Die Lücken schließen mit „Was ist los mit Jaron?“

Eine neues „Serious Game“ von UBSKM und Kultusministerien klärt über sexuelle Gewalt auf. Als digitale Fortbildung ist „Was ist los mit Jaron?“ für Lehrer:innen sowie Ehren- und Hauptamtliche in der Kirche geeignet.

„Statistisch gesehen, sitzen in jeder Schulklasse ein bis zwei betroffene Schülerinnen oder Schüler“, erklärt der Lehrer hinter seinem Schreibtisch. „Allerdings bleiben die meisten Fälle vom schulischen und familiären Umfeld unbemerkt. Wenn Sie noch nie mit einem „Fall“ zu tun hatten, heißt das vermutlich nur, dass ihnen noch keiner aufgefallen ist.“

Genau das will die digitale Fortbildung über sexuelle Gewalt „Was ist los mit Jaron?“ ändern. Der Kurs wird vom Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, in Kooperation mit den Kultusbehörden der Länder angeboten. Er kann kostenlos und anonym besucht werden. Oder man absolviert ihn als angemeldete:r Nutzer:in und erhält am Ende sogar eine Teilnahmebestätigung, die als Fortbildungsnachweis bundesweit gültig ist.

Durch den Kurs führen animierte Comic-Figuren, die auch als Darsteller:innen in den vielen Praxissituationen fungieren, in die der Kurs die Teilnehmer:innen mitnimmt. Dort gilt es dann selbst tätig zu werden und Fragen zu beantworten, die vom Szenario gestellt werden. Zusätzlich bietet „Was ist los mit Jaron?“ eine digitale Studienmappe an, deren Inhalt auch außerhalb der digitalen Lernwelt genutzt werden kann. Auf explizite Darstellungen oder Schilderungen sexualisierter Gewalt verzichtet der Kurs, um die Möglichkeit einer Überforderung zu minimieren.

Auch für die Kirche geeignet

Das Serious Game gibt es in zwei Versionen für Grundschulen und weiterführende Schulen, aber es ist auch für Pädagog:innen anderer Schulformen geeignet. Es bietet sich für die Fortbildung von ehren- und hauptamtlichen Mitarbeiter:innen an anderen Lernorten und in allen Kontexten an, in denen mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet wird – auch für die Kirche.

Während der Corona-Pandemie seit dem Frühjahr 2020 wurden auch dort zahlreiche Fortbildungen aufgeschoben, abgesagt oder im besten Falle digitalisiert. Gerade die Befassung mit sexuellem Missbrauch hat darunter zu leiden, denn nur selten trauen sich Referent:innen und Teilnehmer:innen eine angemessene digitale Umsetzung einer Fortbildung zum Thema zu. Und: Das Niveau der Fortbildungen ist in den evangelischen Landeskirchen und katholischen Bistümern sowie Freikirchen höchst unterschiedlich. Die dafür eingesetzten Referent:innen kommen mit der Arbeit kaum hinterher, auch fehlen einheitliche Standards, welche Ausbildung sie überhaupt mitbringen müssen. Gelegentlich sind dann „Seiteneinsteiger:innen“ ohne ausreichende traumatherapeutische oder generell psychotherapeutische Expertise im Einsatz.

In der Fläche herrscht nach wie vor viel Ratlosigkeit und deshalb auch Unsicherheit im Umgang mit sexualisierter Gewalt und konkreten Verdachtsfällen. Die Weiterbildung von Ehrenamtlichen, außerhalb der großen Jugendverbände, ist kümmerlich. Die KultusministerInnen und Johannes-Wilhelm Rörig wollen mit „Was ist los mit Jaron?“ eine Million Lehrer:innen fortbilden, die in Schulen in Deutschland tätig sind. Nichts spricht dagegen, hier noch die zahlreichen haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen der Religionsgemeinschaften und Kirchen hinzuzunehmen. Und zwar ganz unabhängig davon, ob sie primär mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, oder nicht.

Vom mulmigen Bauchgefühl zur richtigen Reaktion

25 % der Fälle sexuellen Missbrauchs werden von Eltern verübt, 50 % der Täter:innen stammen aus dem Familien- und Bekanntenkreis der Kinder und Jugendlichen. Schulen, aber auch Kirchgemeinden, könnten Orte werden, an denen aufmerksam auf Anzeichen sexueller Gewalt geachtet wird, damit Betroffene Hilfe finden können. Die ersten Zeichen sind eben nicht die sprichwörtlich gewordenen „blauen Flecken“, sondern z.B. Verhaltensänderungen von betroffenen Kindern und Jugendlichen. Für diese will „Was ist los mit Jaron?“ sensibiliseren. Der Kurs lässt die Teilnehmer:innen erkunden, wie man in verschiedenen Situationen gut und besser reagieren kann. Und an wen man sich bei Verdachtsfällen wenden soll.

Genau daran hapert es vor allem: Vom mulmigen Bauchgefühl gelegentlicher Beobachter:innen von Kindern und Jugendlichen bis zur Meldung beim zuständigen Jugendamt ist es ein langer Weg. Viele Ehren- und Hauptamtliche trauen sich eine erste Kontaktaufnahme mit betroffenen Kindern und Jugendlichen nicht zu oder reagieren falsch. Dabei gibt es im Bildungssektor und auch in den Kirchen und Religionsgemeinschaften bereits vielfach Ansprechpartner:innen und Meldestellen, an die man sich mit einem konkreten Verdacht oder auch nur mit Nachfragen wenden kann. Die Lücke hin zu den professionellen Unterstützungsangeboten muss geschlossen werden.

Eine der Praxis-Fragen, die Teilnehmer:innen beantworten müssen. Bild: Screenshot „Was ist los mit Jaron?“

„Was ist los mit Jaron?“ vermittelt anhand praxisnaher Fallbeispiele grundlegendes Wissen zum Thema sexueller Kindesmissbrauch, zum Beispiel zu Täterstrategien, zur sensiblen Gesprächsführung mit belasteten Schüler:innen, zu konkreten Unterstützungsangeboten, zur Rolle von schulischen Beschäftigten beim Umgang mit sexueller Gewalt und wann die Kinderschutzakteure außerhalb der Schule einbezogen werden und übernehmen sollten.

Der Kurs ist darum allen Menschen zu empfehlen, die regelmäßig oder gelegentlich mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, aber auch für diejenigen interessant, die im Haupt- und Ehrenamt Verantwortung in Vereinen oder Kirchgemeinden übernehmen (s. Testbericht unten). Personen, die schon einmal an einer Fortbildung teilgenommen haben, kann der Kurs (inkl. Begleitmaterial) als Vertiefung oder Auffrischung dienen.

Tat- und Lernort Kirche

Schule und Kirche können auch Tatorte sein. Auf dem Tatort Kirche liegt seit 2010 besonderes Augenmerk (wir berichten). Seitdem hat es auf dem Feld der Missbrauchs-Prävention viele Fortschritte gegeben, gerade in den konfessionellen Jugendverbänden.

Kinder- und Jugendgruppen und -Freizeiten, Kirchgemeinden und besonders die Schule können auch „Schutzorte“ werden, ist sich Johannes-Wilhelm Rörig sicher. Denn dort arbeiten und leben Menschen, die „Veränderungen wahrnehmen, belasteten Kindern und Jugendlichen Gesprächsangebote machen und ihnen Zugang zu Hilfe ermöglichen“ können. „Hierfür müssen sie keine Kinderschutzexperten sein – sollten aber im Sinne des Kinderschutzes wissen, was sie bei einem Verdacht tun können.“


Testbericht: Serious Game „Was ist los mit Jaron?“


Von der Comic-Optik soll man sich nicht täuschen lassen: „Was ist los mit Jaron?“ verhandelt ein ernstes Thema. Schon bald bin ich in den Kurs so „eingetaucht“, dass die technische Seite des „Spiels“ völlig in den Hintergrund trat. Die Bedienung ist einfach und ziemlich intuitiv. Die Entwickler:innen geben für den Kurs eine Dauer von 2 bis 4 Stunden an. Nun bin ich weder Lehrer noch stehe ich dem Thema als Neuling gegenüber, die Maximaldauer habe ich also längst nicht ausgeschöpft. Das liegt auch daran, dass ich nur auf wenige der zahlreichen Infoboxen geklickt habe, die weiterführende Informationen bieten.

Mit dem Spiel und dem Begleitmaterial kann man sich viele Stunden intensiv mit dem Thema sexuelle Gewalt befassen. Nach meinem Eindruck ist der Kurs darum tatsächlich als erstmalige Fortbildung auf diesem Gebiet geeignet. Seine besondere Stärke liegt in den Comic-Praxissituationen, in denen sich die Teilnehmer:innen selbst verhalten müssen. Das würde man analog im besten Fall mit Rollenspielen versuchen. Die richtig anzuleiten, ist allerdings eine Kunst, die nicht alle Referent:innen beherrschen. Konzentriert man sich auf die Beispiel-Situationen ist der Kurs auch als Auffrischung und Re-Sensibilisierung geeignet. In diesem Fall ist man natürlich auch schneller durch.

Als angemeldete:r Nutzer:in kann man den Kurs jederzeit unterbrechen und zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen. Das ist Nutzer:innen, die den Kurs als erste Weiterbildung und zur Erlangung einer Fortbildungs-Bescheinigung absolvieren, dringend zu empfehlen. Ein Teilnahmenachweis kann auch nur mit vorheriger Anmeldung ausgestellt werden. (Man kann den Kurs auch ohne Anmeldung antesten und sich erst zu einem späteren Zeitpunkt anmelden.) Dann jedenfalls sollte man sich für „Was ist los mit Jaron?“ zwei Abende oder einen Tag Zeit nehmen. Für eine Re-Sensibilisierung, in Vorbereitung zum Beispiel auf das neue Schuljahr oder eine Kinder- und Jugendfreizeit, genügt auch schon ein Abend am Rechner.

Ich halte den Kurs, trotzdem er auf die Schule als Lernort angelegt ist, auch geeignet für Mitarbeiter:innen in Kirchen und Religionsgemeinschaften. Die notwendige Phantasie bei der Adaption auf andere Lernorte ist Haupt- und Ehrenamtlichen zumutbar. So könnte „Was ist los mit Jaron?“ auch Lücken schließen, die es – auch wegen der Corona-Pandemie – bei der Präventions-Ausbildung reichlich gibt. Mehr noch: Jenseits der praktischen Präventionsarbeit bietet der Kurs auch viele Informationen, die für Entscheidungsträger:innen, z.B. in den Synoden, wertvoll sind.

„Was ist los mit Jaron?“ beseitigt einige Hürden, die sich interessierten Ehren- und Hauptamtlichen in den Weg stellen, wenn sie sich mit dem Thema befassen wollen oder sollen. Nicht nur entfallen Reise- und Tagungskosten, auch kann man sich die Zeit für den Kurs gut einteilen. Gerade für vielbeschäftigte Menschen und Eltern, die sich nicht für ein paar Tage freimachen können, ist der digitale Kurs darum eine wertvolle Alternative zu analogen Fortbildungen oder überstürzt digitalisierten Formaten mit zweifelhafter Qualität. Diese Fortbildungsmöglichkeit lässt also nur noch wenig Raum für Ausreden, sich nicht mit sexualisierter Gewalt auseinanderzusetzen.