Interview #MeToo - Missbrauch evangelisch

„Den Tätern nicht in die Karten spielen“

Was hat die #MeToo-Debatte in den Kirchen bewirkt? Hören wir auf die Geschichten der Opfer? Sind christliche Gemeinden sichere Orte für Kinder und Frauen? Was können wir tun?

Eule: Der Fokus beim Thema Missbrauch lag in Deutschland bisher häufig auf Jungen, ist MeToo / ChurchToo eine notwendige Korrektur, auch die Frauen und Mädchen in den Blick zu nehmen?

Rommert: Vielleicht sind die Fälle gegenüber Jungen aktuell mehr im Bewusstsein, doch angefangen hat es mit mutigen Frauen. Schon in den 1990er-Jahren haben Frauen wie Ursula Enders begonnen, über das Thema sexuelle Gewalt gegenüber Mädchen zu sprechen. Damals war der Schwerpunkt: Wir betroffenen Frauen schweigen nicht länger. Das heißt, bis zu #MeToo ist es schon ein längerer Weg gewesen. In den 2000er-Jahren wurde dann deutlich, auch Jungen sind betroffen. Die ersten Männer fingen an, ihre Geschichte zu erzählen. Ihr Buch „Zart war ich, bitter war’s“, ein Standardwerk, beschränkte sich zunächst nicht auf die Kirche. In welchem Ausmaß Kirchen betroffen sind, wurde ab 2010 deutlich.

Eule: Warum hinkten die Männer da hinterher?

Rommert: Für Männer ist es, ohne das Leid der Mädchen und Frauen zu schmälern, manchmal schwieriger über ihre Erfahrungen zu sprechen.  Sie sprechen häufig nicht über Schwächeerfahrungen. Und weil Identitätsfragen da mit reinspielen: „Bin ich schwul?“ Schwulsein war in den 2000er-Jahren weitaus mehr gesellschaftlich tabuisiert als heute. Aus diesen Gründen wurde anhaltender geschwiegen. Zum Glück gibt es eine Veränderung an dieser Stelle, die aber nicht darüber hinwegsehen darf, dass Frauen und Mädchen signifikant häufiger Opfer werden und die Männer signifikant häufiger als Täter auftreten.

Eule: Wie ist Missbrauch ein Thema in den Kirchen geworden?

Rommert: In den 2010er-Jahren wurde diese Diskussion in Deutschland maßgeblich von Klaus Mertes vom Canisius-Kolleg in Berlin angestoßen. Mertes hat im Kolleg immer wieder von solchen Geschichten gehört, und dann entschieden, das zum Thema zu machen und ist von sich aus an die Öffentlichkeit gegangen. Damit hat er sich selbst zunächst zu einer Hassfigur für viele Menschen in seiner Kirche gemacht. Für die Betroffenen aber war das eine große Erleichterung, sie merkten: Jetzt wird auch über den kirchlichen Kontext gesprochen.

Eule: Wie haben Sie sich mit ihrer Arbeit am Projekt „Sichere Gemeinde“ eingebracht?

Rommert: Wir haben ab 2008 Schulungen durchgeführt und immer wieder betont, dass Kirchen von diesem Problem genauso betroffen sind wie andere Institutionen auch. Auch wir erlebten, dass das nicht überall gut ankam. Häufig wurden die Fälle bagatellisiert, nach dem Motto: „Jetzt häng das mal nicht so hoch auf, das gibt’s vielleicht mal, aber das ist nicht so ein wichtiges Thema.“ Gelegentlich wurden wir auch als Nestbeschmutzer beschimpft. Dabei war das Thema immer schon virulent. Schon in den 1970er-Jahren hat man immer schon mal wieder was gehört. Damals war die Strategie aber, das intern zu klären. Man bezeichnete Missbrauch als Einzelfall, der Schutz der Institution wurde im Vergleich zum Opferschutz weitaus höher bewertet. Damit war 2010 definitiv Schluss. Zum Glück!

Eule: Was ist seitdem geschehen?

Rommert: Es wurde schon eine Menge investiert: Beschwerdestellen wurden eingerichtet, es gibt das Hilfetelefon des unabhängigen Beauftragten, den Runden Tisch. Alle diese Dinge. Und ich glaube, dass die Kirchen seitdem auch viele entscheidende Schritte gemacht haben. Das Thema, auch wenn es jetzt aus den USA wieder zu uns kommt, ist also nicht neu. Aber das Thema drohte nach 2010 etwas einzuschlafen, durch #MeToo und #ChurchToo kommt wieder zu Bewusstsein: Leute, wir sind da noch lange, lange nicht zu Ende. Es gibt immer noch eine große Anzahl Fälle, von denen wir nichts wissen, die gedeckelt werden, wo die Betroffenen sich nicht trauen zu sprechen. Und dieser Hashtag ist wieder eine Erlaubnis, die eigene Geschichte zu erzählen. Dieses Mal über einen neuen Kanal, ein neues Medium.

Trügerische Sicherheit – Sexuelle Gewalt in den Gemeinden

Christian Rommert ist Autor des Buches „Trügerische Sicherheit – Wie wir Kinder vor sexueller Gewalt in Gemeinden schützen“ (SCM R. Brockhaus, 2017), in dem er Wege beschreibt, wie christliche Gemeinden, Kindergärten und Familien sichere Orte für Kinder werden können. Anhand praktischer Beispiele beschreibt er Gefahren und mögliche Lösungen. Sein Fazit: Blindes Vertrauen wiegt uns in trügerische Sicherheit.

Eule: Das ist der positive Aspekt an #MeToo, dass es darum geht, den Geschichten der Opfer Gehör zu schenken. Haben die Kirchen in Deutschland eine Haltung des Zuhörens auf die Opfer eingenommen?

Rommert: Ich würde sagen, mehrheitlich ja. Auf Kirchenleitungsebene in den Landeskirchen, in den Bischofskonferenzen und auch im Präsidium der Freikirche, aus der ich komme, ist das so. Doch es gibt davon aber leider immer noch viel zu viele Ausnahmen. Ob dann aber auch genug aktiv in der Kirchengemeinde vor Ort getan wird? Ich würde schon meinen, es müsste hier mehr Geld investiert werden für Schulungen und Prävention. Es wird doch noch immer gesagt: „An uns ist es zum Glück vorbeigegangen. Weiter so.“

Eule: Wie sieht es nun mit den Frauen aus? Da gibt es die Problematik der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz und etwas unschärfer und größer die Frage, ob nicht gerade christliche Gemeinden eine Atmosphäre schaffen, die sexualisiert ist, aber in einer sehr sublimen Form, wo es schwer wird, anzusprechen, was einem nicht gefällt.

Rommert: Es gibt aus meiner Sicht in den unterschiedlichen Institutionen – Sportvereine, Schulen, Kindergärten  und eben auch Kirche – verschiedene Unsicherheitsfaktoren, die jeweils unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Im kirchlichen Raum gibt es eine Reihe von Faktoren, wo Kirchen anfällig sind für Missbrauch.

Einer davon ist sicher das Gefälle zwischen Mann und Frau. Wir sprechen bei sexueller Gewalt nicht über eine komische Ausprägung von Sexualität, sondern er ist in seinem Kern Machtmissbrauch. Männer missbrauchen ihre Macht. Denn das Machtgefälle in unserer Gesellschaft ist am größten zwischen erwachsenem Mann und weiblichem Kind. Weil wir in unserer Sexualität so empfindlich sind – eine größere Intimität gibt es nicht, nackter kann ich mich nicht zeigen – zielt der Machtmissbrauch auf die Sexualität des Mädchens oder der Frauen.

Ich bin davon überzeugt, solange wir nicht für Gendergerechtigkeit sorgen in unseren Kirchen, sondern das abtun und lächerlich machen, solange wir die männlichen Netzwerke, durch die man in den Hierarchien aufsteigt, nicht aufbrechen, solange wird dieses Machtgefälle bestehen bleiben und damit auch das Gefahrenpotential. Deshalb sind die katholische Kirche und auch Freikirchen, wo Frauen von Ämtern fern gehalten werden, an dieser Stelle besonders anfällig.

Eule: Welche Rolle spielt die häufige Problematisierung der Sexualität?

Rommert: Das ist ein weiterer wichtiger Gefahrenfaktor. Wo gibt es in der christlichen Tradition, in unserer Gemeindekultur Informationen, wie Sexualität positiv gelebt werden kann? Wir handeln und leben und agieren hauptsächlich über Moral und Verbote, anstatt Angebote zu machen. Wir verbieten Pornografie, aber wir lassen die Menschen alleine und sagen denen nicht, wie eine achtsame, gute Sexualität ausschauen könnte. Wie kannst Du mit Pornografie umgehen? Mit den damit verbundenen Reizen und mit deiner Erregbarkeit? Davon sprechen wir nicht.

Und in diese Lücke – wo z.B. noch gesagt wird „Kein Sex vor der Ehe“ usw. und was da alles noch rumschwirrt in konservativen Kreisen – da gehen Täter rein und sagen: „Komm ich erzähl dir, ich zeig dir das, ich bin da nicht so prüde.“ Dann werden Bilder gezeigt, und es wird zum Nachmachen gedrängt. Damit fängt eine Desensibilisierung an. Wenn unsere Kinder anders aufwachsen würden, was das Thema Sexualität angeht, würden sie mehr Abwehrkräfte gegen solche Übergriffe haben. Das bleibt in vielen Kirchen ein riesiges Handlungsfeld. Wir haben da keine tragfähigen Angebote.

Eule: Liegt das auch an einer mangelnden theologischen Tradition, Sexualität positiv zu sehen?

Rommert: Ganz bestimmt. Wir haben da ganz häufig nur Augustin und die Erbsündenlehre vor Augen. Frauen werden als verführerisch dargestellt und gleichzeitig als sexuell weniger aktiv. Diese Widersprüche sind uns so vertraut, dass sie uns gar nicht mehr auffallen. Da gibt es so abwertende Dinge, die da in christlichen Kreisen kursieren. Männer sind halt so, dass sie sich schlechter im Griff haben. Frauen sind halt so oder so. Die Aussagen eint, dass Männer und Frauen häufig alleine gelassen werden in der Ausprägung ihrer Sexualität. Es herrscht eine riesige Unsicherheit und diese Unsicherheit wird natürlich an die nächste Generation weitergegeben. In diese Lücke gehen Täter rein.

Wir brauchen Bücher und Vorträge zu dem Thema. Ich träume davon, darüber ein Buch zu schreiben, u.a. aus einer Beschäftigung mit der indischen Tradition heraus. Die da viel tiefer und weiter ist. Doch gegen alles fernöstliche gibt es aber gerade im freikirchlichen Spektrum viele Vorbehalte. Ich schaue mir aber gerade auch die christliche Tradition noch einmal an und entdecke da zum Beispiel bei den Wüstenvätern auch andere Zugänge zum Thema Sexualität. Es muss in unserer eigenen Tradition doch auch andere Quellen geben!

„Wenn wir so über Sex reden, sage ich auch: Kirche, sei still! Du hast gar kein Recht ins Schlafzimmer zu gehen.“
Foto: Katie Tegtmeyer (Flickr), CC BY 2.0

Eule: Ich erlebe bei vielen Evangelikalen und Post-Evangelikalen auch eine gegenläufige Bewegung: Das Empfinden dafür, dass es in der Vergangenheit zu viel um Sexualität ging. Ein Überdruss vor allem an der Moralisierung des Themas.

Rommert: Das, was ich gerade gesagt habe, soll nicht bedeuten, dass wir nicht über Sex gesprochen hätten. Nein, es wird ständig darüber gesprochen, halt nur auf der moralischen Ebene und aus einer seltsamen Distanz und Scham. Mir ist das ganz stark aufgefallen, als ich in der Adventszeit über Maria zu predigen hatte. Das ist doch seltsam: Wir sprechen die ganze Zeit über Jungfräulichkeit, über Empfängnis, über intimste Sachen, die Maria betreffen und sind gleichzeitig total sexfeindlich und beklommen.

Gibt’s das eigentlich noch an einer anderen Stelle der Geschichte, dass Menschen sich so viele Gedanken gemacht haben über die Gebärfähigkeit, die Art der Geburt, der Empfängnis, über alles was da mitspielt, als im christlichen Kontext? Doch dieses Kreisen bleibt immer irgendwie an der Oberfläche. Es bleibt bei der Frage, was darf ich und was darf ich nicht. Und das nervt, da bin ich auch so satt! Wenn wir so über Sex reden, sage ich auch: Kirche, sei still! Du hast gar kein Recht ins Schlafzimmer zu gehen. Auch weil das immer mit diesem Gedanken verbunden wird: Gott sieht alles. Auch was ich im Schlafzimmer oder auf meinem Handy oder Bildschirm mache. Ich würde der Kirche sagen: Verweist auf gute Angebote, aber ansonsten schweigt und hört zu, welche Probleme es eigentlich gibt. Aber hört auf zu richten!

Eule: Wie sieht eine sichere Gemeinde denn aus?

Rommert: Es sind fünf große Aufgaben: Kinder stärken, Eltern stärken, Mitarbeiter stärken, das Thema enttabuisieren und Täterarbeit. Am Ende hast Du in der Situation häufig ein einsames Kind und einen einsamen Täter. Das sind zwei Ansatzpunkte. Wenn es geschafft wird, dass Täter ihrem ersten Impuls nicht folgen, dann ist schon viel erreicht. Und wenn ein Kind darin bestärkt ist, in einer schwierigen Situation wegzurennen, nach Hilfe zu rufen, sich zur Wehr setzt, um Hilfsangebote weiß und auf diese zugehen kann, dann ist die Situation entschärft. Was die Mitarbeiter angeht, müssen wir auf verbindliche Standards, Codizes für die Arbeit und Fortbildungen bestehen. Wir müssen Kinderschutzkonzepte proaktiv entwickeln und nicht erst handeln, wenn es einen akuten Fall gibt. Es braucht für alle verbindliche und bekannte Frühwarnsysteme. Und als erste Grundregel gilt immer: Eins-zu-Eins-Situationen vermeiden.

Eule: Was ist damit gemeint?

Das meint schlichtweg, ein einzelner Mitarbeiter darf nicht mit einem Kind alleine sein. Das ist eine Haltungsfrage: Ich muss als Mitarbeiter dafür eine Sensibilität entwickeln. Klar, es gibt Seelsorgesituationen, wo sich das nicht ganz vermeiden lässt. Aber die können ja einsehbar, z.B. durch eine Glastür, gestaltet werden. Ein anderer Punkt sind die oft unübersichtlichen Übergabesituationen vor Kindergottesdiensten oder Gruppenstunden: Wir müssen auf die Eignung und Verantwortlichkeit der Mitarbeiter achten.

Eule: Grenzt das nicht an Paranoia? Die Gemeinden sind doch froh, wenn sich jemand in der Kinder- oder Jugendarbeit engagieren will.

Rommert: Ja, und das kann ich gut verstehen. Aus der Täterperspektive ist gerade diese Situation verlockend. Wenn der merkt, in der Gemeinde gehen alle ganz blauäugig mit Verantwortlichkeiten und Standards um, dann werden solche Lücken bewusst ausgenutzt.

Eule: Braucht es in Deutschland noch mehr Frauen, die ihre schwierigen Erfahrungen teilen?

Rommert: Wir brauchen ganz sicher Plattformen, wo sich ausgetauscht werden kann. Wir brauchen den offenen Austausch. Mein persönliches Fazit von #MeToo und ein Ratschlag gerade an Männer ist: Hört hin! Ich habe für mich beschlossen zuzuhören. Ich hatte in meiner Timeline so viele Frauen mit dem Hashtag, dass ich erschüttert war. Ich dachte dann, irgendwie musst du dich dazu positionieren. Ich muss doch etwas schreiben!

Doch dann habe ich gedacht: Alles was ich als Mann dazu schreiben kann, ist Banane. Das einzige was ich tun sollte, ist zuzuhören. Meine Einstellung ist: Ich glaube euch, dass das für euch unangenehm ist, gerade auch in den Grauzonen. Und ich will bereit sein, mein Verhalten anzupassen und zu verändern. Meine Sprache. Mein Auftreten. Mein Denken. Wir brauchen die Genderdebatte in der Kirche.

Eule: Gerade die Verknüpfung von Missbrauch mit der Genderdiskussion wird von konservativen Christen zurückgewiesen.

Alle die das blockieren, spielen am Ende den Tätern in die Karten. Da bin ich mir sicher. Ich möchte das Gespräch gerne dahin entwickeln, dass wir uns gemeinsam fragen: Was ist Männlichkeit? Was ist Weiblichkeit? Wie können wir gesund miteinander umgehen? So dass wir erst einmal ideologiefrei Fragen stellen dürfen ohne sofort verurteilt zu werden.

Wir hatten die Emanzipation in der Gesellschaft, die bewirkt hat, dass Frauen sich Freiräume erkämpft haben und viel mehr dürfen als früher. Es gibt da natürlich nach wie vor Ungerechtigkeiten, die Emanzipation ist noch nicht vollendet. Aber wir sind jetzt auch an einem Punkt angelangt, wo wir uns fragen müssen: Wir haben die Freiräume für Frauen und Männer, wie wollen wir die jetzt leben? Und was heißt es dann, die Pole einzubringen, das Weibliche und Männliche? Gibt’s die überhaupt? Was ist so tief Kern meines Frau- und Mannseins, dass wir da auch nicht rauskommen, sondern das aneinander annehmen müssen?


Das Gespräch führte Philipp Greifenstein.


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