Rechtsradikale Christen und LGBTQI+

Der „Ketzer der Neuzeit“ und die reale Gefahr für queere Christen

Ein rechtsradikaler Aktivist spottet auf YouTube über den queeren Universitätsgottesdienst in Berlin – und greift damit queere Christ*innen an. Was es mit dem „Undercover“-Video des „Ketzers der Neuzeit“ auf sich hat:

Am 22. Januar fand in der Reihe der Universitätsgottesdienste an der Humboldt-Universität zu Berlin ein besonderer Gottesdienst statt: Studierende der Theologischen Fakultät gestalteten an diesem Abend einen Gottesdienst zum Thema „Queere Visionen“. Angelehnt an das Semesterthema der Universitätsgottesdienste „Träume und Visionen“ ging es um die Selbst- und Fremdwahrnehmungen von queeren Christ*innen.

In den vergangenen Tagen erhitzt der queere Unigottesdienst wegen eines sog. „Undercover“-Videos des rechtsradikalen Aktivisten Leonard Jäger die Gemüter. Was ist da eigentlich passiert?

Der Vorfall

Den ersten queeren Universitätsgottesdienst in der Hauptstadt besuchte neben Studierenden und Universitätsangehörigen auch eine Gruppe rechtsradikaler Aktivisten. In ihren „Undercover“-Videos „berichten“ Leonard Jäger („Ketzer der Neuzeit“) und die Influencerin @eingollan vom Gottesdienst und von der anschließenden kleinen Feier in der Sophienkirche der Evangelischen Kirchengemeinde am Weinberg in Berlin-Mitte.

Wie aus den Videos hervorgeht, spielten sie dabei selbst Theater. Jäger fingiert in seinem Video einen spontanen und verspäteten Besuch der Veranstaltung, dabei hielten sich Teile der Filmcrew bereits längere Zeit vor Beginn des Gottesdienstes im Kirchenraum auf. Dass während des Gottesdienstes gefilmt wurde, berichteten Teilnehmer*innen den Organisator*innen erst nach Ende des Gottesdienstes. Die Verantwortlichen suchten daraufhin das Gespräch mit der Filmcrew. Zuvor hatten einige queere Teilnehmer*innen aufgrund der laufenden Filmaufnahmen die Veranstaltung bereits verlassen.

Christliche Gottesdienste in den großen Kirchen sind öffentliche Veranstaltungen, in denen eigentlich nicht „heimlich“ gefilmt werden muss. Vor allem dann nicht, wenn eine Berichterstattung mit den Veranstalter*innen abgesprochen wurde. Ihnen gegenüber gab sich die Filmcrew allerdings als Gruppe von Studierenden aus München aus. „Ich habe im Gespräch den Eindruck gewonnen, dass es sich um Allys handelt, die sich von unserem queeren Gottesdienst inspirieren lassen wollen“, schildert eine Organisator*in gegenüber der Eule ihre Begegnung mit der Filmcrew: „Sie haben sich als interessierte Studierende dargestellt, die in München selbst einen queeren Gottesdienst organisieren wollen.“

Unter seinem Video wird Jäger als „wahrer Journalist“ für seine „beste Arbeit“ bejubelt. Der Pressekodex schreibt allerdings vor, dass sich Journalist*innen grundsätzlich als solche zu erkennen geben müssen: „Unwahre Angaben des recherchierenden Journalisten über seine Identität und darüber, welches Organ er vertritt, sind grundsätzlich mit dem Ansehen und der Funktion der Presse nicht vereinbar.“

Nachdem die rechten Aktivisten auch auf der anschließenden Feier Video-Interviews führten, wurden sie von den verantwortlichen Organisator*innen darauf hingewiesen, dass eine Veröffentlichung des Bildmaterials nicht gewünscht ist. Die Filmcrew beschwichtigte die Organisator*innen, die Videoaufnahmen seien nur für den internen Gebrauch gedacht. Die Organisator*innen wiesen darauf hin, dass Teilnehmer*innen in jedem Fall zu ihrem Schutz vor Diskriminierung verpixelt werden müssten (was in den auf YouTube veröffentlichten Videos auch der Fall ist). Dass es sich bei den Filmaufnahmen nicht um ein privates Projekt handelt, wurde von den Aktivisten nicht offengelegt. „Über ihre wahren Absichten hat uns die Filmcrew getäuscht“, erklärt eine Organisator*in gegenüber der Eule, „unser Gottesdienst sollte ein sicherer Ort für queere Personen sein. Obwohl wir die Filmcrew darauf hingewiesen haben, wurde dieser safe space von ihnen verletzt.“

Kritik an queeren Gottesdiensten ist selbstverständlich erlaubt, der „Ketzer der Neuzeit“-Crew ging es jedoch ausweislich ihrer eigenen Videos um eine defamatorische Ausschlachtung des Geschehens. Das Interesse an der Veranstaltung beschränkte sich ausschließlich auf ihre Verwertbarkeit innerhalb der rechtsradikalen Hetze gegen LGBTQI auf den Kanälen der Filmcrew, wie die Protagonisten während ihrer Videos auch selbst immer wieder deutlich machen. Das Entsetzen bei den Organisator*innen über die Videos ist darum groß: „Bei der Aktion handelt es sich eindeutig um einen Angriff auf LGBTQIA+, auf queere Christ*innen. So wurde das Filmen von einigen Gottesdienstteilnehmer*innen auch wahrgenommen“.

Der Berliner Vorfall ist aus drei Gründen bedeutsam: (1) Jäger & Co. erreichen mit ihren Videos vor allem eine jüngere Zuschauer*innenschaft, der mit dem kumpeligen und hemdsärmeligen Spott über Gendern und Transidentitäten eine Brücke in die rechtsradikale Medienwelt gebaut wird. (2) Das „Undercover“-Video von Leonard Jäger, in dem auch die evangelikale Influencerin Jasmin Neubauer (@liebezurbibel) auftritt, legt darüber hinaus eine Verbindung von christlicher und rechtsradikaler Medienszene offen. (3) Die Aktion in Berlin ist nur der jüngste Vorfall in einer Reihe von Einschüchterungsversuchen sowie verbalen und körperlichen Angriffen gegen queere Gottesdienste.

Der „Ketzer der Neuzeit“

Leonard Jäger wurde znächst als rechtsradikaler Aktivist in der Querdenken-Szene bekannt, der sich – wie einige andere rechte Influencer*innen – mit Kamera und Smartphone bewaffnet auf einschlägigen Szeneveranstaltungen herumtrieb. Nach Abklingen der sog. „Corona-Proteste“ fand er im Ukraine-Krieg ein neues Thema, seit einigen Wochen bespielt er seine Kanäle vor allem mit Hetze gegen LGBTIQ+. Genderthemen sind ein fester Bestandteil rechtsradikaler Propaganda. Jeja Klein sieht auf queer.de bei Jäger vor allem „queerfeindliches Geraune über Pädosexualität, eingebettet in Verschwörungsideologie“.

Ein wichtiger Bestandteil der Kanäle von Jäger sind Straßenumfragen und sog. „soziale Experimente“, die auf der verbalen Überwältigung von unbeholfenen Protagonist*innen basieren. „Angefüttert mit Falschinformationen, sollen die Befragten zu Zugeständnissen gegenüber dem ‚Ketzer‘ gebracht werden“, erklärt Florian Schäfer bei Endstation rechts das Vorgehen Jägers, „dabei werden von ihm freilich nur die Passant:innen präsentiert, die in seinen Augen ‚entlarvend‘ auf die von ihm hervorgebrachten ‚Beweise‘ reagieren.“ Jäger ist in der verschwörungsideologischen und rechtsradikalen Welt sog. „alternativer Medien“ hervorragend vernetzt, wie Endstation rechts berichtet. Die Verbindungen reichen bis in die Reichsbürger-Szene.

Das betont jugendliche Auftreten von Jäger & Co. sollte also nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei ihnen um geübte Medienschaffende handelt, die wissen, was sie tun. Zwar war ihnen das Setting eines Gottesdienstes offenbar unbekannt (einige Crewmitglieder behielten z.B. während des Gottesdienstes ihre Mützen auf), das infantile Gekicher und die Jugendsprache sind allerdings wenig authentisch, sondern sollen vor allem Nähe zum anvisierten Publikum schaffen. Einer Faktenprüfung halten die Videos der Jäger-Crew nicht stand, davon ist das „Undercover“-Video vom queeren Unigottesdienst in Berlin keine Ausnahme.

So präsentiert sich die Filmcrew um Leonard Jäger (Mitte, mit Mütze) in der Sophienkirche (Foto: Screenshot Instagram „Ketzer der Neuzeit“)

Mit Liebe zur Bibel?

Mehrfach bekunden Jäger & Co. in ihren Videos, dass sie Solidarität mit LGBTQI+ ausgerechnet in der Kirche nicht erwartet hätten. Sprechen sich Bibel und Kirche nicht eigentlich für eine binäre Zweigeschlechtlichkeit bestehend aus Mann und Frau und gegen Gender und Homosexualität aus?

Dieses eingeschränkte Bild vom christlichen Glauben lässt sich Jäger von der evangelikalen Influencerin Jasmin Neubauer bestätigen, die sonst vor allem auf Instagram als @liebezurbibel tätig ist. Dort verbreitet sie typisch evangelikale Verkündigungsinhalte, gelegentlich werden möglichst unauffällig genuin rechte Sprache und Inhalte untergehoben. So stellt sie sich mit dem Buch „Jesus & Gender“ gegen den „wandelnden Zeitgeist und Transgender Ideologie“, „der [sic!] anfängt die Gedanken und Anschauungen unserer Kinder zu pervertieren und zu verzerren“.

Wegen ihres eindimensionalen Bibelverständnisses wurde Neubauer von anderen christlichen Akteur*innen auf Instagram bereits mehrfach kritisiert. Mit ihren über 41.000 Follower*innen auf Instagram gehört sie zu den reichweitenstärksten christlichen Influencer*innen im deutschsprachigen Raum, sie arbeitet (ausweislich ihrer eigenen Website) u.a. mit dem evangelikalen Verein OpenDoors und dem SCM-Verlag zusammen.

In perfekter „Insta-Optik“ verbreitet Neubauer betont „bibeltreue“ Inhalte, so auch im „Undercover“-Video von Leonard Jäger, der außerdem auf ein längeres Gespräch mit Neubauer hinter der Bezahlschranke seines Patreon-Angebots hinweist. Im Video zitiert Neubauer die wenigen einschlägigen Bibelstellen, die ihr zufolge beweisen würden, dass Gott gegen Transidentitäten und Homosexualität sei. Mit einer ernstzunehmenden Bibelexegese (siehe hier) haben ihre Bemerkungen nichts gemein. Der jüdische Religionswissenschaftler Pinchas Lapide brachte das Missverständnis, dem auch Neubauer erliegt, so auf den Punkt: „Man kann die Bibel nur wörtlich nehmen oder ernst. Beides zugleich geht nicht.“

Der Auftritt Jasmin Neubauers auf den Kanälen von Leonard Jäger stellt eine offene Zusammenarbeit zwischen der evangelikalen Influencerin und dem rechtsradikalen Aktivisten dar. Dabei nimmt Neubauer einen Bruch mit der bei ihr üblichen, glattgezogenen „Insta-Optik“ bewusst in Kauf. Evangelikale und rechtsradikale Medien wie Idea, Junge Freiheit und verschiedene Online-Magazine nehmen traditionell gerne Bezug aufeinander und sind personell seit Jahrzehnten gut miteinander vernetzt. Es ist darum nicht überraschend, dass auch die jüngere Generation rechtsradikaler Publizisten zusammenrückt. Gelegentlichen Besucher*innen der @liebezurBibel-Accounts bleibt das womöglich ebenso verborgen wie Jugendlichen (und deren Eltern), die an Veranstaltungen von Jasmin Neubauer teilnehmen.

Jasmin Neubauer auf einer Veranstaltung der evangelikalen Organisation OpenDoors (Foto: Screenshot Instagram @liebezurbibel)

Reale Gefahr für queere Christ*innen

Die Filmarbeiten der Jäger-Crew beim Berliner Universitätsgottesdienst mögen vor allem ein Beispiel für die unredliche und manipulative Propagandatätigkeit rechter Aktivisten und Influencer sein, sie sind aber auch Teil einer Reihe von Einschüchterungsversuchen und Angriffen auf queere Gottesdienstveranstaltungen.

Über Drohungen und queerfeindliche Aktionen gegen queere Christ*innen in Heidelberg berichtete im vergangenen Jahr die Rhein-Neckar-Zeitung, u.a. wurden eine Regenbogen-Fahne an einer Kirche heruntergerissen, Aufkleber und Flugblätter verteilt. Im Zentrum der Aktivitäten steht wohl die Gruppe „Christliche Aktion HD“. Aufgrund der konkreten Drohungen („Wir werden handeln“, „Wir sehen uns beim nächsten Queer-Gottesdienst“) fand der queere Gottesdienst im vergangenen Jahr unter Polizeischutz statt.

In Zürich wurde ein queerer Gottesdienst im Juni 2022 sogar von einer rechtsradikalen Gruppe gestört: „Einige weiss vermummte Männer versuchten, ein Kreuz mit der Aufschrift «No Pride Month» in die Kirche zu tragen. Hinter der Störaktion wird die rechtsextreme Gruppe Junge Tat vermutet“, berichtete die Aargauer Zeitung. Wegen der Störung hat die Polizei Ermittlungen gegen Mitglieder der Neonazi-Gruppe aufgenommen, berichtet das Mannschaft Magazin.

Queere Gottesdienste, die vor allem während des Pride-Months oder anlässlich von Christopher Street Days veranstaltet werden, finden inzwischen vermehrt unter Polizeischutz statt. Christliche Gottesdienste im deutschsprachigen Raum benötigen diesen Schutz für gewöhnlich nicht. Bei den Aktionen handelt es sich zunächst nicht um Angriffe auf die Religionsfreiheit, auch wenn sie natürlich – wie die „Undercover“-Filmaufnahmen in Berlin – in die Religionsfreiheit queerer Christ*innen und damit in ihre persönliche Lebensgestaltung eingreifen, sondern um queerfeindliche Gewalt. Das Anliegen der Kirchen, sichere Orte für das Zusammentreffen und die Religionsausübung von LGBTQI+ zu sein, wird dadurch massiv angefragt.

„Die Gefahr, dass es zu Angriffen kommt, ist real“, berichtet eine Organisator*in der Heidelberger Queergottesdienste auf Twitter. „Was wir damals bei unserem [Gottesdienst, Anm. d. Red.] benötigt haben: Verantwortungsträger*innen in Kirchenbezirk, Landeskirche, Fakultät, Uni und politischer Gemeinde, die beherzt unterstützen, mit uns zur Polizei gehen, uns beraten und schützen. Die sich öffentlich solidarisieren, wo immer sie gehört werden können.“

Mit den Berliner Studierenden, die den queeren Universitätsgottesdienst organisierten und die von den Videos von Jäger & Co. unmittelbar betroffen sind, solidarisierten sich bisher vor allem andere queere Christ*innen und manche Unterstützer*innen auf Instagram. Eine öffentliche Solidarisierung durch Universität und Theologische Fakultät sowie die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) (siehe unten) steht bis dato noch aus.


Update, Freitag, 24. Februar 2023, 13:15 Uhr: Statement EKBO

Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) hat sich mit einem klaren Statement mit den Studierenden solidarisiert, die den queeren Universitätsgottesdienst organisiert haben. Bischof Christian Stäblein, Pröpstin Christina-Maria Bammel und der Präses der Landessynode, Harald Geywitz, erklärten gemeinsam (PDF):

„Wir sind bestürzt über die Verächtlichmachung und Hetze gegen den ersten queeren Universitätsgottesdienst, die in den sozialen Medien verbreitet wird. Wir verurteilen diese Hetze scharf.

Solches unangemeldetes, verdecktes Filmen verletzt nicht nur die Regeln öffentlicher Kommunikation. Sie stellt einen Angriff auf die Integrität der Gottesdienstteilnehmenden dar.

Gottesdienste sind safe spaces für alle, insbesondere queere Christ*innen in unseren Gotteshäusern. Wir stehen ausdrücklich hinter den
Studierenden, die diesen Gottesdienst initiiert und gestaltet haben.

Die EKBO steht für die Rechte queerer Menschen in unserer Gesellschaft und queerer Christ*en in unserer Kirche. Wer sie angreift, greift uns alle an.“

Update, Freitag, 24. Februar 2023, 16:45 Uhr: Brief Universitätsprediger Prof. Notger Slenczka und ESG-Pfarrerin Ulrike Wohlrab

In einem Brief an das Vorbereitungsteam (PDF), der auch auf den Websites der Universitätsgottesdienste und der Evangelischen Studierendengemeinde veröffentlicht wird, bedanken sich Ulrike Wohlrab, Pfarrerin der Evangelischen Studierendengemeinde Berlin (ESG), und der amtierende Universitätsprediger Prof. Notger Slenczka ausdrücklich für den ansprechenden und berührenden Gottesdienst. Zu den Videos schreiben sie:

„Dass der Inhalt dieser Videos so weit an dem vorbeigeht, was Sie gemeinsam erarbeitet und vermittelt haben, ist mindestens enttäuschend. Wir haben mit Kolleginnen und Kollegen an unserer Fakultät, mit unserem Dekan und mit Vertreterinnen unserer Gemeinde und der Kirchenleitung gesprochen: alle teilen ausdrücklich das Urteil, dass der Inhalt dieser Videos gerade angesichts dessen, was sie gewollt und gesagt haben, unsäglich ist, und haben uns gebeten, Ihnen das mitzuteilen. […]

Wir werden jedenfalls gern im kommenden Semester wieder einen solchen Gottesdienst mit Ihnen feiern – dass er notwendig ist, zeigen, wie gesagt, genau diese Videos.“


Alle Eule-Artikel zu LGBTQI+ und Kirche.


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