Christen und die Euthanasie: Belastende Erinnerungen

Die Erinnerung an die Euthanasie-Morde in Nazi-Deutschland und die mutigen Predigten Clemens August von Galens führt zu unbequemen Lehren der Geschichte, die für die Debatten unserer Zeit relevant sind.

„Es reicht nicht, auf der einen Seite die vielen Opfer zu beklagen und auf der anderen rund 500 Nazitäter als gewissenlose Ideologen, Bösewichte oder Mörder im weißen Kittel zu verteufeln. Auf Dauer bedeutsam, vielleicht lehrreich bleibt die Frage nach den gesellschaftlichen Verhältnissen, nach jener Vielzahl von Menschen, die zwischen den unmittelbaren Mördern und den Ermordeten standen.“
(Götz Aly: „Die Belasteten“, S. 14)


In diesem Jahr jähren sich die regimekritischen Predigten des damaligen katholischen Bischofs von Münster, Clemens August von Galen, zum achtzigsten Mal. Jubiläen wie dieses sind Anlass genug für Kirche und Theologie, die wenigen prominenten Beispiele für widerständiges Verhalten während des Nationalsozialismus aus ihren Reihen zu bedenken und zu würdigen.

Jedenfalls werden zu Bonhoeffer-Geburts- und Todestagen, zu Galens Predigten und auch zur Frömmigkeit der Widerstandsikone Sophie Scholl in christlichen Medien regelmäßig Beiträge verfasst. Dass katholische Bischöfe und Priester die Waffen der Wehrmacht segneten, protestantische Theologen den Massenmord an den Juden ideologisch vorbereiteten und evangelische Landeskirchen dem Regime bereitwillig die Hand reichten, wird demgegenüber weniger gerne erinnert.

Galens Verdienst: Unterbrechung des Mordens, Aufdeckung des Undurchsichtigen

Nicht so bei Galens Predigten, die durchaus Wirkung hatten: Denn die NS-Führungsschicht empfand es nach seiner Predigt vom 3. August 1941 (hier in voller Länge) als zu gefährlich für die Stimmung an der Heimatfront, den als „Aktion T4“ durchgeführten Mord an Geisteskranken und Behinderten fortzusetzen. Jedenfalls für kurze Zeit.

Ab 1940 hatte man in einem Zeitraum von anderthalb Jahren ca. 70 000 geisteskranke Erwachsene, aber auch Jugendliche und selbst Kinder in Gaskammern ermordet. „Der Einzige, der, wenn auch spät, die Situation durchschaute und, von christlich-fundamentalen Grundsätzen geleitet, zu einem der Situation angemessenen und wirksamen Protest fand, war Clemens August Graf von Galen“, schreibt Götz Aly in seinem Buch „Die Belasteten“ über die Euthanasie-Morde während des Nationalsozialismus. „Mit vollem persönlichem Einsatz und dem Gewicht seiner Autorität zeriss er für einen Moment den über das Morden gebreiteten Schleier des Schattenhaften und Undurchsichtigen. […] Er brachte die Führer des Staates in Bedrängnis und die vielen Deutschen in Verlegenheit, die lieber Nicht-so-genau-Wissende bleiben wollten“.

Doch schon bald wurde weiter gemordet. In fast allen psychatrischen Krankenhäusern des Reiches und in den annektierten Gebieten wurden Krankenbetten während des „totalen Krieges“ für deutsche Umsiedler, Wehrmachts-Lazarette und für Opfer der alliierten Bombardements „freigemacht“. In der zweiten Phase der Euthanasie-Morde ließ man Geistesschwache, psychisch Kranke, traumatisierte Opfer von Bombenangriffen und geistig und körperlich behinderte Menschen verhungern und an ihren Krankheiten krepieren, half mit Medikamenten nach.

Gaskammern, wie es sie in der ersten Phase der Euthanasie-Morde auf dem Sonnenstein in Pirna, in Bernburg und Hadamar gegeben hatte, waren dafür nicht mehr notwendig. Die TäterInnen waren die ÄrztInnen und Schwestern, die zur Pflege der PatientInnen berufen waren. Von 1939 bis 1945 wurden mehr als 200 000 wehrlose Menschen umgebracht.

Belastende Erinnerung

Dass Galens Predigten der Erinnerung würdig sind, erklärt sich vor allem durch einen Perspektivwechsel: Er stand mit seiner offensiv und deutlich für alle Gläubigen verständlichen Kritik nämlich nicht stellvertretend für die Kirchen des Landes, sondern auf einsamen Posten – sowohl im Kreise der katholischen Bischöfe als auch als Vertreter der großen christlichen Kirchen. Sich dessen zu erinnern, bleibt auch 80 Jahre später wichtig.

Andere Kirchenmänner schrieben Eingaben und Protestnoten an Minister und NSDAP-Parteifunktionäre, die erst im Zuge der Entnazifizierung zum Zwecke der eigenen Entlastung das Licht der Öffentlichkeit erblickten. „Der Bischof von Münster blieb allein“, stellt Aly fest. „Sieht man von der deutlich schwächeren Predigt des Berliner Bischofs Konrad von Preysing ab, so folgte kein weiterer katholischer Bischof seinem Beispiel. Die Spitzen der protestantischen Kirchen Deutschlands erwogen nicht einmal, ihren noch starken gesellschaftlichen Einfluss von den Kanzeln herab geltend zu machen.“

Aly hält in „Die Belasteten“ eine für den protestantischen Umgang mit Nazi-Verbrechern typische Episode fest: „Nachdem Karl Brandt, Hitlers Beauftragter für die Euthanasieverbrechen, 1947 im Nürnberger Ärzteprozess zum Tode durch den Strang verurteilt worden war, reichte die Direktion der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel ein Gnadengesuch ein.“ In Bethel hatte Brandt, im Einvernehmen mit dem Anstaltsleiter Friedrich von Bodelschwingh, Star der Bekennenden Kirche und vormals designierter Reichsbischof, im Jahre 1943 das Haus Mahanaim geräumt, „die Patienten verbrachte man über Gütersloh nach Meseritz-Obrawalde“, in eine Todesanstalt. Ein anderer NS-Bericht, den Aly zitiert, zeigt, dass sich in den diakonischen Vorbild-Anstalten in Bethel zügig und genau an die Vorgaben des NS-Regimes gehalten wurde: „[N]icht arbeitende Kranke [würden] deutlich schlechter verpflegt als arbeitende und Frauen schlechter als Männer.“

Die Erinnerung an Galens Predigt sollte also als einen Erkenntnisgewinn zumindest austragen, dass widerständige Äußerungen und Handlungen während des Nationalsozialismus im Gegensatz dazu sehr wohl möglich waren. Gerne verstecken sich die Deutschen hinter der Vorstellung vom Nationalsozialismus als einer alle gesellschaftlichen Ritzen durchdringenden Gesinnungs- und Überwachungsdiktatur, gegen die ein Aufbegehren auch lokal und punktuell nicht möglich war. Dem war mitnichten so, wie nicht zuletzt die Rücksichtnahme auf konfessionelle, besonders katholische Befindlichkeiten im Rahmen der Euthanasie-Politik zeigt.

Götz Aly vermutet gut begründet, dass die Planer des Mordens durchaus sensibel mit Einrichtungen in katholischen Regionen, konfessionellen Kliniken und PatientInnen aus frommen Familien umgingen. Wo sich im Einzelfall Widerspruch von Angehörigen regte, wurde zurückgerudert. Um das Projekt als Ganzes nicht zu gefährden, sollte vor allem in der Öffentlichkeit nicht über das Morden diskutiert werden. Aus dem katholischen Münsterland und Westfalen erwartete das Regime wenig Zustimmung für die Euthanasie, tatsächlich widersprach ihnen vom Bischofsstuhl Münsters aus ein konservativer Bischof.

Ein erz-konservativer Mahner an die Gebote Gottes

Wer Galens Predigt vom 3. August 1941 liest, wird feststellen, dass er ebenso über „freien Geschlechtsverkehr“ und eine „Schamlosigkeit in der Kleidung“ schimpfte, die „Vorbereitung späteren Ehebruchs“ sei. Seine Perspektive sind, und zwar nicht allein in dieser Predigt, die Gebote Gottes. Heute würde man Galen wohl zum rechten Flügel, zu den „Erz-Konservativen“ seiner Kirche zählen. Es stimmt nachdenklich, dass von den „liberalen“ Bischöfen niemand derart Fürsprache für die Euthanasie-Opfer hielt.

Für einige Protestanten wird man wohl auch behaupten können, dass sie der Euthanasie, wie sie seit dem Kaiserreich gerade unter Progressiven im Bürgertum, aber auch in der Sozialdemokratie diskutiert wurde, Positives haben abgewinnen können. Mag ihre Motivation auch in einer „Wissenschaftlichkeit“ und „Besserung der Pflege“ von geistig- und körperliche behinderten Menschen und nicht in der nationalsozialistischen Rassenhygiene begründet gewesen sein, vielfach ließen sie sich doch von der „Humanität“ des Tötens überzeugen.

Es hat sich in den letzten Jahren vermehrt eingebürgert, als Nachgeborene mildere Urteile über die Deutschen der NS-Zeit sprechen oder sich ihrer gar gänzlich zu enthalten, die Deutschen gar als Verblendete und Verführte zu Opfern der NS-Politik zu stilisieren. Dazu gibt es wenig Anlass, wenn man sich einmal davon löst, den Nationalsozialismus und seine beispiellosen Verbrechen vor allem als Fanal der ideologischen Verführbarkeit des Menschen zu begreifen.

Die Rolle der Angehörigen: Zum Wegschauen eingeladen

In einem Nachwort zu seinem Buch „Hitlers Volksstaat“, in dem er die Loyalität des deutschen Volkes zum Regime vor allem mit dem Nießnutz am Raub- und Massenmord erklärt, schreibt Aly: „Obwohl präzedenzlos, rechtfertigen die NS-Verbrechen nicht die Annahme, dass die Bedingungen dafür ungewöhnlich hätten sein müssen. Wohl aber entspricht es dem verständlichen Distanzstreben der Nachgeborenen und ihrer Historiker, ein derartiges Regime ins Abnorme zu verbannen.“ (S. 366)

Was Aly für die Erkenntnisse des „Volksstaats“ formuliert, lässt sich auch für die von ihm in seinem Buch „Die Belasteten“ beschriebenen Euthanasie-Morde festhalten. Es waren unsere (Ur-)Großväter und -Mütter, die sich, wenn schon nicht ideologisch verblenden, so doch vom NS-Regime korrumpieren und in passive Mitwisserschaft führen ließen.

Am Beispiel der Euthanasie-Verbrechen wird deutlich, dass die Deutschen nicht Willens oder nicht in der Lage waren, selbst den eigenen Kranken, Behinderten und Ausgegrenzten zur Hilfe zu kommen – und dies nur in einigen Fällen aus einem geschlossenen nazistischen Weltbild heraus. Vielmehr spielen, so zeigt Aly es in „Die Belasteten“, ökonomische und psychologische Gründe eine größere Rolle, als es vielen Nachgeborenen lieb sein wird.

80 % der Angehörigen, so Aly, nahmen die Morde an ihren Verwandten hin, „wobei auch das Wort Hinnahme ein undeutliches Verhalten beschreibt“. Die Architekten der „Aktion T4“ rechneten nicht mit dem uneingeschränkten Einverständnis der Angehörigen, deren vermutliches Verhalten sie zuvor hatten begutachten lassen. „Vielmehr setzten sie alles daran“, so Aly, „den Angehörigen pychologische Brücken dafür zu bauen, dass sie wegsehen, sich einen natürlichen Tod des Ermordeten einreden und diesen schweigend hinnehmen konnten.“ Weil das Morden nicht öffentlich erklärt wurde, bot sich den Angehörigen ein „Ausweg zwischen Nichtwissenwollen und Nichtwissenmüssen“.

Man rechnet damit, dass mehrere hundert Kranke noch vor den Gaskammern umdrehen konnten, weil Angehörige nachfragten. Auch während der zweiten Phase ab 1942 wurden Kinder und Erwachsene von ihren Angehörigen zu ihrem Schutz aus den Anstalten geholt. Die von Aly dokumentierten Briefe von PatientInnen und Schilderungen der Angehörigen zeigen, dass vielfach um die Gefahr einer Unterbringung in einer Anstalt gewusst wurde. Auch hatten die PatientInnen mehr als nur Vorahnungen, was mit ihnen nach Abholung durch die „Aktion T4“ geschehen würde.

Die Anstaltsdirektoren wurden ebenso wie viele ÄrztInnen und Schwestern in die Verfahren einbezogen. Sie beließen vor allem solche Kranke auf den Todeslisten, bei denen keine Beschwerden der Angehörigen zu erwarten waren. Bevor die Kranken in die Todeskliniken verlegt wurden, wurden sie vorübergehend für mehrere Wochen in Zwischenanstalten untergebracht. Hier wurden die Fälle auf Irrtümer überprüft, vor allem aber wurde so den Angehörigen die Möglichkeit gegeben, „ihre Leute rauszuholen“.

Die Rolle der Familien bei den Euthanasie-Morden bleibt bis heute häufig unausgesprochen. Rein statistisch müsste es in jeder Familiengeschichte Opfer geben, doch sind sie nicht selten vergessen, wurden ihre Schicksale verdrängt. Auch aus Scham.

„Doch sollten wir Heutigen uns nicht leichtfertig über die Eltern, Geschwister und Gatten erheben, die damals wankten“, schreibt Aly. „Sie lebten unter sehr viel schwierigeren Umständen. Anders als heute bestand, etwa im Fall der Geburt eines behinderten Kindes, keine Aussicht auf großzügige staatliche Hilfe, sondern die reale Bedrohung, dass die gesamte Familie als erblich belastet eingestuft und dauerhaft um ihre Zukunftschancen gebracht werden würde“. Auch lebte der übergroße Anteil der Deutschen in keiner Weise so komfortabel wie heute, hinzu kamen die Belastungen des Krieges.

Die Aktualität des Erinnerns

Der ehrliche Blick auf die lebensweltlichen und psychologischen Gründe für Vernachlässigung und „Hinnahme“ führt zum Nachdenken über Gegenwart und Zukunft.

Schwer körperlich und geistig behinderte Menschen oder psychisch Kranke gelten auch heute vielen Menschen als Last – und das Leben mit ihnen ist sicher auch nicht einfach. „Sie bringen diejenigen in Bedrängnis“, schreibt Aly, „die sich als gesund ansehen, stören deren Lebenspläne und Normalitätsbegriffe“, sie lösen „Angst und Abwehr“ aus, „ziehen Aggressionen und Todeswünsche auf sich“.

Mittäter- und Mitwisserschaft, aber auch die Weigerung hinzusehen, müssen historisch differenziert betrachtet werden – und doch gründen sie alle in solchen „menschlichen Dispositionen“. „Politik und gesellschaftliche Normen können solche Ambivalenzen und Anfechtungen, wie im Fall des NS-Staats, verstärken und ausnutzen“, meint Aly, „oder, wie im heutigen Deutschland, stark abmildern“.

Die Erinnerung an die Euthanasiemorde und an die Predigten Clemens August von Galens weist in aktuelle Debatten unserer Zeit: Die finanzielle Geringschätzung, mit der man der Arbeit von behinderten Menschen – auch und nicht zuletzt in Einrichtungen von Caritas und Diakonie – begegnet. Erkenntnisse von Präimplantations- und Pränataldiagnostik, die von Familien und uns als Gesellschaft Antworten fordern. Gegenwärtige Sterbehilfe-Debatten, in denen um die Frage der Selbstbestimmung von PatientInnen gerungen wird.

Letztlich stellen sich im Licht der Erinnerung an Galens Predigten Fragen danach, wofür sich Christen, trotz aller Unterschiede in Lebensstilen und -Haltungen, unverbrüchlich und unmissverständlich einsetzen sollten, und ob wir die manchmal belastenden, häufig unbequemen Lehren der Geschichte überhaupt zu hören bereit sind.


Mehr:

Die Belasteten: „Euthanasie“ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte
Götz Aly
S. Fischer Verlage
15 € (Taschenbuch)

Zum Euthanasie-Programm von 1939-1945 hat Götz Aly 2014 bei der Stiftung Demokratie Saarland einen Vortrag gehalten, dessen Mitschnitt auf YouTube zu hören ist.