Und sie kamen eilend
Der Onlineversandhandel boomt zu Weihnachten, erwartet werden Rekordumsätze. Doch wer bringt eigentlich die Geschenke? Und unter welchen Bedingungen arbeiten die oft migrantischen Mitarbeiter:innen?
Seit Wochen schon klingelt es täglich an der Haustür. Wenn nicht gerade ein Paket für uns abgegeben wird, dann für eine:n der zahlreichen Nachbar:innen, die werktags aushäusig arbeiten. Unser Haus wird dann zu einem kleinen Paketverteilzentrum. So geht es schon seit vielen Jahren, denn gerade im ländlichen Raum ist Teilhabe am Warenreichtum der Konsumgesellschaft nur auf dem Wege des Versandhandels möglich.
Zum diesjährigen „Black Friday“ vor dem 1. Advent beförderte DHL doppelt so viele Pakete wie an einem gewöhnlichen Tag. Der Jahresumsatz des Online-Handels soll 2025 einen neuen Rekord erzielen. Die umsatzstärksten Warengruppen sind Bekleidung und Elektronik. Unumstrittener Marktführer in Deutschland ist Amazon: 16,2 Milliarden Euro Umsatz werden durch den Online-Shop des Handelsriesen laut Statista erwirtschaftet, mehr als doppelt so viel wie von den Konkurrenten Otto und Zalando.
Unter welchem Druck die Mitarbeiter:innen stehen, können Kund:innen nur erahnen, wenn sie in die gestressten Gesichter der Paketbot:innen schauen, die von Haus zu Haus eilen. Ende November erregten die Arbeitsbedingungen bei Amazon in Erfurt Aufmerksamkeit, weil ein 59-jähriger deutsch-algerischer Mitarbeiter am Arbeitsplatz an einem Herzinfarkt verstarb. Sonst läuft das Geschäft, von dem wir alle profitieren, außerhalb der Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft.
„Ein hartes Pflaster“
„Die gesamte Logistikbranche ist ein hartes Pflaster für alle Beschäftigten“, erklärt Frank Fehlberg auf Nachfrage der Eule. Er ist Referent für den Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA) der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM), auf deren Gebiet das Amazon-Logistikzentrum in Erfurt-Stotternheim liegt. Laut taz arbeiten in dem modernen Verteilzentrum 1.200 Transportroboter und 2.000 Menschen. Weil Amazon etwas besser bezahle als in der Logistikbranche sonst üblich und am Arbeitsplatz Englisch gesprochen werde, gehöre das US-Unternehmen gerade unter Migrant:innen zu den beliebten Arbeitgebern.
Wie viele der Mitarbeiter:innen in der Branche einen Migrationshintergrund haben, wird nicht exakt erhoben. Der Mediendienst Integration zählt den Versandhandel zu denjenigen Branchen, die besonders von Zuwanderung abhängen. Der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund in den Belegschaften übersteigt bei weitem den in der Gesamtgesellschaft von 30,4 %. „Wie etwa auch auf dem Bau, in der Reinigung, in den Küchen und in Schlachtbetrieben bildet diese Beschäftigtenschicht das Alltagsrückgrat des ‚Wirtschaftsstandorts‘ Deutschland“, erklärt KDA-Referent Fehlberg.
Besonders augenfällig ist der Kontrast zwischen Logistik-Mitarbeiter:innenschaft und Bevölkerung in Ostdeutschland, wo nur 11,7 % der Menschen einen Migrationshintergrund haben. Laut der Gewerkschaft ver.di stellen migrantische Mitarbeiter:innen im Erfurter Verteilzentrum von Amazon die Mehrheit der Belegschaft.
Im Todesfall von Erfurt-Stotternheim hat die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, um die genauen Todesumstände zu klären. Bekannt ist, dass der Amazon-Mitarbeiter zwei Stunden auf einer Toilette der Anlage lag, bevor sein lebloser Körper aufgefunden wurde. Zuvor hatte der Mitarbeiter über Unwohlsein geklagt. Der Konzern weist jede Schuld am Tod des Mitarbeiters von sich: Man sei davon ausgegangen, er habe sich nach Hause begeben. Laut taz halten viele Mitarbeiter:innen das nicht für glaubhaft: „Mitarbeiter:innen würden engmaschig kontrolliert im Logistikzentrum, heißt es. Wer gehe, müsse offiziell auschecken. Es falle also auf, wenn ein Kollege länger nicht an seinem Arbeitsplatz sei.“
Die Gewerkschaft ver.di erhebt wegen des Todesfalls gegen Amazon schwere Vorwürfe und sieht eine Mitverantwortung des Konzerns: Man wisse „sicher, dass die Arbeitsbedingungen bei Amazon, die uns Beschäftigte schildern, krank machen.“ Seit vielen Jahren kämpfen die Gewerkschaften für Tarifverträge und faire Arbeitsbedingungen beim US-Unternehmen.
Unsichtbare Arbeit in der Migrationsgesellschaft
Dass die von den Mitarbeiter:innen geleistete Arbeit häufig im Unsichtbaren bleibt, stellt dabei ein Problem dar: „Je weniger Sichtbarkeit, desto einfacher ist es denn auch für Unternehmen, Arbeitsrecht und Arbeitsschutz zu unterlaufen“, erläutert KDA-Referent Frank Fehlberg. „Rechts- und Sozialstaat“ seien, „nicht überall selbstverständliche Rechtswirklichkeit, sondern tägliche Aufgabe, wenn nicht täglicher Kampf“.
Auf migrantische Beschäftigte trifft dies besonders zu, denn ihre Aufenthaltstitel hängen nicht selten an sicheren Beschäftigungsverhältnissen. Laut ver.di „fürchten die Beschäftigten, dass mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes auch ihr Aufenthaltstitel auf dem Spiel stehen könnte“. Amazon nutze diese Situation „ohne Skrupel und moralische Bedenken“ aus.
Am Ende des Kalenderjahres stehen die Beschäftigten im Versandhandel wegen Rabattaktionen wie dem „Black Friday“ und wegen des Weihnachtsgeschäfts unter besonderem Druck. Deshalb werden auch zusätzlich saisonale Arbeitskräfte eingestellt. „Beschäftigte berichten uns von hohen Leistungsanforderungen, Urlaubssperren, fehlenden Lohn bei Krankmeldungen, ständigem Druck bei Unterschreitung willkürlicher Normen“, berichtet Matthias Adorf. Der ver.di-Gewerkschaftssekretär befindet sich immer wieder im Austausch mit Mitarbeiter:innen in Erfurt. Diese befänden sich „zu großen Teilen in befristeten Arbeitsverhältnissen“ und berichteten“ von Angst vor Arbeitsplatzverlust, wenn sie sich krank melden oder zu langsam arbeiten“.
Trotz der Missstände in der Branche boomt der Versandhandel in Deutschland. Nach einer Delle wegen der Wirtschaftskrise, die durch den Ukraine-Krieg im Jahr 2022 mitverursacht wurde, hat sich das Geschäft längst erholt. Für dieses Jahr wird ein neuer Rekordumsatz prognostiziert, obwohl der Versand- und Online-Handel nicht nur ein gefährlicher Arbeitsplatz ist, sondern auch eine Belastung für Klima und Umwelt darstellt.
Johannes Brandstäter vom „Zentrum Flucht und Migration“ der Diakonie Deutschland hält darum Begegnungen und Gespräche zwischen Konsumierenden und Mitarbeitenden des Versandhandels für notwendig. Beim Wohlfahrtsverband der evangelischen Kirchen ist Brandstäter für migrationspolitische Grundsatzfragen zuständig. „Aus christlicher Perspektive sollten Menschen, die aus anderen Ländern gekommen sind und hier arbeiten, und das oftmals unter noch schwierigeren Bedingungen als Einheimische, die Wertschätzung erfahren, die ihnen dem christlichen Menschenbild folgend zusteht“, erläutert er gegenüber der Eule. „Alle Menschen sind entsprechend dem Ebenbild Gottes geschaffen und sollen würdevoll und gleich behandelt werden.“
„Im Rückbau begriffen“
Zivilgesellschaftliche und auch kirchliche Kontaktflächen mit den häufig migrantischen Mitarbeiter:innen in Handel und Logistik gibt es jedoch selten – und zunehmend weniger. Johannes Brandstäter verweist auf Nachfrage der Eule auf die „Interkulturelle Woche“, die seit 50 Jahren immer im September stattfindet und migrantische Communities, Zivilgesellschaft und Kirchen zusammenbringt. Betroffene von rassistischer Diskriminierung und Gewalt in Thüringen könnten sich außerdem an ezra wenden. Die Beratungsstelle wird von der Evangelischen Kirche in Mittdeutschland (EKM) finanziell unterstützt.
Die EKM selbst verfügt laut KDA-Referent Fehlberg „nicht über hauptamtliche Kapazitäten, sich spezifisch der migrantischen Arbeitskräfte anzunehmen“. Der Kirchliche Dienst in der Arbeitswelt gehöre zu jenen Aufgabenbereichen der Kirchen, die bundesweit „im Rückbau begriffen“ seien, es gäbe „nur noch ganz wenige ‚Wirtschafts- und Sozialpfarrer‘“, die sich auch in der Seelsorge an Beschäftigten engagieren könnten. Fehlberg ist der einzige hauptamtliche KDA-Mitarbeiter der EKM und kümmert sich vor allem um den Kontakt zu den Gewerkschaften. Gerade in Mitteldeutschland gibt es zwischen ihnen und Kirche und Diakonie immer wieder Konfliktstoff.
„Das kirchliche Sonderarbeitsrecht steht vielfach zwischen den beiden gesellschaftlichen Großinstitutionen“, erklärt er gegenüber der Eule. Ein Koordinierungstreffen zwischen dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), und den großen Kirchen in der Region in diesem Jahr wurde „kirchlicherseits kurzerhand abgesagt“. Im Hintergrund steht der Tarifstreit am Weimarer Hufeland-Klinikum (s. hier in der Eule). Fehlberg befürchtet eine weitere „Entkopplung“ von Gewerkschaften und Kirchen und wünscht sich einen „strategischen (Wieder-)Ausbau der Zusammenarbeit“. Beide würden als „starke Player der Zivilgesellschaft“ in der Region gebraucht, die für gemeinsame soziale und ökologische Anliegen und den Schutz der Demokratie eintreten.
Mehr gesellschaftliche und politische Unterstützung für migrantische Beschäftigte fordert Johannes Brandstäter von der Diakonie Deutschland: „Arbeitnehmende, die aus anderen Ländern kommen und in Hilfeberufen, aber auch als Fachpersonen tätig sind, haben oft nicht nur schlechtere Arbeitsbedingungen, sondern auch vergleichsweise geringere Einkommen.“ Insbesondere gälte dies für Frauen. Von einer auskömmlichen, sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung für Migrant:innen profitiere „die ganz große Mehrheit der Bevölkerung“, weil nur so „die öffentliche Gesundheitsversorgung und die Rente zukunftsfähig“ würden.
Verzicht als Option
Mit dieser Mahnung stehen Kirche und Diakonie keinesfalls alleine da: Ökonom:innen und Gewerkschaften warnen davor, die Augen vor den Realitäten der Migrationsgesellschaft in der Arbeitswelt zu verschließen. Die „Migrationswende“ der Bundesregierung von CDU/CSU und SPD jedoch verheißt, laut EKM-KDA-Referent Fehlberg wenig Besserung: „Gerade lässt die deregulierende Arbeitsmarktpolitik der Merz-Regierung neues, noch größeres Unheil befürchten.“
Jenseits des politischen und zivilgesellschaftlichen Zugriffs stellen auch persönliche Konsumentscheidungen eine Möglichkeit dar, Einfluss auf die Arbeitsbedingungen im Versandhandel zu nehmen. Konsumverzicht – wie vom Theologen Ruben Zimmermann ausgeführt – kann ebenso eine Handlungsoption sein wie die Verlagerung von Käufen auf den lokalen und regionalen Handel. Schließlich kann man den eilenden Paketzusteller:innen wenigstens mit einem Lächeln, Nachsicht und sogar einem Trinkgeld begegnen. Ohne die migrantischen Reisenden jedenfalls blieben – wie schon in der Weihnachtserzählung des Matthäus-Evangeliums – unsere Gabentische leer.
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