Bewegt sich die Kirche wirklich?

Die Kirchen fordern in den multiplen Krisen unserer Zeit Veränderungen in der Gesellschaft, nicht zuletzt beim Klimaschutz. Doch zu welchen innerkirchlichen Reformen sind sie tatsächlich bereit?

Die Kirche ist in Bewegung. Sie muss in Bewegung sein, weil das Evangelium als Umwälzung Kirche immer wieder verändert, Menschen immer wieder berührt und sie „zum aufrechten Gang im politischen Kampf“ (Rudi Dutschke) antreibt. Das Reich Gottes fängt an zu blühen in konkreten Kontexten, die sich verändern. Demnach: ecclesia semper reformanda est. Die Kirche muss immer wieder reformiert werden. Das gilt für ihre inhaltliche Ausrichtung, aber auch für ihre Organisationsstruktur und Rechtsauslegung. Auch das Kirchenrecht selbst ist ein Verständigungsprozess – nichts ist in Stein gemeißelt; alles ist stets im Fluss.

Aber ist die Kirche angesichts der gegenwärtigen Kipp-Punkte unserer Gesellschaft überhaupt willens sich selbst zu verändern? An drei dienst- und arbeitsrechlichen Fragestellungen lässt sich zeigen, dass die Beharrungskräfte für Veränderungen in der Kirche groß sind. Theolog*innen und Kirchenleitende treten für einen konsequenten Klimaschutz und Klimagerechtigkeit ein. Aber wie steht es um die Gerechtigkeit in der Kirche?

Ist das Streiken ein notwendiges politisches Mittel?

Die Herausforderungen unserer Gesellschaft sind gewaltig: Die Klimakataststrophe mit gravierenden Folgen für Mensch, Tier und Ökosysteme, der europaweite Rechtsruck, Aufrüstung in vielen Ländern, Verschärfung der sozialen Spaltung und ein überaus marodes Gesundheitssystem, das seine Mitarbeitenden auf Kante gehen lässt. Die Frohe Botschaft will mit engagierten Menschen in diesen Krisen befreiend hineinwirken.

Es wäre grundlegend zu überlegen, ob Kirche und Diakonie gerade im Gesundheitsbereich nicht viel stärker bei den politischen Entscheidungsträgern heilsam „anecken“ und durch Petitionen, Stellungnahmen und Demonstrationen politischen Druck ausüben könnten. Auch neue Netzwerke wie eine solidarische Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften wären zu überdenken. Die Kirchen müssen auch ihre ablehnende Haltung zum Streikrecht überprüfen. Franz Segbers erklärt:

„Wenn die kirchlichen Arbeitgeber gerechte Arbeitsverhältnisse aushandeln wollen, brauchen sie einen Verhandlungspartner auf Augenhöhe, der auch den Streik als letztes Mittel einsetzen kann. Das Streikverbot in den Kirchen ist weder sozialethisch noch theologisch zwingend.“

Das Streikrecht ist (neben dem Recht, Gewerkschaften zu gründen) im sogenannten Sozialpakt der Internationalen Arbeiterorganisation der Vereinten Nationen fest verankert (Sozialpakt Artikel 8). Dieser internationale Pakt versteht sich als völkerrechtlich verbindliches Regelwerk der sozialen Menschenrechte. Inwiefern spielt ein solches Werkzeug auch im Raum der Kirche eine Rolle? Wäre es denn nicht sinnvoll, den eigenen Mitarbeitenden so viel Handlungsmacht wie möglich zu geben?

Die Kirche und kirchliche Arbeitgeber*innen könnten an dieser Stelle aufgrund der gesellschaftlichen Tipping Points vielleicht sogar noch progressiver sein: Der politische Streik, der sich also nicht branchenbezogen um Tarifverhandlungen dreht, sondern umfassend politisch ist, gilt seit dem Zeitungsdruckerstreik 1952 in der BRD als illegal.

„Er richtete sich gegen den Entwurf eines neuen Betriebsverfassungsgesetzes, wie ihn die CDU/CSU-Bundestagsfraktion 1950 eingebracht hatte. Das Gesetz sollte festschreiben, dass Betriebsräte nur bei sozialen Angelegenheiten mitreden durften. Über die Ausrichtung der Unternehmen sollten dagegen die Eigentümer entscheiden: Sie sollten zwei Drittel der Sitze in den Aufsichtsräten bekommen, der Rest für die Vertreter der Beschäftigten. Die Rolle der Gewerkschaften beschränkte sich nach diesem Modell darauf, mit den Unternehmerverbänden Tarife auszuhandeln.

Die Gewerkschaften wollten aber viel mehr als nur ein bisschen mitreden. Sie wollten eine neue Wirtschaftsordnung. Die Kernforderungen beim Gründungskongress des DGB 1949 lauteten: Mitbestimmung der Arbeitnehmer in allen Fragen und auf allen Ebenen sowie Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum. Das war die Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg, in dem die Großindustrie den Krieg angeheizt und von ihm profitiert hatte.“

Seit dem Zeitungsstreik ist der politische Streik in Deutschland juristisch rechtswidrig. Die Gremien des Europarats kritisierten bereits mehrfach, dass ein solcher Ausschluss des politischen Streiks nicht kompatibel mit der Sozialcharta der EU ist. Was wäre, wenn kirchliche Arbeitgeber*innen in diesem Feld progressiv sind und sich dafür einsetzen würden? Gibt es hier ein Potential, dass Kirche ihre Verantwortung für Schöpfungsbewahrung und Gerechtigkeit noch stärker wahrnehmen kann? Es geht um politische Streiks, die sich für echte Transformationsbemühungen im Gesundheitsbereich und in der Klimakrise einsetzen würden, um den politischen Druck zu erhöhen.

Auch die Fridays-for-Future-Bewegung war von ihrem Ursprung her eine Art politischer Streik. Die Schüler*innen widersetzten sich dem staatlich verpflichtenden Schulbesuch. Als Schulstreik wurde die Fridays-for-Future-Bewegung vom Staat gebilligt und hat große Massen für Klima und Nachhaltigkeit mobilisieren können – jedenfalls vor der Corona-Pandemie. In solchen Streiks politischer Art liegt zumindest eine Chance, Veränderungsdruck auf politische Entscheidungsträger*innen aufzubauen und Tipping Points tatsächlich anzugehen.

„Schafft es der politische Streik, Lohnabhängige über Branchen- und Betriebsgrenzen hinaus zu mobilisieren, kann er die Grundlage für ein neues kollektives Bewusstsein bilden, das die klassenspezifischen Ursachen sozialer Ungleichheit und Umweltzerstörung im Kapitalismus in das Zentrum politischer Forderungen rückt.“ (Janina Puder; Kim Licht in der Zeitschrift sozialismus.de)

Politischer Druck ist wichtig. Wie wir ihn gestalten, darüber sollten wir auch in den Kirchen sprechen und dann tatkräftig werden: Denn die Zeit, heilsame Veränderungen zu bewirken, wird für unsere Schöpfung und für unser Zusammenleben immer weniger. Im Abschlussgottesdienst des Evangelischen Kirchentages 2023 hieß es von Pastor Quinton Ceasar sehr spitz: „Wir sind die letzte Generation!“ Wenn das auch nur ansatzweise wahr ist, müsste doch das Evangelium in kirchlich-diakonische Verbände als progressive Umwälzungskraft noch stärker in Erscheinung treten. Vielleicht bietet der politische Streik hierzu eine Möglichkeit.

Ist das Konzept der Dienstgemeinschaft noch tragbar?

In dieser Linie weiterdenkend müsste selbstkritisch auch das Konzept der „Dienstgemeinschaft“ wenigstens überprüft werden. Es wurde arbeitsrechtlich insbesondere im Nationalsozialismus eingeführt, um Gewerkschaften machtpolitisch zu verdrängen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Diakonie diesen Terminus aufgegriffen und dann theologisch legitimiert. Hermann Lührs hat hierzu einen aufschlussreichen Artikel verfasst. Entspricht es tatsächlich noch der frohen Botschaft des Evangeliums, sich diesem Konzept arbeitsrechtlich zu verpflichten?

Der Theologe und Sozialethiker Hartmut Kreß sieht im Terminus „Dienstgemeinschaft“ eine Art Kampfbegriff der Kirchen, um Machtpositionen zu stabilisieren. Auch in einem Gutachten vor fast 10 Jahren deckte Kreß zahlreiche Widersprüchlichkeiten des kirchlichen Arbeitsrechts auf. Zum Beispiel bejahen kirchliche Stellungnahmen das Streikrecht für den außerkirchlichen Bereich, aber innerinstitutionell wollen sie das Streiken nicht zulassen.

Gewiss gibt es gute Gründe für die Dienstgemeinschaft. Sie soll Konsensfindung in einem kirchlichen Haus ermöglichem, ein Streik soll nicht zu Lasten der Patient*innen gehen usw.. Aber: Eine kritische Auseinandersetzung muss zumindest auf den Tisch, denn es geht um die Authentizität christlicher Lebenspraxis und die Verpflichtung, die frohe Botschaft allen Menschen weiterfließen zu lassen. Dienen die gegenwärtigen kirchlichen Regelungen der Gerechtigkeit oder wird durch sie Ungerechtigkeit sogar stabilisiert?

Wenn nach einer solchen fundierten Diskussion dennoch weiterhin am Konzept der Dienstgemeinschaft festgehalten werden sollte, muss sie im vollen Maße ernst genommen werden: Die Praxis, bestimmte Arbeitsfelder outzusourcen (etwa Putz- und Reinigungskräfte), sie also jenseits der Dienstgemeinschaft zu stellen, gilt es kritisch zu bewerten. Warum sollten Reinigungskräfte nicht Teil der Dienstgemeinschaft sein?

Ist die kirchliche Verbeamtung ein unsolidarisches System?

Auf vielen unterschiedlichen Handlungsfeldern steht die Kirche in der Gefahr, den bestehenden (neoliberalen) Ausgangsrahmen unhinterfragt zu bedienen und zu verstärken (s. „Kirche an sozialen Kippunkten“, „Tipping Point“ Juli 2023). Dadurch werden Ungerechtigkeit, soziale Schieflagen und letztlich ökologischer Raubbau stabilisiert. Die Ursachen von „Tipping Points“ werden so zu wenig angegangen.

Hinzu kommen inner-institutionelle Logiken der Kirche, die eine befreiend-emanzipatorische Praxis zumindest behindern können. Ein Beispiel dafür ist etwa das kirchliche Beamtentum bei Pfarrer*innen. In Hinblick auf die allgemeine Rentenkasse ist die Verbeamtung eine unsolidarische Praxis. Gerade diejenigen, die viel verdienen, zahlen nicht in das solidarische System ein. Das ist ein theologisches Problem, wenn sich Kirche aufgrund des Evangeliums gerade für die Armen der Gesellschaft einsetzen will. Bis heute wird das Beamtenverhältnis kirchenrechtlich vor allen Dingen mit der Freiheit der Evangeliumsverkündigung begründet. Pfarrer*innen seien unabhängig, gerade weil sie ökonomisch völlig abgesichert und schwerer zu kündigen sind. Bedeutet dies im Umkehrfall, dass Gemeindepädagog*innen und Kirchenmusiker*innen unfrei sind? Christian Grethlein ist zumindest der Meinung:

„Das Beibehalten öffentlich-rechtlicher Dienstverhältnisse mit ihren potenziell Jahrzehnte umfassenden Pensionsverpflichtungen stellt den staatsanalogen Status quo von Kirche auf Dauer und behindert heute und zukünftig notwendige Kontextualisierungen.“ (Christian Grethlein, Kirchentheorie. Kommunikation des Evangeliums im Kontext, 297).

Es besteht die Gefahr, dass durch die Verbeamtung von Pfarrer*innen eine sozio-ökonomische Kluft betoniert wird und die Kirche auch deshalb zu bestimmten Milieus und Klassen keinen befreiend-relevanten Bezug mehr findet. Die eigene pfarramtliche Perspektive wird immer auch vom sozio-ökonomischen Hintergrund geprägt. Das bedeutet jedoch wiederum nicht, dass alle Kleriker*innen im Sinne des Heiligen Franziskus leben müssten. Aber ein progressiver Diskurs als ecclesia semper reformanda ist angebracht.

Es gibt andere Wege als eine eigene – spitz ausgedrückt – Pfarrer*innen-Klasse aufzustellen, die trotz finanzieller Absicherung einer ständigen Gefahr von Überlastung und Burn-Out ausgesetzt ist. Es gibt Arbeitsmodelle, bei denen Pfarrer*innen mehr Freiheiten und Erholungsphasen zugestanden werden, z.B. durch eine Entschlackung der Arbeitszeit. In Norwegen arbeiten Pfarrer*innen 35,5 Stunden pro Woche und rechnen per App ihre Arbeitszeit ab. (Link: ). Sie dürfen sogar streiken. Ob und wie so etwas in unseren Breitengraden umsetzbar ist, muss überprüft werden.

Was bleibt?

Natürlich haben bestehende Strukturen immer ihre auch Gründe. Sie sind nicht zufällig so gewachsen, wie sie sich uns heute darstellen. Sie gaben und geben Sicherheit. Sich von manchen Traditionen des kirchlichen Dienst- und Arbeitsrechts zu trennen, fällt schwer. Was käme denn, wenn man es ganz anders machen würde? Das ist ungewiss.

Gewiss ist aber, dass wir uns in vielen Kipp-Punkten befinden, die Natur aufschreit, das Meer in Plastikmüll versinkt, die Arbeit im Gesundheitsbereich vor großen Herausforderungen steht und Kirche einerseits achtsam und andererseits mit voller Kraft darauf zu reagieren hat. Was bleibt? Gottes Zusage bleibt, dass Kirche und Christenmenschen nicht allein sind und dass sie gerade deswegen aufgefordert sind, aufzustehen und mit Mut vorwärtszugehen. Das ist Gottes befreiender Anspruch an unser Leben.


Kolumne „Tipping Point“

In unserer Kolumne „Tipping Point“ schreibt Tobias Foß über die sozial-ökologische Transformation. Welchen Beitrag können Christ:innen und Kirchen leisten? Welche Probleme müssen bewältigt werden? Welche Kipppunkte gilt es in Theologie und Glaubensleben wahrzunehmen?

Mit „Tipping Point“ wollen wir in der Eule an Fragestellungen im Licht der Klimakrise dranbleiben. Dabei stehen nicht allein Klima- und Umweltschutz im Zentrum, sondern auch die Auswirkungen von Klimawandel und Umweltzerstörung auf unser Zusammenleben. Die Klimakrise verändert schon jetzt unsere Gesellschaft(en). In „Tipping Point“ geht Tobias Foß diesen Veränderungen auf den Grund und beschreibt Ressourcen und neue Wege.

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