Die Geschichte zu ihrem Recht kommen lassen

Der Historiker und Publizist Götz Aly feiert heute seinen 75. Geburtstag. Seine Forschungen und Bücher sind Geschichtsunterricht im besten Sinne – und gerade heute unverzichtbar.

Heute feiert der Historiker und Journalist Götz Aly seinen 75. Geburtstag. Zu diesem Anlass gratulierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit einem eigens verfassten Brief: „Mit Ihren Forschungen zum Nationalsozialismus, die Sie vielfach außerhalb des etablierten Wissenschaftsbetriebs betreiben mussten, haben Sie unermüdlich blinde Flecken der deutschen Geschichte ausgeleuchtet.“

Alys Arbeiten auf kurze Sätze herunterzubrechen, wird ihnen und der Geschichte, die sie erzählen, nicht gerecht. Sie sind ein großes „Auch“, das Kritiker:innen nicht gerne hören wollten, das bis heute in der pop-kulturellen und auch journalistischen Befassung mit dem Nationalsozialismus wenig Beachtung findet und in das Schulwissen um den Nationalsozialismus noch nicht vorgedrungen ist. Wer die Geschichte nicht kennt, läuft Gefahr, sie zu wiederholen. Europa und Deutschland – viele begreifen es in diesen Tagen erneut – sind geschichtssatt und geschichtsvergessen zugleich. Götz Alys Bücher können helfen:

Blinde Flecken der Geschichte

Der deutsche Vernichtungskrieg war nicht allein in der nationalsozialistischen Ideologie begründet, sondern auch ein Raubzug der Deutschen durch Europa, von dem weite Teile der Bevölkerung bis in die letzten Kriegstage hinein profitierten. So ließen sie sich korrumpieren. Nicht zuletzt durch zahlreiche sozialpolitische Wohltaten, die in den Nachfolgestaaten Nazi-Deutschlands bis heute in hohem Ansehen stehen. Ja, von denen wir heutigen Deutschen uns kaum vorstellen können, sie wieder oder „nur“ deshalb abzuschaffen, weil sie in Hitlers Reich eingeführt wurden. Waren die Deutschen überzeugte Nazis? Ja, und nicht zu knapp. Aber sie waren eben auch und zu einem noch viel größeren Teil Nießnutzer des Krieges und des Mordens, die eigentlichen „Parasiten“ des Kontinents. („Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus.“, 2005)

In vielen Fällen ideologisiert, aber vor allem auch korrumpiert waren die zehntausenden Familien, KrankenpflegerInnen und ÄrztInnen, die an der „Vernichtung unwerten Lebens“ teilnahmen und die „Euthanasie“-Programme in den Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern überall im Land umsetzten. Die freigewordenen Betten wurden von verwundeten Soldaten belegt. Nicht wenige Familien waren froh, erleichtert oder zumindest nicht uneinverstanden damit, von der Last der Pflege eines kranken oder behinderten Familienangehörigen befreit zu werden. Und von den Kanzeln des Landes erhob sich nur in absoluten Einzelfällen Kritik an der Praxis des Krankenmordes, der doch eigentlich allen christlichen Überzeugungen zuwider war. So machten sich auch jene mitschuldig, die das Angebot des Regimes zum Wegsehen annahmen. („Die Belasteten. „Euthanasie“ 1939–1945. Eine Gesellschaftsgeschichte.“, 2013)

Und gerade in diesen Tagen des Ukraine-Krieges aktuell, nicht erst seit den antisemitischen Einlassungen des russischen Außenministers Lawrow: Dem von Deutschen orchestrierten und maßgeblich durchgeführten Völkermord an den europäischen Juden gingen Verfolgung, Diskriminierung, Pogrome und Mord an den Juden in (fast) allen europäischen Nationen voraus. Der Judenhass der Europäer, das Mit- und Gegeneinander von religiösen und nationalen Minderheiten prägt bis heute – häufig unbewusst – das politische Handeln. Was wird verteidigt, wenn „europäische Werte“ gegen Barbarei und Mord in Stellung gebracht werden? Wem schulden die Deutschen aus Verantwortung gegenüber der Geschichte Solidarität und Waffenhilfe? („Europa gegen die Juden. 1880–1945.“, 2017)

Ein ganz anderer Horror

Götz Aly wurde vorgeworfen, seine Forschungen kratzten an der deutschen Schuld. Ein nicht nur infamer, sondern gefährlicher Vorwurf. Zu verstehen, was die Deutschen jenseits der Massenhysterie in der Zeit des Nationalsozialismus zu Verbrechern machte, heißt nicht, Schuld oder Verantwortung abzustreiten, sondern zu begreifen.

Wenn Aly auf die Not und Armut der Deutschen und Europäer abhebt, die Judenhass und Krankenmord auch zu Grunde lagen, weil sie Neid und Missgunst gebaren, dann nicht um Verbrechen zu entschuldigen, sondern um sie zu erklären. Darum wird, wer eines von Alys „späten“ zusammenfassenden Sachbüchern gelesen hat, nicht weniger entsetzt über die Verbrechen der Deutschen und ihrer Helfer sein, sondern vor einem ganz anderen Horror stehen:

„Es reicht nicht, auf der einen Seite die vielen Opfer zu beklagen und auf der anderen rund 500 Nazitäter als gewissenlose Ideologen, Bösewichte oder Mörder im weißen Kittel zu verteufeln. Auf Dauer bedeutsam, vielleicht lehrreich bleibt die Frage nach den gesellschaftlichen Verhältnissen, nach jener Vielzahl von Menschen, die zwischen den unmittelbaren Mördern und den Ermordeten standen.“
(Götz Aly: „Die Belasteten“, S. 14)

Der Historiker Götz Aly wird den kurzen Zusammenfassungen (s.o.) und aktuellen Bezügen seiner Werke wahrscheinlich widersprechen. Allzu häufig, so kritisiert er, fragen Historiker:innen nicht danach, was war, sondern was ihnen in ihr Weltbild passt. Der Publizist Götz Aly ist mit seinen eigenen weltanschaulichen Überzeugungen hart ins Gericht gegangen. Seine Kritik an den 68ern enthält Wahrheitsmomente, die wir in den Debatten der Gegenwart wahrnehmen müssen, doch erscheint mir sein Urteil ein wenig zu unversöhnlich. Auch sein Werk steht in dieser Traditionslinie der kritischen Revision der deutschen Geschichte. Seine Darstellungen der Ökonomie des Hasses zeigen auch, dass er ein Linker geblieben ist.

Vor einigen Monaten hat Aly sein reges publizistisches Wirken vor allem in der Berliner Zeitung reduziert. „Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten.“ von 2021 ist sein bisher letzter großer Aufschlag, der nicht nur ein weiteres Kapitel deutscher Geschichte beleuchtet, sondern die aktuelle Debatte um den (Post-)Kolonialismus informiert und erdet. Wie allen Aly-Büchern ist auch dem „Prachtboot“ zu eigen, dass es historische Forschungen in einer Sprache vermittelt, der man das journalistische Können anmerkt.

Alys Büchern liegt an vielen Stellen ein biographisches Interesse zugrunde. Sie machen auch darum neugierig, sich mit der eigenen (Familien-)Geschichte zu befassen, ihre bisher verborgenen und auch verschwiegenen Kapitel zu entdecken, sprachfähig zu werden über unsere Geschichte – und damit für die Gegenwart und Zukunft. Sie sind Geschichtsunterricht im besten Sinne.

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