Die Anwälte der Geflüchteten schlagen Alarm

In Brüssel widerspricht die Evangelische Kirche der „Aushöhlung des Asylrechts“, die von EU-Kommission und Bundesregierung betrieben wird. Ein Beispiel für anwaltschaftliches Handeln der Kirchen.

Es ist nur eine kleine Meldung, die es in die Nachrichten des Deutschlandfunks und in christliche Medien geschafft hat: Eine Delegation des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) besucht Brüssel und führt dort Gespräche mit Europa-Politiker:innen und Vertreter:innen der NATO. Außerdem stehen auch Gespräche mit „hochrangigen Kommissionsbeamten und Diplomaten“ sowie „mit Vertreterinnen und Vertretern der europäischen Kirchen“ auf dem Programm, informiert eine Pressemitteilung der EKD von gestern.

Der Anlass

Die EKD steht im regelmäßigen Austausch mit den politischen Akteur:innen in Brüssel. Sie unterhält ein eigenes Büro in der belgischen Hauptstadt, die von der Europäischen Kommission angefangen zahlreiche europäische Institutionen beherbergt. Brüssel ist auch einer der Arbeitsorte des Europäischen Parlaments und Sitz des Hauptquartiers der NATO.

Drei Themen stehen im Vordergrund der Visite: Die Unterstützung der EU für die Ukraine, die EU-Asylrechtsreform und die europäische Lieferkettengesetzgebung. Auf diesen und weiteren europäischen Politikfeldern engagiert sich die EKD ausdauernd und intensiv. Im Auftrag des Rates der EKD und häufig im Verbund mit anderen christlichen Kirchen, z.B. im Rahmen der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) und der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), verfasst das Brüsseler EKD-Büro Stellungnahmen zu wichtigen politischen Themen und versucht durch Gespräche und Expertisen, Einfluss auf die europäische Gesetzgebung zu nehmen.

Neben der Ukraine-Hilfe ist in diesen Tagen vor allem die geplante Verschärfung des EU-Asylrechts ein akutes Thema. Der Flüchtlingsschutz an den EU-Außengrenzen soll massiv eingeschränkt werden. Es droht eine weitere Institutionalisierung des ohnehin häufig unrechtmäßigen Grenzregimes mittels einer neuen „Asylverfahrensordnung“: „Konkret bedeutet das, dass die Antragstellenden während des Verfahrens als nicht eingereist gelten und faktisch an der Grenze inhaftiert werden“, warnt der Migrationsexperte und Rechtsanwalt Matthias Lehnert in einem LTO-Interview.

Außerdem soll das Konzept der sog. „sicheren Drittstaaten“ ausgeweitet werden. „Damit soll es zukünftig einfacher werden, einen Asylantrag pauschal deshalb abzulehnen, weil die Person über einen anderen Staat nach Europa eingereist ist“, erklärt Rechtsanwalt Lehnert. Das Vorhaben sei „völkerrechtlich nicht zulässig“. Im Hintergrund steht auch das Ansinnen der Europäischen Kommission, Asylverfahren in Drittstaaten außerhalb der EU auszulagern.

Die Europäische Kommission mit ihrer Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU, evangelisch) arbeitet seit 2020 an einer Reform der EU-Asylgesetzgebung, zu der die Bundesregierung jetzt ihre Zustimmung erklärt hat – und sich damit von den im Ampel-Koalitionsvertrag verabredeten Zielen verabschiedet. Dort hatten die Koalitionäre von SPD, Grünen und FDP noch festgehalten, dass jedes Asylgesuch „inhaltlich“ geprüft werden müsse. Am 8. Juni treffen sich die Innenminister:innen der EU-Staaten in Luxemburg, um weiter zu verhandeln.

Die Warnungen

Der erneute Anlauf zur Verschärfung des Asylrechts fällt zusammen mit dem Gedenken an den sog. „Asylkompromiss“ von 1993, der eine jahrelange Debatte über die Einwanderungspolitik der Bundesrepublik Deutschland befrieden sollte. Die mediale Aufheizung des Konflikts hatte auch zu einer Eskalation rassistischer und fremdenfeindlicher Gewalt in Deutschland beigetragen. Am 29. Mai 1993 starben beim Brandanschlag von Solingen fünf Menschen (mehr dazu hier).

Am Freitag, den 26. Mai 2023, demonstrierten darum Aktivist:innen u.a. von ProAsyl in Berlin vor der Parteizentrale der SPD unter dem Slogan „Kein Asylkompromiss 2.0!“. Die SPD war vor dreißig Jahren nach langem Widerstand und heftigen internem Streit den sog. „Asylkompromiss“ mit der CDU/CSU eingegangen, der neben einer Grundgesetzänderung (Artikel 16a) auch die Arbeit an einem Einwanderungsgesetz vorsah. Doch das gibt es bis heute nicht. Die Ampel-Regierung hat mit dem „Chancen-Aufenthaltsrecht“ zwar gerade wieder einen Schritt hin zu einer Verbesserung der Migrationsgesetzgebung in Deutschland getan, zugleich setzt sie auf europäischer und nationaler Ebene weitere Verschärfungen durch.

Neben ProAsyl, das eine Petition „Wir wollen ein anderes Europa!“ gestartet hat, warnt auch der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) mit einem Offenen Brief an die Bundesregierung, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und die MinisterpräsidentInnen der Länder vor den Änderungen. Man stehe vor den „massivsten Verschärfungen des Flüchtlingsrechts seit Jahrzehnten“, erklären die Anwält:innen:

„Mit der Fiktion der Nicht-Einreise wird ein Zustand der Rechtslosigkeit statuiert. Dies wird mit der Einrichtung von Internierungslagern einhergehen. Flankierend dazu sollen auf nationaler Ebene Ausreisezentren geschaffen, Abschiebehaft ausgeweitet, die Liste sicherer Herkunftsstaaten verlängert und die Möglichkeiten des polizeilichen Zutritts zu Unterkünften zur Durchführung von Abschiebungen ausgebaut werden.“

Die Bundesregierung betreibe entgegen ihrer Ankündigung eine „Politik der Abschottung“, es gehe nicht um eine „weitere x-beliebige Verschärfungen des Asylrechts“. Die inzwischen 700 Unterzeichner:innen des Offenen Briefes warnen, die anvisierten Änderungen auf nationaler und europäischer Ebene stellten „das Recht von Geflüchteten, sie stellen den Rechtsstaat als solchen in Frage“.

Inhaltlich auf gleicher Linie, wenngleich im Ton weniger scharf, hat sich auch die Ratsvorsitzende der EKD, Annette Kurschus, beim Brüssel-Besuch zum Thema geäußert. „Es darf keine EU-Asylrechtsreform auf Kosten der Menschenrechte geben“, erklärte Kurschus. Verpflichtende Verfahren an den EU-Außengrenzen unterwanderten die Glaubwürdigkeit der Europäischen Asylpolitik, aus Flüchtlingsschutz drohe so „Schutz vor Flüchtlingen“ zu werden.

Statt einer weiteren Abschottung bedürfe es endlich „mehr sicherer und regulärer Wege in die EU“. Eine Forderung, die sich die europäischen Kirchen seit vielen Jahren zu eigen gemacht haben. „Statt mehr Grenzschutz, Haftzentren und die Aushöhlung des Asylrechts“ brauche es einen „verpflichtenden Verteilungsmechanismus“ für Geflüchtete innerhalb der EU: „Die unbürokratische Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge sollte hier für die EU-Reform Vorbildcharakter haben“, erklärte Kurschus weiter.

Zuvor hatte sich Kurschus bereits gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd) besorgt über eine Zunahme rechtspopulistischer Äußerungen in den Debatten über Flüchtlinge und Migration geäußert. Sie beobachte „eine Vernebelung der Sprache“, wenn „ein ‚Paket mit mobiler und stationärer Infrastruktur‘ zum Beispiel für Stacheldraht und Zäune steht“. Auch halte sie es für „brandgefährlich“, wenn im Kontext von Flucht von „Sozialtourismus“ gesprochen werde. Zuletzt hatte sich der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz dieser alten NPD-Floskel im vergangenen Jahr bedient.

Der „Geist der Wahrheit“

Statt einer weiteren Eskalation gesellschaftlicher Debatten wünscht sich die EKD-Ratsvorsitzende passend zum Pfingstfest den „Geist der Wahrheit“. Es gehe darum „populistische Sprache und Falschinformationen“ aufzudecken, dafür brauche es Räume, „in denen in guter Weise offen und kontrovers diskutiert werden könne“, erklärte Kurschus mit Blick auf den Deutschen Evangelischen Kirchentag, der vom 7. bis 11. Juni in Nürnberg und Fürth stattfinden wird.

Auf die Anwaltschaft der Kirchen für Geflüchtete verlässt sich nicht zuletzt auch der deutsche Staat. Im vergangenen Jahr haben tausende Familien und Einzelpersonen aus der Ukraine bei Christ:innen, Kirchgemeinden und in der Diakonie Obdach und Hilfe gefunden. Auch das Engagement für Geflüchtete aus außereuropäischen Ländern und für die Seenotrettung auf dem Mittelmeer geht unvermindert weiter. Damit beweisen die Kirchen gerade dort einen langen Atem, wo staatliche und politische Akteure sich einen schlanken Fuß machen.

Ob vom Kirchentag allerdings tatsächlich erneut ein Zeichen für eine menschenwürdige Migrations- und Flüchtlingspolitik ausgeht, wie es 2019 in Dortmund der Fall war, steht dahin. Damals hatte sich im Nachgang einer Petition auf dem Kirchentag des Bündnis #United4Rescue gegründet, das bis heute die dringend notwendige zivile Seenotrettung auf dem Mittelmeer unterstützt. Erst gestern berichtete Aljazeera vom Verschwinden eines Bootes mit 500 Flüchtlingen an Bord. Die Meldungen von Not und Elend an den EU-Außengrenzen dringen nur noch selten ins Bewusstsein der Bevölkerung.

Für eine europäische Asylrechtsreform im Sinne der kirchlichen Anwaltschaft, wird wird es nötig sein, die zivilgesellschaftlichen Kräfte Europas für eine andere, menschenwürdige Flüchtlingspolitik zu aktivieren (wir berichteten). Das Gewicht der Kirchen für diese Aufgabe sollte man nicht unterschätzen. Sie können als Lobbyisten bei den nationalen Regierungen und in Brüssel Druck machen und – wie man an #United4Rescue sieht – konkret eingreifendes Handeln unterstützen.

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