Analyse „Die Passion“ 2024

Ist das Cringe oder kann das weg?

Am Mittwoch inszeniert RTL erneut „Die Passion – Die größte Geschichte aller Zeiten“ – und wir schauen zu? Über ernsthafte und ironische Konsumentscheidungen am Beispiel des „Mega-Musik-Events“.

Zeche Zollverein, Alexander Klaws als Jesus von Nazareth und Mark Keller als Judas Iskariot stehen einander gegenüber. Mit Tränen in den Augen singen sie „Symphonie“ von Silbermond: „Wollten wir nicht alles wagen; hast Du mich vielleicht verraten / Ich hab‘ geglaubt, wir könnten echt alles ertragen.“ Dann fällt er: Der Kuss, der alles besiegelt. Wir kennen die Geschichte. Die Essener Polizei nimmt Jesus-Alexander fest. Ehe er vor den Augen seiner Follower abtransportiert wird, macht er die schwerwiegende Ankündigung: Petrus, gespielt von Laith Al-Deen, werde ihn, noch „bevor morgen kommt“, dreimal verleugnen.

Die beschriebene Szene oszilliert zwischen Vertrautheit und Befremdlichkeit. Entnommen wurde sie der RTL-Nacherzählung der Passionsgeschichte „Die Passion“ von 2022. Um der Passion einen neuen Anstrich zu verleihen, mischt der Sender den altbekannten biblischen Stoff mit Popsongs aus den letzten zwanzig Jahren, deutschen Prominenten und echten Ruhrpott-Schauplätzen, von Currywurst-Bude bis Birkenhain.

Das Ziel: Ein intermediales Groß-Spektakel, das Elemente von Musical und Schauspiel, Performance-Kunst und Prozessionsmarsch vereint. Dabei werden die Schlüsselthemen der biblischen Erzählung (Verrat, Freundschaft, Liebe, Leiden) in Beziehung zu heute gesetzt: „Mag sein, dass wir oft gerne wie Jesus wären, aber handeln wir doch nicht eher wie Pilatus?“, fragt Moderator Thomas Gottschalk das Publikum.

Und dieses Experiment scheint gelungen, zumindest was die Zahlen betrifft. Denn als „Die Passion“ 2022 in Deutschland erstaufgeführt und -ausgestrahlt wurde, sahen, laut Senderinformationen, „3,14 Millionen Zuschauer und Zuschauerinnen“ zu. Auch in den sozialen Medien erregte das Event Aufmerksamkeit: Unter dem Hashtag #DiePassion sammelte sich eine bemerkenswerte Summe Tweets und Diskussionen an. Insgesamt schien die Rezeption so gut, dass sich das RTL-Management darauf eingelassen hat, nachzulegen und in der diesjährigen Karwoche eine Neuauflage der Passion auszustrahlen, diesmal live aus Kassel.

Ob das „live-musik-news-event“, wie es der „Die Passion“-Hauptdarsteller von 2022 und Gewinner der Debütstaffel von „Deutschland sucht den Superstar“ 2003 Alexander Klaws im Interview treffend bezeichnete, wieder so hohe Quoten und Engagement-Raten erzielen wird? Wer weiß … Doch so wichtig die Frage, wer und vor allem, wie viele Personen an diesem Event teilnehmen werden, für die Senderseite auch sein mag, deutlich spannender – unter anderem aus theologischer Perspektive – scheint die Warum-Frage zu sein: Warum interessieren sich so viele Personen für die RTL-Interpretation der Passion Christi? Was lockt an diesem Format? Und ist das dargebotene Spektakel nicht irgendwie etwas: cringe?

Cringe-Watching als Krisenbewältigung

Natürlich finden nicht nur wir Autor:innen es ziemlich schräg, wenn Alexander Klaws eine Träne verdrückt, während er im Duett darüber singt, dass es besser sei aufzugeben. Aber hindert uns das daran einzuschalten? Wahrscheinlich nicht. Ganz im Gegenteil: Sind es nicht gerade diese Cringe-Momente, die „Die Passion“ interessant machen und uns vor die Tür bzw. vor den Fernseher bewegen?

Was auf den ersten Blick weit hergeholt erscheinen mag, wird im Vergleich mit anderen Reality-Formaten plausibel: TV-Sendungen wie „Das Sommerhaus der Stars“ oder „Ex on the Beach“, die quasi von Fremdscham leben, sind – gemessen an ihrer linearen Einschaltquote und ihren stabilen Streamingzahlen – äußerst erfolgreich und lassen sich als erstes Indiz für die Attraktivität des Cringe interpretieren. Als weiteres Indiz wären virale Reaction-Videos bzw. Streams auf YouTube oder Twitch anzuführen, in denen Creator:innen gezielt diejenigen Szenen, die besonders viel Fremdscham hervorrufen, herausschneiden und ironisch-spöttisch kommentieren.

Cringe ist also, so könnte ein erstes Fazit lauten, definitiv kein Teilnahme- und Sehhindernis. Vielmehr scheint es gerade Cringe zu sein, was bestimmte Formate – vor allem beim jüngeren Publikum – attraktiv macht. Das Phänomen des sog. Cringe-Watching, d.h. des Konsumierens von Medienformaten, die eigentlich nur aufgrund ihrer Fremdscham-Momente geschaut werden, ist etwas, das manche als ihr guilty pleasure bezeichnen würden. Das wirft die Anschlussfrage auf: Was ist das Verlockende an Content dieser Art? Warum fühlen sich so viele Personen zum Cringe hingezogen?

Kann es sein, dass Menschen in postmodernen Gesellschaften Cringe lieben, weil er ihren Seh- und Konsumgewohnheiten entspricht? Fließend sprechen wir Sarkasmus, Ernsthaftigkeit nur noch gebrochen. Angesichts globaler Krisen, die für das Individuum unlösbar sind, ist Cringe-Watching Ausdruck dessen, was noch bleibt: Eine absurde Spielart des Galgenhumors und Copings.

Warten auf den Cringe-Moment

Seichte Unterhaltung gibt es im Reality-TV zuhauf, aber echte Cringe-Formate wie „Temptation Island“ oder „Make Love Fake Love“ setzen noch einen drauf: Ihr Reiz liegt nicht in der Zerstreuung und definitiv nicht in ihrem Erzählgang. Im Regelfall ist es Zuschauenden herzlich egal, ob die 20 Singlepersonen in „Are You The One“ sich zu zehn Traummatches zusammenfügen oder wie viele Falschparker:innen der Anzeigenhauptmeister in seiner letzten Runde angezeigt hat. Sie nehmen nicht engagiert-interessiert am dargestellten Einzelschicksal teil, sondern begeben sich in eine distanziert-ironische Konsumhaltung.

In dieser geht es vor allem darum, diejenigen Szenen nicht zu verpassen, die beim Zusehen Fremdscham, Verwirrung oder Entgeisterung hervorrufen und daher großes Gossip- und Meme-Potential besitzen. Just für diese Szenen schauen sie – und wir – und warten dabei auf den nächsten Cringe.

Aber, um zum Ausgangsphänomen zurückzukommen: Ist das bei der RTL-Passion genauso? Schauen (junge) Christ:innen diese inszenierte und modernisierte Passionsgeschichte distanziert-ironisch? Einzig auf der Suche nach noch mehr Cringe? Wohl eher nicht. Am Ende scheint die Geschichte der Passion doch mehr zu bieten. Immerhin ist sie, wie RTL selbst bewirbt, seit über 2000 Jahren Kernbestand unserer Frömmigkeitskultur und Teil unserer religiösen Resterinnerungen.

Die bunte Vielfalt der Konsumhaltungen

In voller Ernsthaftigkeit lässt sich „Die Passion“ allerdings auch nicht konsumieren. Das bezeugt nicht zuletzt die Twitter/X-Theobubble, in der 2022 ebenfalls einzelne Szenen geteilt, sarkastisch kommentiert und memetisch weiterverarbeitet wurden. Es tut sich ein Feld auf, auf dem sich Ironie und Ernsthaftigkeit überlagern und zu schillern beginnen. Ein Graubereich zwischen Partizipieren und Distanzieren, zwischen dem Investment in Story und Akteur:innen und Dabeisein aus Freude an Fremdscham.

Das folgende, vierstufige Ironie-Modell, das im digitalen Raum – TikTok, YouTube, Reddit etc. – zirkuliert und sich etabliert hat, kann dabei helfen, das beschriebene Feld zu erschließen: Welche Haltung nimmst Du ein, wenn Du „Die Passion“ anschaust? Auf welcher Ironie-Stufe wirst Du dich einfinden?

In vier Stufen zur Passion. Welche Konsumhaltung nimmst Du ein, wenn Du "Die Passion" auf RTL schaust? Der Cringe-Watching-Guide. Vier Stufen-Modell der Ironie zu "Die Passion" adaptiert von Gregory "JrEg" Guevara: Ernst (Nicht-)Ironie: Personen sind involviert in das, was sie tun/sagen. Personen schauen „Die Passion“, weil sie die Geschichte wichtig finden und es ihnen ein Anliegen ist, sie gegenwärtig und aktuell zu halten. Ironie: Personen stehen in einer Distanz zu dem, was sie tun/sagen. Personen schauen „Die „Passion, obwohl ihnen die Geschichte und die Charaktere weitest-gehend egal sind; Ziel ist es, sich an der Inszenierung zu belustigen (Cringe-Watching). Postironie: Personen geben vor, in einer Distanz zu dem zu stehen, was sie tun/sagen, obwohl sie eigentlich involviert sind. Personen schauen „Die Passion“, weil sie die Geschichte wichtig finden und es ihnen ein Anliegen ist, sie gegenwärtig und aktuell zu halten; tun allerdings so, als konsumierten sie nur zur Belustigung. Metaironie: Personen können selbst keine Auskunft geben, in welcher Beziehung sie zu dem stehen, was sie tun/sagen; es spielt für sie auch keine Rolle. Personen schauen „Die Passion“, ohne zu wissen, warum; eine Zweckbestimmung ist ihnen auch nicht wichtig; Hauptsache ist, dabei gewesen zu sein und im Nachgang mitreden zu können.

Unsere Vermutung ist: Wer einen Bezug zu Religion hat, der kann dieses Spektakel nicht ausschließlich ironisch betrachten, dem wird wohl etwas an der Geschichte und ihrer Aktualität liegen. Aber! Um die Inszenierung in vollem Ernst anzusehen, ist sie einfach zu cringy. Übrig bleiben postironische – ich verstecke mein eigentliches Interesse am Event hinter Ironie – und metaironische – ich weiß selbst nicht, was ich hier will, bin aber hier und kann später mitreden – Betrachtungsweisen.

Denken wir, wenn wir morgen die Ausstrahlung der Passion verfolgen, an das Spektrum der Ironie! Hinterfragen wir unsere „Konsumentscheidungen“, während Ben Blümel als Jesus, Jimi Blue Ochsenknecht als Judas und viele weitere Promis die „größte Geschichte aller Zeiten“ live inszenieren. Prüfen wir uns: Schauen wir ironisch? Postironisch? Oder ernst? Und macht das überhaupt einen Unterschied? Für RTL jedenfalls nicht. Aber vielleicht sind wir an dieser Stelle bereits zu metaironisch unterwegs …


Mit „Post- und Metaironie als Rüstzeug gegen … ja, was eigentlich?“ befasst sich auch der Beitrag von Anna Sophie Jäger und Max Tretter im kommenden Sammelband zur Jahrestagung 2024 von pop.religion „Verletzlichkeit“.


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