Corona-Fallen – Die #LaTdH vom 11. Oktober

Die Corona-Pandemie ist zurück in den Kirchennachrichten. Außerdem: Reaktionen auf vatikanische Druckerzeugnisse, Theologie während der Krise und Digitales.

Debatte

„Ich glaub, es geht schon wieder los. // Das darf doch wohl nicht wahr sein. // Dass man so total den Halt verliert.“

Anders als der große Schlagerpoet Roland Kaiser singt, wird die Corona-Pandemie einmal vorbei sein. Zunächst ist sie aber erst einmal wieder zurück auf der Tagesordnung der Religionsgemeinschaften. Kaiser bietet in seiner Ode ein vielfältiges Potpourri religiöser Deutungsangebote, doch zu den Fakten:

Die Infektionszahlen steigen und Kliniken warnen vor Personalmangel auf Intensivstationen, wenn die Entwicklung sich weiter so fortsetzt wie in den vergangenen Tagen. Gleichzeitig wird im Land intensiv über Sinn (Abstand halten, Maske tragen, Lüften, Großveranstaltungen meiden) und Unsinn (Beherbergungsverbot) verschiedener Maßnahmen zur Eindämmung des Virus‘ gestritten.

Dieser Streit ist hervorragend, weil er eine Erkenntnis aus dem Frühjahr einlöst, dass nur mehr, nicht weniger Debatte einer demokratischen Gesellschaft dabei hilft, die nötige Akzeptanz für die Maßnahmen herzustellen – solange sich die Diskussionen an Fakten orientieren.

Minister mahnt zur Einhaltung von Hygieneregeln bei Gottesdiensten (epd, evangelisch.de)

Die jüngsten Entwicklungen nimmt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zum Anlass, auch den Religionsgemeinschaften ins Gewissen zu reden. Dort wo sich an Hygienekonzepte gehalten wird, lässt sich gut Gottesdienst feiern, meint auch er – aber man wird ja wohl noch mahnen dürfen!

Seitdem in Deutschland wieder leibhaftig Gottesdienst gefeiert werden darf, gab es nur wenige örtlich begrenzte Ausbrüche, die mit Gottesdiensten in Verbindung zu bringen waren. Sie beschränkten sich vor allem auf Gemeinschaften, die jenseits der großen Kirchen und Verbände arbeiten und leben.

Die großen Religionsgemeinschaften (ausdrücklich auch die muslimischen Moscheeverbände) gehören nicht an den Pranger. Der Herr Minister sollte sich mal lieber kümmern, dass diesmal genügend Tests und Schutzmaterialien für Pflegeheime und Krankenhäuser zur Verfügung stehen, so dass Seelsorge und Familienbesuche möglich bleiben.

Lehren aus dem Frühling

Trotzdem steht es den Kirchen sehr wohl gut zu Gesicht, einmal die Lehren aus dem Frühling zu rekapitulieren. Für viele Christ:innen gehört dazu, dass sie den Gottesdienst weiter feiern wollen und dafür auch Sicherheitsmaßnahmen in Kauf nehmen. Die Kehrseite dessen ist natürlich, dass sich die Gemeinden auch weiterhin an diese halten.

Bis dato haben auch wir in der Eule nur wenig über diejenigen Kirchen und Kirchenleute berichtet, die das absichtlich nicht tun – weil man ja den Böcken nicht noch Zunder geben muss. Aber wenn die Einschätzung eines führenden Kirchenmannes stimmt, dass 10 % seiner Pfarrer:innen sich nicht an die Empfehlungen der Kirchenleitung hielten, gibt es hier noch argumentativen Nachholbedarf.

Einen kurzen Hinweis auf meinen „Auf Wiedervorlage“ überschriebenen Artikel zum Krisenmanagement der Kirchen vom März erlaube ich mir, verbunden mit der Bitte, dass wir vor allem den Kardinalfehler des Frühjahrs nicht wiederholen und fast ausschließlich über den Sonntagsgottesdienst sprechen, als ob sich darin kirchliches Handeln erschöpfen würde.

Wie ein Pflegeheim zur Corona-Falle wurde – Sonja Kättner-Neumann und Arnd Henze (WDR)

In einer faktenreichen und gefühlvollen Dokumentation gingen Journalist:innen des WDR (u.a. @LenaKampf & @arndhenze) der Corona-Geschichte des Hanns-Lilje-Heims in Wolfsburg nach. In dem Diakonie-Heim, das nach dem ehemaligen Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche von Hannover benannt ist, verstarben im Frühjahr 47 Menschen an Covid-19.

Die Dokumentation zeichnet den Verlauf des Corona-Ausbruchs und dessen Hintergründe und Nachwirkungen nach, vermittelt ein Gefühl für Patient:innen und Mitarbeiter:innen, ohne in Voyeurismus und einfache Erklärungen zu verfallen. Der Film zeigt, welche grausamen Folgen die Pandemie bereits hatte, auch wenn sie bisher – Gott sei Dank! – an vielen Menschen vorübergegangen ist und nur die Wirkungen der Schutzmaßnahmen in das Alltagsleben eingriffen.

Wie gut, dass es – anders als in anderen Ländern wie Großbritannien, den USA und Schweden – in Deutschland bisher nicht zu massenhaft Ausbrüchen in Pflegeheimen gekommen ist. Anders als in Schweden, wo das Besuchsverbot erst zum 1. Oktober aufgehoben wurde, dürfen viele Menschen ihre Angehörigen in den Heimen auch seit Monaten wieder besuchen. Und so soll es bitte auch bleiben!

Ich greife einmal dem Gedanken vom „Christsein als Beruf“ (s.u. -> Theologie) vor, wenn ich meine, dass Christ:innen sich zur Begründung ihrer Wahrnehmung der Corona-Schutzmaßnahmen auf das wirklich Wichtige und Unverzichtbare besinnen sollen: Den Schutz von Alten und Kranken, die gute Trauer um Verstorbene, das Wohlergehen von Armen, Obdachlosen, Kindern und Familien.

„Denn es weiß gottlob ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche ist, nämlich die heiligen Gläubigen und „die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören“ (Joh 10, 3). […] Diese Heiligkeit besteht nicht in Chorhemden, Tonsuren, langen Gewändern und ihren anderen Zeremonien, die von ihnen über die Heilige Schrift hinaus erdichtet wurden, sondern im Wort Gottes und im rechten Glauben.“ (Schmalkaldische Artikel, 32 Die Kirche)

nachgefasst

Fratelli tutti

Da ist sie also, die zweieinhalbte Enzyklika des amtierenden Papstes. Es gibt sogar ein Video zum Text und Infografiken für die Sozialen Netzwerke. Und nun ja …

Das Echo ist wie immer recht positiv: Im SPIEGEL freut sich u.a. Juliane Eckstein (@EcksteinJuliane), die für die Eule zuletzt die vatikanische Instruktion zu den Pfarreien analysierte, über die erneute Ablehnung der Todesstrafe, entdeckt aber auch eine theologische Leerstelle, was die Langzeitfolgen der Corona-Pandemie angeht. Besonders gelobt wird der Dialog mit „dem“ Islam, der im Schreiben fortgeführt wird. Zur „Projektion einer Sehnsucht“ hat kath.ch mit dem Islamwissenschaftler Reinhard Schulze gesprochen:

Natürlich ist es schön, dass der Dialog gesucht wird, wenn es denn wirklich ein Dialog ist und nicht bloss ein Monolog von zwei Parteien. Ich denke allerdings, dass ein solcher Dialog heute nicht auf fiktiven Modellen der Kreuzzugszeit beruhen sollte, sondern auf den Anliegen und Gesprächsweisen der Gegenwart. Er müsste eher dort beginnen, wo die Religionsvertreter erkennen, dass sie im Kern mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Und dass um Lösungen geht, die für jede Religionsgemeinschaft unterschiedlich ausfallen können.

Was ist von einem Text zu halten, dessen Autor sich zwar ständig selbst, aber keine einzige Frau zitiert? Die Rezeption der Enzyklika oszilliert zwischen der eingeübten Ehrfurcht („drigend benötigt“, „lang erwartet“) und einer stetig wachsenen Ernüchterung ob des Pontifikats des Hoffnungs-Papstes Franziskus, so z.B. Tobias Glenz bei katholisch.de. Ebenda findet Pia Dyckmans es knorke, dass der Papst über die Gleichberechtigung der Frauen schreibt, wundert sich aber, warum sein kritischer Blick über seine Kirche kommentarlos hinweg geht:

„Mit Worten behauptet man bestimmte Dinge, aber die Entscheidungen und die Wirklichkeit schreien eine andere Botschaft heraus.“ Eine treffende Analyse, doch wo ist hier der selbstkritische Blick auf eigene Strukturen?

Maximal schlecht gelaunt kontextualisiert Daniel Deckers in der FAZ die Enzyklika in die jüngsten vatikanischen Skandale und kritisiert auch die Kapitalismus-Kritik des Pontifex‘, während Jochen Ott (@jochenott) im Gespräch mit Christiane Florin (@ChristianeFlori) das utopische Potential des Textes würdigt. Ein Lehrschreiben als Wille und Vorstellung.

Missbrauch in den Kirchen

Unter der Woche wurde im Bistum Mainz ein Aufarbeitungs-Zwischenbericht vorgestellt, der aufhorchen lässt. Demnach könnte es bis zu zweieinhalb Mal so viele Betroffene von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche geben, als seit der MHG-Studie bekannt ist. Wichtig: In Mainz werden auch zum Tatzeitpunkt erwachsene Betroffene mit erfasst. Umgelegt auf die katholische Kirche in Deutschland bedeutete dies eine Betroffenenzahl von ca. 9 200.

Über die Konsequenzen für den „Anerkennungsleistungen“ überschriebenen pekuniären Teil der Aufarbeitung habe ich am Freitag geschrieben (die wichtigen Fakten auch als Video).

Ein neuer Missbrauchs-Bericht aus der Church of England, der anglikanischen Mutterkirche, zeigt eindrücklich, dass auch dort der Schutz der Institution Vorrang vor den Bedürfnissen der Betroffenen genoss. Sexueller Missbrauch ist ein gesamtgesellschaftliches, weltweites Problem. Und er findet in allen Religionsgemeinschaften statt.

Das Kölner Domradio berichtet in zwei kurzen Artikeln über Erkenntnisse von der Tagung „Katholische Dunkelräume. Die Kirche und der sexuelle Missbrauch“ der Bonner Kommission für Zeitgeschichte zu den Schwierigkeiten der Archiv-Arbeit zu Missbrauchsvergehen und kirchenrechtlichen Implikationen.

Buntes

Folge 55: Was sind eigentlich Christfluencer? (Studio Omega Podcast)

In einer frischen Ausgabe des „Studio-Omega“-Podcasts wird Viera Pirker (@VieraPirker) von der Uni Wien ausführlich zur digitalen Kirche und christlichen Influencer:innen befragt. Unter anderem hat sie frische Eindrücke aus der Corona-Zeit im Gepäck und wie üblich einen realistischen Blick auf „Chancen und Möglichkeiten“, die sich durch die Digitalisierung der Kirche bieten.

ARD/ZDF-Onlinestudie 2020

Allen, die sich mit Medien und Netzfragen auseinandersetzen, sei die aktuelle und frische ARD/ZDF-Onlinestudie dringend unter die Nase gehalten. Darin – wie üblich – einigermaßen neutrale, jedenfalls vom Marketing der großen Internetkonzerne unabhängige, Fakten zum Mediennutzungsverhalten.

Wenn es danach ginge, müssten wir die #LaTdH morgen einstellen und ich würde sie stattdessen als Hochkantvideo bei Instagram rappen. Junge Menschen lesen radikal weniger im Netz, wo sie den Großteil ihrer Zeit mit Videos verbringen.

Das Streamen von Videos etabliert sich bei immer mehr Menschen im Alltag. 83 % sehen sich Videos im Internet an. Während die Nutzer der Mediatheken eher im mittleren Alter sind, erreichen die Streamingdienste zurzeit vorrangig junge Nutzergruppen. YouTube wird in der Onlinestudie 2020 ein Schwerpunkt gewidmet.

Kein Filter für Rechts (Correctiv)

Speaking of Instagram: Das Recherche-Team von Correctiv hat diese Woche eine ausführliche Betrachtung der rechten Netzwerke auf dem beliebten Werbungs-Netzwerk gestartet. Sehr lesenswert!

Ein Kleinkind neben einem Neonazi-Motiv. Willkommen auf der dunklen Seite Instagrams.

Theologie

Theologie an der kurzen Leine der Kirchenpolitik – Reinhard Bingener (FAZ)

Dieser Tage ist aus Rom noch ein weiteres Schreiben über die Christen in Deutschland gekommen. Die „Lehrmäßigen Anmerkungen“ aus der vatikanischen Glaubenskongregation antworten auf das Papier „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen (ÖAK) und richten sich also (fast) exklusiv an die deutschen Christen, die sich gerne auf dem Ökumenischen Kirchentag (ÖKT) im kommenden Jahr konfessionsüberschreitend gegenseitig zum Mahl des Herrn einladen wollen, berichtet Reinhard Bingener (@RBingener) in der Frankfurter Allgemeinen:

So lässt sich der Disput zwischen Vatikan und großen Teilen der hiesigen Kirche nicht in das beliebte Deutungsmuster pressen, dass in Rom gehaltvolle Theologie betrieben wird, während deutsche Mainstream-Christen bloß Agitation im Sinn haben. Nein, auf beiden Seiten wird die Theologie an der kurzen Leine der Kirchenpolitik geführt.

Die Antwort aus dem Vatikan (Text) auf das umfängliche Abendmahls-Dokument aus Deutschland (Text) ist formal eine Frechheit, hält aber theologisch durchaus einige Brocken bereit, an denen man nicht vorbei kommt. So weit hat Christian Geyer mit seiner – kirchenpolitisch recht krummen, theologisch bedenkenswerten – Intervention ebenfalls in der FAZ Recht.

Da wären vor allem die Annehmbarkeit des Opfercharakters der katholischen Eucharistie für protestantische Gäste und die Frage, ob evangelischerseits tatsächlich alle mithalten können, was die – in der Tat weit fortgeschrittenen – lehrmäßigen Übereinstimmungen zwischen Katholiken und Lutheranern angeht. Geschickt sät die Glaubenskongregation daran Zweifel.

Eine eigentlich geplante Abstimmung über das Thema hat auf der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) wegen des Einspruchs aus Rom nicht stattgefunden. Die alte Taktik des Aussitzens könnte gut bis zum ÖKT hinreichen. Derweil haben EKD und DBK eine gemeinsame Stellungnahme (Text) veröffentlicht, die auch viele schöne Worte enthält.

Morsche Selbstsichten – Petra Bahr (zeitzeichen)

Die Regionalbischöfin von Hannover Petra Bahr (@bellabahr) schreibt in den zeitzeichen ein Stück Theologie angesichts der Corona-Pandemie für das man sich nicht fremdschämen muss. Das heißt derzeit schon viel.

Sie erkennt in der Krise nicht allein Bedarf an Trost, sondern auch an Theologie. Aufmerksame Leser:innen der #LaTdH haben bemerkt, dass dieser Newsletter und die Eule bemerkenswert wenige dieser „Corona-Theologien“ vorgestellt haben. Erfahrungsgemäß braucht Reflexion einfach Zeit, bis sie seriös formuliert werden kann.

Bahr gehört zu den Theolog:innen, die Unsicherheit und Kontingenz als theologische Hauptprobleme während der Pandemie erkannt haben wollen. Auf der anderen Seite stehen Theolog:innen, die Tod und Sterblichkeit zu ihrem Corona-Steckenpferd erklären. Ich würde es ja mit Angst und Verletzlichkeit halten. So oder so sind die Antworten sich vielleicht ähnlicher, als es die Fragestellungen vermuten lassen.

Vielleicht ist frommer Fatalismus, dieses zweifelnd-gewisse „Befiehl Du Deine Wege“ ja wirklich die angemessenste Haltung – nicht als zynische Form, der Welt den Rücken zu kehren, sondern als Haltung, die das Maß ihrer Möglichkeiten nicht überschätzt, aber die eigene Freiheit nur an dieser Stelle aus der Hand zu geben bereit ist. Im Vertrauen darauf, dass Gott die Welt erhält. Doch diese Haltung muss erklärt werden, sie braucht diskursive Foren an ihrer Seite, wo auch evangelische Forscher, Medizinerinnen, Bildungsexpertinnen, Ökonomen, Klimaforscher oder was auch immer das „Christsein als Beruf“ in dieser Pandemie besonders fordert, gefragt und angehört werden.

Die größte Selbstanmaßung der Moderne liegt in der Abschaffung des Schicksals. „Du hast es selbst in der Hand.“ Die Verwandlung des Schicksals in Selbstsorge und Selbststeuerung hat Scham, Schuld, Versagensangst und Fluchtbedürfnisse in Unterwerfungskontexte im Schatten.

Ein guter Satz

„Immer wieder glaube ich daran, //
dass auch das Gute gewinnen kann. //
Der stete Tropfen höhlt den Stein.“

– Roland Kaiser „Liebe kann uns retten“