Foto: Grégory Legeais (Flickr), CC BY 2.0

Der Bericht – Teil 1: Vorschule

Seit letzter Woche liegt der unabhängige Untersuchungsbericht zu den Missbrauchsfällen bei den Regensburger Domspatzen vor. Was wirklich im Bericht steht:

Am 18. Juli 2017 haben die unabhängigen Ermittler Ulrich Weber und Johannes Baumeister ihren Untersuchungsbericht zu Gewaltausübungen bei den Regensburger Domspatzen vorgelegt (Download des gesamten Berichts). Der Missbrauch bei den Domspatzen wurde seitdem abermals kontrovers diskutiert, häufig offensichtlich ohne weitere Kenntnis der im Bericht zusammengefassten Ergebnisse.

Ich habe in den letzten Tagen den Untersuchungsbericht gelesen.

Vorbemerkungen

Der Bericht des unabhängigen Ermittlerteams macht Ausflüchte und Instrumentalisierungen zunichte, indem er eine gründliche und zum Teil schmerzlich detailreiche Aufklärung über die Geschehnisse in Vorschule und Gymnasium, Chor und Internaten leistet. Wer ihn tatsächlich gelesen hat, kann nicht mehr zu einfachen Erklärungen kommen.

Denn es geht in der Tat um weit mehr als ein paar Ohrfeigen. Es geht auch um deutlich mehr als einen zeittypisch ruppigeren Erziehungsstil oder einige isolierte Fälle sexuellen Missbrauchs. Es geht um ein totalitäres System, das von wenigen Haupttätern installiert und am Leben gehalten wurde, in dem Schüler schwerster Gewalt und Demütigungen ausgesetzt waren. Es geht um eine Institution, die ihrer Verantwortung gegenüber den ihr zum Schutze anvertrauten Kindern und Jugendlichen nicht gerecht geworden ist, indem sie die Täter schützte und die Opfer verhöhnte.

Doch auch die These vom systemischen Versagen kann zur Schutzbehauptung werden und zur einfachen Überleitung in allgemeine Beschwerden über die Kirche. Ausflüchte und Relativierungen bestehen vor den im Bericht gesammelten Opfergeschichten nicht.

Deshalb soll es hier um diese Geschichten gehen und einmal nicht um deren Instrumentalisierung oder Äußerungen der Täter oder Dritter, die schnell die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in Beschlag nehmen. In diesem Artikel beschränke ich mich auf die Schilderungen der Vorschule im Untersuchungsbericht, wie sie von den Betroffenen vorgetragen wurden.

(Im Verlauf des Artikels zitiere ich aus Schilderungen der Betroffenen. Diese Schilderungen sind durch einen Klick zuschaltbar. Sie enthalten teils drastische Darstellungen psychischer und körperlicher Gewalt.)

Opfer und Täter

Ingesamt wurden von den unabhängigen Gutachtern 547 ehemalige Domspatzen als hochplausible Opfer eingestuft. Davon 500 als Opfer körperlicher Gewalt und 67 als Opfer sexueller Gewalt.

49 Beschuldigte wurden mit hoher Sicherheit identifiziert. 45 von ihnen wandten körperliche Gewalt an, 9 wurden sexuell übergriffig. In besonderer Weise für körperliche und sexuelle Gewalttaten verantwortlich war der langjährige Direktor der Vorschule M.. Vorschule meint hier, wie an vielen Knabenchören, die letzten Grundschuljahrgänge, das dazugehörige Internat und die musikalische Ausbildung im Chor und an Instrumenten.

M. wirkte von 1957 bis zu seinem Ruhestand 1992 als Direktor der Vorschule, zuständig für die Leitung von Schule, Internat und musikalischer Abteilung. Aus dem Bericht geht hervor, dass die Etablierung eines Erziehungssystems der Angst und Gewalt dort von ihm ausging. Viele andere Mitarbeiter der Vorschule beteiligten sich durch eigene Gewalttätigkeit an der Errichtung dieses Regimes bzw. verstrickten sich durch Wegschauen und Stillschweigen.

+ Betroffenenberichte: Schule, Komplizenschaft der Lehrer

Es ist völlig ausgeschlossen, dass die an der Vorschule der Domspatzen existierende Gewaltherrschaft anderen Verantwortungsträgern in Chor, Schule und Kirche nicht bekannt wurde. Aus den Schilderungen der Opfer geht klar hervor, dass gewalttätiges Handeln in aller Öffentlichkeit zelebriert wurde und anders als sexuelle Übergriffe nicht heimlich stattfand.

Gewalttaten wurden teilweise in Komplizenschaft von Mitarbeitern des Internats, der Schule und des musikalischen Zweigs verübt. Es gibt Beschuldigte in allen drei Arbeitsbereichen (Internat, Chor & Musik, Schule). Aus dieser Komplizenschaft hat sich über Jahrzehnte ein Netzwerk des Schweigens entwickelt, das nur selten und unzureichend aufgebrochen werden konnte.

Schwierige Erinnerungen

Obwohl die Schulzeit der meisten Betroffenen bei den Domspatzen kurz war – 80 Betroffene verließen den Chor binnen eines Jahres, über die Hälfte der Opfer besuchten Vorschule oder Gymnasium der Domspatzen nicht länger als drei Jahre, nur 12 % haben mindestens neun Jahre am Gymnasium verbracht – ist ebenfalls ausgeschlossen, dass andere Schüler, zumal der Vorschule, von den Übergriffen nichts bemerkten bzw. nicht betroffen waren. Auch gab es offensichtlich in begrenztem Ausmaß auch Formen der Komplizenschaft von Schülern mit gewalttätigen Erziehern und Lehrern.

Die unterschiedlichen Erinnerungen der Domspatzen an ihre Schulzeit lassen sich m.E. zureichend durch Erkenntnisse der Traumaforschung und Psychologie erklären. Und nicht zuletzt dadurch, dass sich für viele Schüler an die Vorschulzeit eben eine lange, offensichtlich positiver erinnerte Schulzeit innerhalb des Chores anschloss.

Ebenso sollte nicht unterschätzt werden, dass Opfer eines totalitären Systems, die ihnen zugefügte Gewalt im Nachhinein als folgerichtig, „normal“, zwangsläufig erinnern. Diese Einordnung in die eigene Erinnerungslandschaft kann man durchaus als eine Form der Verdrängung oder Rationalisierung begreifen, die den Betroffenen eine Weiterexistenz im System überhaupt erst ermöglichte.

+ Betroffenenberichte: Zeuge von Gewalttaten an Mitschülern werden

Kultur der Gewalt

Direktor M. kann, nach aufmerksamen Lesen des Berichts, nur als ein grausamer Sadist beschrieben werden, der sich bei jeder möglichen Gelegenheit an den ihn zum Schutz befohlenen Kindern verging. Die Schüler seiner Vorschule waren zwischen 8 und 10 Jahren alt. Gründe für sein Verhalten können in seiner eigenen Biographie gefunden werden, entschuldigen aber in keiner Weise sein Handeln.

+ Betroffenenberichte: Sadismus als Beweggrund der Täter

Es ist wichtig festzuhalten, dass der übergroße Anteil der Gewalttaten auch zum Tatzeitpunkt verboten und strafbar war.

Sein Handeln und das von ihm eingerichtete System wurde von anderen Mitarbeitern unterstützt oder stillschweigend akzeptiert. Offensichtlich galt der gewalttätige Umgang mit Schülern als normal, gar vorbildlich. Nur selten erinnern die Betroffenenen abweichendes Verhalten z.B. von Lehrern. In diesem Gewaltsystem konnten auch die sexuellen Übergriffe durch M. und andere unverfolgt bleiben.

Es darf auch vermutet werden, dass die Kultur der Gewalt, die an der Vorschule der Domspatzen eingebläut wurde, einen erheblichen Einfluss auf weitere, folgende Gewalttaten bei den Domspatzen hatte.

Totale Institution

Die Autoren des Untersuchungsbericht orientieren ihre Darstellung der Opfergeschichten am Tagesablauf der Schüler. Das erscheint vor allem deshalb als folgerichtig, weil den Schülern keine Abweichung von diesem Tagesplan gestattet wurde.

+ Betroffenenbericht: Antreten und Silentium

Die Vorschule begegnet als eine totale Institution (nach Erving Goffman), der sich die Schüler zu keinem Zeitpunkt entziehen konnten. Privatssphäre wurde nicht eingeräumt, Spiel- und Freizeit kaum ermöglicht. Es herrschte fast durchgängig Silentium, d.h. die Schüler waren zum Schweigen verdonnert. Abweichungen davon wurden umgehend und hart mit Prügel bestraft.

+ Betroffenenbericht: Bestrafung bei Bruch des Silentiums

Wie andere totale Institutionen auch, zeichnete sich die Vorschule unter Direktor M. durch einen militärischen Drill aus. Die Schüler mussten mehrmals täglich antreten. Schüler, die als letztes in die Reihe traten, wurden mit Ohrfeigen und Kopfnüssen gemaßregelt.

Das Silentium erstreckte sich auch auf die Essenszeiten. Mehrere Betroffene berichten davon, dass sie das angebotene Essen unter allen Umständen aufessen mussten. Herbe Bestrafungen bei Zuwiderhandlungen gegen die häufig ungeschriebenen Gesetze wurden, nicht nur bei den Mahlzeiten, vor Ort ausgeführt. Dazu gehörten Ohrfeigen, Kopfnüsse, Prügel oder der Zwang bereits erbrochenes Essen aufzuessen.

Schüler, die während des Schul- oder Instrumentalunterrichts Regeln verletzten, wurden von den Lehrern auf den Gang gestellt, auf dem sie von Direktor M. oder seinen Präfekten aufgegriffen wurden. Prügelstrafen folgten sofort vor Ort oder später in den Büros. Den Lehrern muss diese unvermeidliche Folge ihres Handelns bewusst gewesen sein.

Totalitäres System

Von vielen Betroffenenen wird neben der körperlichen Gewalt vor allem der psychische Druck als traumatisch beschrieben. Wie in totalitären Systemen üblich herrschte bei der Gewaltanwendung Willkür. Wer wofür in welcher Weise bestraft wird, regelte ein Gewohnheitscomment, der von der Leitung, d.h. von Direktor M., „nach unten“ durchgereicht wurde.

+ Betroffenenberichte: Willkür

Eine Anhörung im Vorfeld der Bestrafung fand nicht statt, häufig wurde direkt zugeschlagen. Gegenüber Dritten – Eltern oder Ärzten – wurde von den Mitarbeitern Stillschweigen bewahrt. So musste sich bei den Betroffenen absolute Hilflosigkeit einstellen.

Am Beispiel des verbotenen nächtlichen Toilettengangs wird die Not der Schüler in besonderer Weise deutlich: Schüler, die trotz Verbot auf die Toilette gingen, wurden mit Schlafentzug oder Prügel bestraft. Schüler, die aus Angst vor Bestrafung einnässten, wurden ebenfalls hart bestraft. Aus diesen und ähnlichen Dilemmata keinen Ausweg finden zu können, haben die Betroffenen nach eigener Aussage als besonders traumatisierend empfunden.

System der Gewaltanwendung

Zu den körperlichen Gewaltmaßnahmen treten strenge Kontrollen der Zimmer und Kleidung, die Zensur der Post, die Überwachung von Telefonkontakten, das Verbot des Besuchs der Eltern und weitere Maßnahmen, die unter Sozialer Gewalt zusammengefasst werden können (s. Tabelle 10: Soziale Gewalt in der Vorschule, S. 150 Untersuchungsbericht). Als Spitze des Kontrollwahns dürfen die Leibesvisitationen nach dem Waschen und samstäglichen Duschen gelten, die in einer Grauzone zur sexuellen Nötigung liegen.

+ Betroffenenbericht: Leibesvisitation nach dem Waschen

Ein schwarzer Tag im Jahreslauf war für die Betroffenen der Nikolaus-Tag, an dem Betroffene vor der Gruppe verprügelt und „in den Sack gesteckt“ wurden. An diesem „Nikolaus-Spaß“ nahmen wohl auch ältere Domspatzen als Komplizen der Leitung Teil.

+ Betroffenenbericht: Gewalt bei der Nikolausfeier

Die Androhung und Durchführung körperlicher Gewalt durchzog den gesamten Tageslauf vom Aufstehen und „Appell“, dem Waschen, Mahlzeiten, Unterricht, Lern- und Übzeiten. Auch vor, während und nach dem täglichen Gottesdienst kam es zu Gewalttaten, wieder im Besonderen durch Direktor M., der als Priester die tägliche Messe zelebrierte.

Die Schüler dienten im Wechsel als Messdiener. Mehrere Betroffene berichten davon, dass M. sie während des Gottesdienstes, sogar während der Eucharistie geschlagen oder getreten habe. Als besonders belastend empfanden die Betroffenen das gemeinsame Gebet und die Beichte, die bei Direktor M. abzulegen war.

+ Betroffenenberichte: Gewalt im Gottesdienst, Beichte bei Direktor M.

Weitere Alltagssituationen die Anlass für Gewalt gaben, sind der Umgang mit Bettnässern und mit erkrankten Schülern. Diese werden im Bericht in eigenen Kapiteln behandelt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass gesundheitliche und seelische Notlagen der Schüler keineswegs zu einem Gewaltverzicht oder gar Überdenken der Erziehungsmethoden in der Vorschule geführt haben, sondern als weitere Anlässe für drastische Gewaltanwendungen dienten.

Sexueller Missbrauch in der Vorschule

Parallel zur alltäglichen Prügel und Überwachung ereignete sich sexueller Missbrauch. Direktor M. kann auch hier als Haupttäter gelten. Über die gesamte Zeit seines Direktorats von 1957 bis 1992 kam es zu sexuellen Übergriffen, die sich im Verlauf der Zeit bis hin zu Vergewaltigungen steigerten.

Im Bericht sind 11 hochplausible Fälle dokumentiert. Die Verteilung der Fälle über die gesamte Amtszeit M.s lässt auf eine sehr hohe Dunkelziffer schließen. Ebenso deuten die Betroffenenberichte auf weitere Missbrauchsopfer hin, die sich bisher nicht bei den Ermittlern gemeldet haben.

Die sexuellen Übergriffe begannen häufig im Kontext der Leibesvisitationen oder bei medizischen Behandlungen wie der Verabreichung von Fieberzäpfchen durch den Direktor. Schüler wurden regelmäßig nach dem Duschen in sein Zimmer gerufen. Zu Übergriffen kam es aber auch nach dem Gottesdienst, in der Sakristei oder in den Schlafräumen der Schüler.

Häufig wurde der Missbrauch von M. dadurch eingeleitet, dass er den Betroffenen Wein anbot. Ein Schüler berichtet, dass er dies als besonders wahrgenommen habe, da es sich dabei um Messwein gehandelt habe. M. ließ die Schüler sich entkleiden, es folgten Berührungen und vor allem in späteren Jahren auch rektale Vergewaltigungen.

Von Präfekt H., einem der willfährigsten Helfer M.s, sind ebenfalls sexuelle Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen als hochplausibel anzunehmen. Anders als bei Direktor M. konzentrieren sich die sexuellen Gewalttaten H.s auf die späten 1970er-Jahre.

Vorläufige Einordnung

Präfekt H. und Direktor M. sind im Verbund für den Großteil aller Gewaltanwendungen in der Vorschule der Domspatzen verantwortlich, was auch an der ebenfalls langen Dienstzeit H.s von 30 Jahren liegt.

Auch wenn M. und H. einen Großteil der Vorfälle von Gewalt auf sich vereinen, gibt es zahlreiche weitere Beschuldigte. Sechs weiteren Beschuldigten wird mit hoher Plausibilät sexueller Misbrauch vorgeworfen.

Die Vorschule der Domspatzen unter Direktor M. kann als totalitäres Gewaltsystem, das auf Angst und Hilflosigkeit der Schüler gebaut war, beschrieben werden. Zur allgegenwärtigen körperlichen Gewalt trat hoher psychischer Druck und Soziale Gewalt.

Durch die Leitung von Schule, musikalischer Ausbildung und Internat in Personalunion und die vielfältigen Abhängigkeitsverhältnisse, die er schuf, verschaffte sich Direktor M. eine Machtposition, die es ihm ermöglichte, über Jahrzehnte strafbare Handlungen an seinen Schülern zu verüben, ohne dass ihm von übergeordneter Stelle oder aus der Belegschaft Widerstand geleistet oder Einhalt geboten wurde.

Er und seine Mittäter und Mitwisser schufen ein System, das – unmenschlichen Erziehungszielen verpflichtet – Kinder misshandelte und für den Rest ihres Lebens traumatisierte. In den Worten eines Betroffenen: „Die Schläge waren Alltag. Durch die Bank haben alle geschlagen.“

M. verstarb 1992 kurz nach dem Eintritt in den Ruhestand als hochverehrter Mann. Bis heute hat sich keiner der beschuldigten Mitarbeiter der Vorschule vor Gericht verantworten müssen. Die Taten sind verjährt und viele der Täter verstorben.