absurdum führt. Bei Kollekten handelt es sich um Spenden, die (vor allem) während Gottesdiensten zweckgebunden gesammelt werden. Wer etwas gegen Flüchtlingshilfe hat, kann also einfach auf eine entsprechende Kollektengabe verzichten. Predigt, Abendmahl und Segen gibt es sowieso umsonst. Aus den Kollektenbeuteln evangelischer Gottesdienstgemeinden geht ein winziger Anteil auch an die EKD, über deren Verwendung zugunsten guter Zwecke der Rat der EKD entscheidet.
(Ergänzung 5.12., 13 Uhr) An zwei Sonntagen im Jahr wird offiziell auch für „die EKD“ gesammelt, einmal für Ökumene/Auslandsarbeit und einmal für „gesamtkirchliche Zwecke“. Die Bezeichnungen dieser EKD-Sonntage in den Kollektenplänen der 20 EKD-Gliedkirchen weichen zum Teil voneinander ab, auch werden die EKD-Kollekten auf unterschiedliche Sonn- bzw. Feiertage gelegt. Die Mittelverwendung wird durch einen aufwändigen Verwaltungsvorgang im EKD-Kirchenamt im Vorfeld der Sammlungen festgelegt. Im vorliegenden Fall hat die Sammlung, wie Die Eule erfahren hat, bereits im Jahr 2024 stattgefunden, mit expliziten Hinweisen auf die Verwendung für die Unterstützung von Geflüchteten.
Die Kollektenverwendung ist aber auch politisch bemerkenswert. Denn sie ist ein Echo auf den Versuch der Bundesregierung, sich aus ihrer Verpflichtung gegenüber den Menschen in den gestoppten Aufnahmeprogrammen herauszukaufen. 90 % der Menschen lehnten dieses „großzügige Angebot“ ab. Die Frankfurter Rundschau berichtete:
„Konkret geht es um eine einmalige Zahlung von 2500 Euro vor und 10.000 Euro nach der Rückreise nach Afghanistan oder in Einzelfällen in Drittstaaten. Zusätzlich wurden Sachleistungen wie medizinische Betreuung, Unterkunft und Verpflegung für mehrere Monate angeboten. Ziel sei es nach Angaben des Innenministeriums, das Aufnahmeprogramm zu entlasten […].
Der EKD-Flüchtlingsbeauftragte Stäblein kritisierte das Vorhaben: „Wer die Menschenwürde ernst nimmt, kann doch nicht ernsthaft verlangen, dass gefährdete Menschen ihre Sicherheit, ja ihr Leben gegen Geld eintauschen“. Das Angebot der Bundesregierung sei „untragbar für die Betroffenen“ und beschädige „unsere eigene Würde“.
Jenseits dieser ethischen Perspektive, kann man sich auch fragen, ob das Heckmeck um die Aufnahmeprogramme, von einem fiskalischen Standpunkt aus gesehen, Deutschland nicht viel teurer zu stehen kommt als die Aufnahme und Integration der afghanischen Geflüchteten. Stäblein erinnerte an die Verantwortung für die Geflüchteten, die sich Deutschland durch sein jahrelanges Engagement in Afghanistan erworben hat:
„Deutschlands Verantwortung endet nicht mit dem Truppenabzug, sondern umfasst aus friedensethischer Sicht auch das gerechte Handeln im Nachhinein.“
Macht hoch die Tür!
Doch danach steht Dobrindt nun wirklich nicht der Sinn. In diesen Tagen brachte er sogar – ganz adventlich – die Abschiebung von Afghaninnen wieder ins Spiel. In Deutschland – Bevölkerung: 83,5 Millionen – leben derzeit ca. 1.500 „ausreisepflichtige“ Afghaninnen. Für Dobrindt, daran sei erinnert, stellen diese Frauen und die Ortskräfte und ihre Familien eine „Überforderung“ der Kapazitäten und Möglichkeiten Deutschlands dar. Wie arm!
Es fällt schwer, angesichts dieser deutschen Hartherzigkeit nicht an den Wirt im traditionellen Krippenspiel zu denken, der für die schwangere Maria und Joseph keinen Platz in der Herberge findet. In den kommenden Tagen wird vermutlich wieder reichlich daran erinnert, dass auch der Heiland laut dem Evangelium als Säugling auf der Flucht vor politischer Verfolgung war. Und warum auch nicht: Am Ende geht es um politische Moral und darum, das offensichtlich Richtige zu tun. Thomas Ruttig kommentiert Dobrindts Vorgehen in der taz zutreffend:
„Wenn ein ideologisches Diktum praktische Politik wird, kann es Grenzen sprengen. Hier sind es vor allem moralische.“
Aktuell im Magazin
RE: November 2025 – Flaggen auf Kirchen, EKD-Synode und „Missbrauch evangelisch“ – Michael Greder, Philipp Greifenstein (59 Minuten)
Im Monatsrückblick des „Eule-Podcast“ sprechen Podcast-Host Michael Greder und ich u.a. über folgende Fragen: Dürfen an evangelischen Kirchen Nationalflaggen und/oder Regenbogen hängen? Was bringt es, dass Betroffene sexualisierter Gewalt auf Synodentagungen sprechen? Wie ist der aktuelle Stand beim „Missbrauch evangelisch“? Außerdem gibt es wie immer eine gute Nachricht des Monats.
Wie Nationalisten die Religion (miss-)brauchen – Natalie Meinert
In den USA, Indien oder Ungarn verstehen sich die autoritären Regierungschefs als Verteidiger der Mehrheitsreligion. Wie Politik und Nation religiös überhöht werden, erklärt die Religionswissenschaftlerin und Journalistin Natalie Meinert.
„Der religiöse Nationalismus, den [Donald Trump, Viktor Orbán und Narendra Modi] in unterschiedlichen Traditionen vertreten, schafft eine Identitätspolitik, die auf Abgrenzung basiert. Die sakrale Überhöhung immunisiert sie gegen Kritik und macht jede politische Auseinandersetzung zur moralisch aufgeladenen Entscheidung über Gut und Böse. Die Vorstellung eines kosmischen Kampfes stellt politische Konflikte als existenziell dar und erschwert damit rationale Debatten.“
Nicht am Wutköder anbeißen! – Philipp Greifenstein
Algorithmen und Populismus bestimmen das Leben auf den Social-Media-Plattformen. Zum Oxford Word of the Year 2025 wurde darum „Rage Bait“ gewählt. In meinem Kommentar erkläre ich, warum das eine sehr gute Wahl ist.
„Die großen Social-Media-Plattformen brauchen Wut-Köder und fleißige Angler:innen für ihr eigenes Geschäftsmodell. Andere Begünstigte fallen mir nicht wirklich ein. Empörungsunternehmer:innen gibt es in jeder politischen Farbschattierung und offenbar auch in jeder religiösen Verortung und Frömmigkeit. Das bedauerliche an der Empörung ist allerdings, dass sie auch dann zum Erfolg der ursprünglichen Botschaft beiträgt, wenn sie sich gegen Hetzer:innen richtet.“
Ein Blick in die Evangelische Landeskirche in Württemberg (ELKWUE). Dort haben am vergangenen Sonntag die Kirchenwahlen stattgefunden (s. Überblick auf der ELKWUE-Website). Im Unterschied zu den 19 anderen Gliedkirchen der EKD werden in Württemberg auch die Synodalen der Landessynode direkt gewählt und nicht allein die Kirchvorsteher:innen. Und weil es im Ländle dankenswerter Weise offen agierende Gesprächskreise gibt, also (kirchen-)politische Neigungsgruppen, können die Wähler:innen sich an der Wahlurne wirklich entscheiden, in welche Richtung sich ihre Kirche entwickeln soll.
Das Ergebnis vom Sonntag zeigt allerdings, dass sich die wählenden (!) Württemberger:innen in dieser Frage genauso uneinig sind wie auch in den vergangenen Jahren. Am Ende sieht die neue Landesssynode – bei leichten Verschiebungen unter den kleineren Gesprächskreisen – genauso aus wie die letzte auch. Der Gesprächskreis „Lebendige Gemeinde“ behält weiterin 31 Sitze und damit eine Sperrminorität. Für zukünftige Beschlüsse in Richtung einer „Trauung für Alle“ sieht es also nach der Wahl nicht besser aus als zuvor.
Verliererin der Wahlen ist der kleinere, liberale und pragmatische Gesprächskreis „Evangelium und Kirche“. Dessen Leitungsmitglied Friedrich July wies nach der Wahl auf die „insgesamt eher geringen Mobilisierung“ hin. Immerhin 390.000 Kirchenmitglieder haben an der Wahl teilgenommen, das entspricht 22,43 %. Im Vergleich zu anderen Landeskirchen ein gutes Ergebnis. July problematisierte auch den „unterschiedlich finanziellem Aufwand im Wahlkampf“. Die großen Gesprächskreise „Lebendige Gemeinde“ und „Offene Kirche“ betreiben richtig professionellen Wahlkampf, inkl. Wahlplakaten, Online-Auftritten und Wahlkampfveranstaltungen.
July wies auch auf die „große Belastung“ durch den „organisatorischen Aufwand“ hin, der in den Gemeinden wegen der Kirchenwahlen entstünde. Auch im Blick auf die immer geringer werdende Zahl von Kandidat:innen sei es an der Zeit, „konstruktiv über Weiterentwicklungen nachzudenken“.
Ein schönes zweites Adventswochenende wünscht
Philipp Greifenstein
Ein guter Satz
„Die moralische Substanz unserer Gesellschaft muß doch daran gemessen werden, inwieweit wir die Menschenwürde aller, also auch gerade der sozial Schwachen, der Außenseiter und der Minderheiten achten. Unsere eigene Vergangenheit ist doch Mahnung und Verpflichtung.“
– Herbert Wehner, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, im Jahr 1982 zur „Ausländerpolitik“
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