Bild: Montage (Ausschnitt aus Fragmente & Foto von Ghostwriter123 (Wikipedia), CC BY-SA 4.0
Kirche

Carsten Rentzing: Das steht in den „Fragmente“-Texten

Sie sind der Auslöser für den Bischofsrücktritt: Die Texte, die Carsten Rentzing vor bald 30 Jahren für die Zeitschrift Fragmente geschrieben hat. Was steht in ihnen eigentlich drin?

Am vergangenen Freitag hat der Sächsische Landesbischof, Carsten Rentzing, seinen Rücktritt angeboten (wir berichteten). Der Rücktritt erfolgte nach einer Sitzung der Kirchenleitung, auf der Rentzing mit Texten konfrontiert wurde, die er für die neurechte Zeitschrift Fragmente (1989-1992) geschrieben hatte.

Seit einer Erklärung des Landeskirchenamtes von Sonntag wissen wir, dass er auf der Sitzung „großes Unverständnis und Scham über das, was er damals geschrieben hat“ äußerte. In seiner Rücktrittserklärung schrieb der Bischof: „Positionen, die ich vor 30 Jahren vertreten habe, teile ich heute nicht mehr.“ Diejenigen, die behaupten, der Bischof wäre aufgrund seiner konservativen Überzeugungen aus dem Amt „gemobbt“ worden, liegen nach heutigem Kenntnisstand also falsch, was den Auslöser des Rücktritts angeht.

Kontinuitäten und Diskontinuitäten

Die wichtigste Erkenntnis nach einer ausführlichen Lektüre der Fragmente-Texte Rentzings wird jedoch keiner der gegenwärtigen Konfliktparteien richtig gefallen. Die Fragmente-Texte zeigen keinen ganz anderen Rentzing, sondern stehen in erstaunlicher Kontinuität zu den Positionen, die er auch als Bischof vertreten hat. Die Artikel sind wohl der unmittelbare Grund für seinen Rücktritt, aber sie offfenbaren keinen grundstürzend anderen Carsten Rentzing.

Wenn Carsten Rentzing 1991 in einer Rezension von Johannes Wirschings „Kirche und Pseudokirche. Konturen der Häresie“ schreibt, dass ..

“ […] die von der Kirche verkündigte christliche Wahrheit, […] unabhängig von ihr existiert und durch sie nur angeeignet, nicht aber bestimmt werden kann“,

dann ist damit genau jene theologische Argumentationsfigur ins Feld geführt, die er und seine Mitstreiter von der Sächsischen Bekenntnisinitiative während des Streits um Anerkennung homosexueller Paare (im Pfarrhaus) in der Sächsischen Landeskirche nutzten. Sie findet sich heute auch bei röm.-kath. Akteuren, die sich gegen Reformen wenden.

Dass sich die Kirche neue Ordnungen nur im Rahmen einer längst offenbar gewordenen ewigen Wahrheit geben kann, dass der Inhalt der christlichen Verkündigung „nicht von einem Generalkonsens der Gemeinde“ abhängt, ist eine Position konservativer Theologie. Sie negiert auch die Möglichkeit, aus den identischen Quellen zu neuen Erkenntnissen vorzudringen.

In der gleichen Rezension ulkt Rentzing über „Ureinwohner“, die um einen christlichen Altar „hüpfen“ und bezeichnet die Feierabendmahle auf Evangelischen Kirchentagen als Zeichen des nahenden Weltuntergangs und Häresie.

In einem „Phönix“ überschriebenen Artikel (s.u.) schreibt Rentzing ebenfalls 1991:

„Daß ein Staat, in dem eine über 15jährige Militärherrschaft (Chile), die einige tausend Opfer verursachte, menschenverachtend geheißen und mehr verurteilt wird als 10 000 (!) Abtreibungen pro Woche im eigenen Lande […] dem Untergang geweiht ist, dürfte kaum bezweifelt werden.“

Rechnet man die von Rentzing sogar mit Ausrufezeichen versehene Zahl auf ein Jahr noch, ergibt sich die grotesk übertriebene Zahl von 520 000 Abtreibungen. Tatsächlich wurden im Jahr 1990 ca. 145 000 Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt (1991: 124 000). In den Jahren seither ist die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche gesunken, seit 2013 pendelt die Gesamtzahl rund um 100 000 Abbrüche jährlich.

Der „Lebensschutz“, d.h. die Kritik an Schwangerschaftsabbrüchen, ist Carsten Rentzing bis heute ein Anliegen. Er schreibt regelmäßig Grußbotschaften an Lebensschutz-Veranstaltungen. In einer Grußbotschaft für den „Schweigemarsch für das Leben“ 2018 schrieb Rentzing vom Skandal von „400 Abtreibungen pro Werktag in Deutschland“. Bei im Durchschnitt 250 Arbeitstagen ergäbe eine Hochrechnung auf das gesamte Jahr 100 000 Fälle. Immerhin bedient er sich heute nicht mehr falscher Angaben.

Seine Grußbotschaft an den „Marsch für das Leben“ 2019 von September diesen Jahres enthält aber noch eine weitere Denkfigur Rentzings, die aus Fragmente-Tagen bekannt ist. Er schreibt:

„Weder harte Gesetze noch liberalere Regelungen haben in der Vergangenheit daran [dass Ungeborenen das Lebensrecht bestritten wird] etwas ändern können. Als Christen bleibt uns das persönliche Vorbild und das Gebet. Lassen sie sich daran erinnern, dem Gebet große Vollmacht und Kraft zuzutrauen Menschenherzen zu verwandeln.“

Und im „Phönix“-Text aus der Fragmente:

„Worin aber kann dann unsere Aufgabe bestehen? Untergangsstimmung aus Selbstzweck zu verbreiten, dürfte wohl ebensowenig unsere Berufung sein wie die Erhaltung, Stützung oder Stabilisierung kranker Strukturen. Was krank ist, muß absterben, um einer Erneuerung Platz zu machen. Den Sturz des Phönix zu beschleunigen ist gewiß nicht unsere Bestimmung, sehr wohl hingegen das Ewig-Tragende, das Zeitlos-Immerwährende durch die Flamme hindurch in die Zeit seines Wiederaufstiegs hinüberzuretten.“

In dieser Passage kommt, wie in anderen Artikeln Rentzings, die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Aufgabe eines neuen „Konservatismus“ nicht in der tätigen Arbeit für Veränderung besteht – wie es im Begriff „Revolution“ zum Ausdruck kommt -, sondern in einem geduldigen Abwarten auf eine Zeitenwende, bis zu der durchgehalten werden muss („Untergang des Abendlandes“).

Glosse „Phönix“ von Carsten Rentzing in der Zeitschrift fragmente von 1991

Rentzing und die „Konservative Revolution“

Darin kommt durchaus eine kleine Differenz zum sonst üblichen Denken der „Konservativen Revolution“ zum Ausdruck. Rentzing geht davon aus, dass es erst zu einem Zusammenbruch der bestehenden demokratischen Systeme kommen muss, bevor an einen „konservativen“ Neubeginn zu denken ist.

„Der Verfall ist um uns und es ist keinesfalls sicher, daß es sich nicht um einen herkömmlichen immanenten Degenerationsvorgang einer Kultur handelt, die ihrer Nährquellen beraubt dem kraftlosen Ende entgegenwankt. Ist es denn aber überhaupt noch sinnvoll oder auch nur möglich, dem von uns aus entgegenzusteuern?

Daß der Bundeskanzler Spengler aufgrund der „großartigen Zukunftsperspektiven der EG“ für widerlegt hält, wird uns kaum daran hindern, den „Untergang des Abendlandes “ als eines der wesentlichsten Werke der Kulturphilosophie anzusehen. Wenn wir aber Spengler ernstnehmen, müssen wir uns dann nicht dem zwangsläufigen Schicksal fügen?

Welchen Sinn hat dann noch unser Widerstand gegen die Verwurmung des Menschen, des zur Grimasse seiner selbst herabgesunkenen, sich im Staube windenden ehemalig Schaffenden?“

Ganz im intellektualisierten Duktus der „Neuen Rechten“, der heute vor allem in den Publikationen aus Schnellroda anzutreffen ist, lobt Rentzing hier nicht nur Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“, ein Hauptwerk der „Konservativen Revolution“, sondern stimmt in den Chor ein, der sich schon damals – nur eben weniger öffentlich als heute – von „Massenimmigration“ und „Pluralismus“ bedroht sah.

Es sind wohl diese Positionen und vor allem auch die verwendeten Sprachfiguren, von denen sich der Landesbischof in seiner knappen Rücktrittserklärung distanziert. Denn ein qualitativer Unterschied zur Haltung Rentzings als Landesbischof findet sich tatsächlich in der Demokratieverachtung und in positiven Bezugnahmen auf Vorbilder der „Neuen Rechten“ wie Oswald Spengler, die in den Fragmente-Texten allgegenwärtig sind.

In einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur sagte Carsten Rentzing 2015:

„Ausländerfeindlichkeit, Menschenverachtung, die Entwürdigung von Menschen, Hass und Ablehnung anderen gegenüber, gerade solchen Menschen gegenüber, die Hilfe und Schutz suchen, sind Dinge, die mit unserem christlichen Glauben nicht zu vereinbaren sind.“

Zwar sind seine Fragmente-Texte nicht mit einer oberflächlichen Ausländerfeindlichkeit zu verwechseln, aber in ihrem Licht erscheint das Bekenntnis des Bischofs im Interview mit der Leipziger Internet Zeitung vom 6. Oktober diesen Jahres als zumindest erklärungsbedürftig. Dort sagte er:

„Mein ganzes Leben lang ist mir nationalistisches, antidemokratisches und extremistisches Denken immer fremd geblieben.“

„[…] ich habe es immer vermieden, mich politisch in einem Lager zu verorten“

Im bereits von Arnd Henze auf tagesschau.de zitierten Aufsatz „Staat und Demokratie: Eine unzeitgemäße Betrachtung“ von 1990 kritisiert Rentzing die Pluralisierung innerhalb einer demokratischen Rechtsordnung und zweifelt das demokratische Prinzip der Selbstvertretung des Einzelnen an:

„Die offensichtliche Aufbürdung von politischer Verantwortung auf jeden einzelnen Bürger ohne Berücksichtigung seiner Fähigkeiten und auch Interessen muß diesen weit überfordern.“

„Das einmal erweckte Individuum wird sich nicht wieder in die Unmündigkeit zurückführen lassen, und darauf kann es auch kaum ankommen. Entscheidend bleibt nur, daß der durch die Renaissance und noch viel mehr durch die Aufklärung verstellte Blick auf die Unzulänglichkeit und prinzipielle Schwäche des nicht gebundenen Individuums wieder freigelegt wird.“

Auch der politische Autor Rentzing ist und bleibt lutherischer Theologe: Dass der Mensch zu jedem Zeitpunkt auf die „Vertikale“ angewiesen ist, d.h. die Gnade und Leitung Gottes, weil er als Sünder überhaupt nicht aus sich selbst heraus handeln kann, ist bestimmend auch für Rentzings Denken über Staat und Gesellschaft. Rentzing überspitzt das lutherische „sola gratia“ zu einer „Erniedrigung“ des Menschen, dem prinzipiell zu misstrauen und pessimistisch zu begegnen ist.

Kreuzzug für den „Konservatismus“

Dieses Misstrauen ist auch die Quelle des Anti-Pluralismus, den Rentzing in einem weiteren Text vertritt. In einer kurzen Glosse zu „Werbung, Sprache, Zeitgeist“ von 1991 schreibt er, der Pluralismus in der Gesellschaft sei „durch fehlende bzw. bewußt vernichtete geistig-moralische Autoritäten“ erzeugt worden. Und weiter:

„Kulturelle Hegemonie wird nicht über Werbung erzeugt, sie muß sich im Kampf der Geister um die Wahrheit an der Basis einstellen. Diesen Kampf zu führen, verlangt allerdings mehr, als aus dem Wohnzimmer heraus über der Welt zu verzweifeln. Es wird schon eines neuen „deus lo volt“ [sic!] bedürfen, um den Konservatismus in diesem Lande aus der Nische für exotische Minderheiten wieder herauszuführen.“

Den Kampf  im „vorpolitischen Raum“ führen heute die „Neuen Rechten“ um Götz Kubitschek (Schnellroda), der im Anschluss an eine Idee des marxistischen Philosophen Antonio Gramsci davon ausgeht, dass politische Veränderungen erst möglich werden, wenn die bestehende „kulturelle Hegemonie“ der Linken durch eine „konservative“ ersetzt wird. Darum findet der Kampf der „Neuen Rechten“ vornehmlich in Schreibstuben, Verlagen und auf Buchmessen statt – ein Kampf an dem sich Rentzing zu seinen Studienzeiten aktiv beteiligt hat.

Rentzing geht 1991 davon aus, dass es eines Kreuzzuges bedarf, um in diesem Kampf zu siegen. „Deus lo vult“ („Gott will es!“) antwortete die Menschenmenge, als Papst Urban II. auf der Synode von Clermont zur Befreiung Jerusalems und damit zum ersten Kreuzzug aufrief. Es ist auch heute gängiges Schlagwort reaktionärer Christen und z.B. in den Äußerungen erzkonservativer Katholiken allgegenwärtig.

Mehr als seltsame Texte

Rentzings Fragmente-Texte zeugen von einem für einen jungen Studenten erstaunlichen Talent zur Abstrahierung und zur akademischen Sprache. Die meisten seiner Texte sind weder komplett harmlos, noch für sich genommen inkriminierend. Sie müssen als Äußerungen eines Autors, der mit der Ideologie der „Neuen Rechten“ vertraut ist, und eines konservativen lutherischen Theologen gelesen werden. Zumindest letzteres ist Rentzing bis heute geblieben.

Es wäre aber zu kurz gegriffen, in eine Bewertung seiner Tätigkeit für die Fragmente allein die Analyse seiner Artikel einfließen zu lassen. Rentzing war nicht allein als Autor, sondern auch als Interviewer, Redakteur und Mitherausgeber für Fragmente tätig. Er verantwortete darum auch Fragestellungen und Vorworte, mithin Zusammenstellung und Ausrichtung der Zeitschrift mit.

Es bleibt Carsten Rentzing vorbehalten, seine Mitarbeit bei Fragmente und seine damalige Nähe zur Ideologie der „Neuen Rechten“ so zu erklären, dass die von ihm in seiner Rücktrittserklärung behauptete Diskontinuität zu damals glaubwürdig erscheint.