Der Heilige und seine Kuh
Der Heilige Ciarán brachte es in der Schwellenzeit der Alten Kirche zum Mittelalter zu einiger Bekanntheit − und nicht nur er. Ein Puzzlestück der Bildungs- und Kirchengeschichte von der Peripherie.
Es ist eine der ersten Lektionen, die Theologiestudierende in einem kirchengeschichtlichen Seminar lernen, dass mit guter Begründung eigentlich jede Epochengrenze beweglich ist. Wenn ich „meine Epoche“, die Alte Kirche, als Zeit der ersten sechs Jahrhunderte christlicher Geschichte auffasse, dann begegnen mir in der Welt der universitären Theologie mindestens in den beiden „Randjahrhunderten“ schon meine Kolleg*innen.
Das 1. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Entstehung der neutestamentlichen Schriften und es ist kein Wunder, dass Forscher*innen aus dem Neuen Testament diese Zeit gleich mitbehandeln. Das 5., spätestens aber das 6. Jahrhundert weckt dann schon die Forschungsbegehrlichkeiten der Kirchengeschichtler*innen des Mittelalters.
Das heißt aber noch lange nicht, dass uns Patristiker*innen diese Randjahrhunderte weniger interessieren. Gerade die Personen und Geschichten, die auf der Schwelle zwischen zwei Epochen stehen, sind es wert von beiden Forschungsperspektiven aus beleuchtet zu werden. Eine meiner Lieblingserzählungen aus einer dieser zeitlichen Grauzonen ist mir auf einer Reise nach Irland begegnet. In ihr geht es um den Mönch und Klostergründer Ciarán von Clonmacnoise − und, unter anderem, um seine heilige Kuh.
Seine legendarisch enorm ausgeschmückte Vita ist ein „Randphänomen“ im doppelten Sinne. Weil das 6. Jahrhundert zeitlich eine Schwellenzeit ist, stehe ich hier je nachdem, welches Thema und welche Region ich betrachte, mit mindestens einem Bein im Mittelalter. Und selbst dann, wenn ich die Akteur*innen noch der Zeit der Alten Kirche zurechne, kenne ich sie doch nur aus späteren und damit mittelalterlichen Texten und Legenden. Sie werden dadurch zu Schwellenpersonen, die in einer Epoche leben und auf eine andere einwirken.
Auch geographisch ist die Kirchengeschichte Irlands in gewisser Weise ein Randphänomen: Das Land liegt ganz am Rand der bekannten, antiken Welt. Die meisten Geschichten, die in der Alten Kirche prominent sind, spielen im Mittelmeerraum, in Ägypten, Kleinasien, Italien … In Irland entwickelte sich das Christentum zu Beginn recht eigenständig und frei. Bis zum 7. Jahrhundert war zum Beispiel noch nicht einmal der Ostertermin einheitlich geregelt. Der erste wichtige irische Missionar ist zugleich der berühmteste: St. Patrick, dessen Todestag am kürzlich vergangenen 17. März zu einem großen, gleichnamigen Festtag geworden ist.
Erst Papst Gregor I. (540−604) bemühte sich verstärkt, den römischen Einfluss auf der Insel geltend zu machen (so beschreibt es Beda Venerabilis in seiner Kirchengeschichte der Britischen Inseln). Das 6. Jahrhundert ist hier eine Aufbruchszeit. Zahlreiche, große irische Klostergründungen gehören in diese Phase. Das irische Christentum war damals noch sehr jung und es waren diese Jahre, die die Grundlagen für das Folgende schufen.
Die „Zwölf Apostel von Irland“
Ciarán, der zur Unterscheidung von berühmten Namensvettern nach seiner späteren Klostergründung Ciarán von Clonmacnoise heißt, war eine entscheidende Gestalt ganz am Anfang der monastischen Entwicklung in Irland. Er wurde vermutlich nur knapp über dreißig Jahre alt, doch er schaffte in seinem kurzen Leben einiges.
Als Sohn eines Zimmermanns wurde er ca. um 516 geboren. Seine Ausbildung erhielt er bis 534 in der frisch gegründeten Schule von Clonard beim Abt St. Finnian. Die bekanntesten zwölf Schüler aus Clonard sind zusammen die „Twelve Apostles of Ireland“. Der vermutlich berühmteste unter ihnen ist Columban von Iona bzw. Columban der Ältere, ebenfalls Klostergründer. Diese Zwölf gelten als diejenigen, die das Christentum im Allgemeinen und das monastische Leben im Speziellen in Irland etabliert haben.
Ciarán fiel unter ihnen in Clonard früh positiv auf und soll von St. Finnian aufgrund seiner Begabung schon in sehr jungem Alter hoch geschätzt worden sein und seinen Lehrer in dessen Abwesenheit vertreten haben. Böse Zungen behaupten, Neid auf Ciarán hätte alle anderen Heiligen mit Ausnahme von St. Columban dazu verleitet, für den frühen Tod des jungen Mönchs zu beten.
Nach der Lehrzeit in Clonard war Ciarán in weiteren Gebieten Irlands unterwegs, z.B. auf den Aran-Inseln. Inspiration für die asketischen Ambitionen des jungen Mönches sollen die Vorbilder der Wüstenväter gewesen sein. Die Erzählungen aus dem ältesten Einsiedlertum in Ägypten werden über Autoren wie Johannes Cassian literarisch vermittelt dem Westen zugänglich gemacht. Gestalten wie Ciarán werden zu einer Art Brücke zwischen antikem Asketentum, das als Inspiration dient, und dem irischen Mönchtum mit eigener Prägung, für das sie ihrerseits wichtige Impulsgeber werden.
Später erhielt Ciarán die Priesterweihe und zugleich auch die göttlich sanktionierte Aufgabe, ein Kloster im Herzen Irlands aufzubauen. Ungefähr im Jahr 544 gründete er dieses Kloster, Clonmacnoise, dann mit 10 Gefährten im County Offaly ziemlich genau in der geographischen Mitte Irlands. Ciarán beauftragte als Abt im Kloster noch die ersten Bauprojekte, verstarb allerdings schon bald nach der Klostergründung wohlmöglich an der Pest (oder an den Gebeten der Neider).
Begraben soll er in einer kleinen Kirche auf dem Gelände des Klosters sein, deren Ruine immer noch sein Gedächtnisort ist. Ciarán selbst hätte es der Legende nach freilich lieber gehabt, dass seine Brüder sein Vermächtnis und nicht seine Knochen bewahren.
Die Wunderkräfte der „braunen Kuh“
Berühmt wurde Ciarán für seine Gelehrsamkeit, aber auch für zahlreiche Wundertaten wie Heilungen und illustre Tiergeschichten. Tierwunder erfreuen sich gerade in Lebensbeschreibungen von Heiligen einer großen Beliebtheit, denn nichts erweist die besondere Gottesbeziehung und Macht des Heiligen besser als die Tatsache, dass sogar die Natur ihm Gehorsam leistet. Über Ciarán gibt es einige spektakuläre Erzählungen dieser Art, so hätten ihm zum Beispiel bei der Gottesdienstgestaltung ein Fuchs, der die biblischen Schriften trug, und ein Hirsch, dessen Geweih als improvisiertes Lesepult diente, geholfen.
Das berühmteste Tier in Ciaráns Umfeld ist allerdings ein anderes: Als eine Art Mitgift für die Aufnahme im Kloster wurde der junge Mönch begleitet von seiner Kuh, die schlicht als Dun Cow („braune Kuh“) in die Annalen einging. Dieses Tier hatte schon zu Lebzeiten ganz eigene Wunderkräfte und war angeblich in der Lage, das gesamte Kloster reichlich mit Milch zu versorgen.
Nachdem auch die Kuh verstorben war, wurde sie ähnlich wie ihr früherer Besitzer im Kloster weiterhin erinnert und verehrt. Die Kuhhaut wurde zunächst als Reliquie aufbewahrt und die Dun Cow von Ciarán erhielt auf diese Weise posthum eine besondere Fähigkeit, die schon für einen Menschen überaus bemerkenswert wäre: Sie hatte einen garantierten direkten Draht zum Himmel.
So konnte, wer auch immer dem Tode nahe war, auf der Kuhhaut liegen und gelangte der Legende nach, sofern er nur auf der Haut verstarb, nach dem Ableben direkt friedlich in den Himmel. Schließlich soll im 12. Jahrhundert aus dieser Kuhhaut das älteste erhaltene Manuskript in irischer Sprache, das passend so genannte „Book of the Dun Cow“ gefertigt worden sein.
Zentrum der Gelehrsamkeit und Bildung
Das 6. Jahrhundert, die Zeit Ciaráns und seiner Kuh, ist eine Grundlagenzeit, die vieles vorbereitet, dass sich erst im Laufe des Mittelalters entfaltet. Der Stein des Anstoßes, die Klostergründung, schlägt in der mittelalterlichen Geschichte ihre Wellen. Clonmacnoise liegt nicht nur tatsächlich mitten in Irland, sondern auch enorm günstig an wichtigen Verkehrsstraßen und einer Flusskreuzung über den Shannon River. Schon ab dem 7. Jahrhundert wurde es ein wichtiger Pilgerort, u.a. wegen des berühmten Gründers.
Archäologische Grabungen rund um Clonmacnoise belegen, dass das Kloster in den folgenden 600 Jahren nach Ciaráns Tod florierte und sich um den geistlichen Mittelpunkt eine Stadt ansiedelte. Zudem wurde das Kloster ein Zentrum von Gelehrsamkeit und Bildung. Über Missionare und Lehrer breitete sich der Einfluss von Clonmacnoise über ganz Europa aus, bis zu Karl dem Großen, dessen Berater Alkuin bei Mönchen aus diesem Kloster lernte.
Die Church of Ireland feiert den Gedenktag Ciaráns heute am 09. September und es gibt sogar ein passendes Gebet, das seine Leistung würdigt:
“High King of Heaven, we give thanks for the ministry of Ciaran and for the centre of learning he established at Clonmacnoise: Keep before your church such a vision of yourself and a sense of your abiding presence that we may worship you in spirit and in truth here on earth and through Christ receive heaven’s joy at the last; through Jesus Christ our Lord. Amen.”
Ciarán mag heute nicht der berühmteste Heilige Irlands sein, doch sein Kloster ist gleichwohl für Tourist*innen eine der beliebtesten Sehenswürdigkeiten des Landes. Und sogar die irische Fluggesellschaft Aer Lingus gedenkt der irischen Heiligen auf ihre Art: Hier werden die Flugzeuge nach ihnen benannt, unter anderem auch nach St. Ciarán. Damit wurde schließlich doch sein Vermächtnis bewahrt und es reicht über die Epochen hinweg bis in die Moderne hinein.
mind_the_gap – Vergessene Kapitel der Kirchengeschichte
Aus dem Schatz der Alten Kirche kramt Johanna Jürgens Neues hervor. Im Frühjahr / Sommer 2024 ging es mit Flora Hochschild bei „mind_the_gap“ bereits um vergessene Kirchengeschichte(n) aus der Frühen Neuzeit. Wir freuen uns auf Feedback, Fragen und Hinweise auf dieser Schatzsuche in die Vergangenheit!
Alle „mind_the_gap“-Kolumnen hier in der Eule.
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