Die Quittung

Die Kirchen veröffentlichen ihre Mitgliedschaftszahlen für das vergangene Jahr 2019. Die Zahl der Kirchenaustritte nimmt stark zu. Das Vertrauen der Christ*innen zur Institution Kirche ist nachhaltig gestört, kommentiert Philipp Greifenstein.

Diese Zahlen kann man sich nicht schön reden. Noch nie sind in einem Jahr mehr Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten wie 2019. Der neue Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Bischof Georg Bätzing aus Limburg, versucht es darum auch gar nicht erst. Die Zahlen zeigten, dass trotz aller Bemühungen „eine Vielzahl von Menschen nicht mehr für das kirchliche Leben“ motiviert werden könnten.

Doch der scharfe Anstieg von ca. 20 % bei den Kirchenaustritten aus beiden großen Kirchen zeigt noch mehr: Es geht nicht allein darum, dass das Werben der Kirchen um Köpfe und Herzen scheitert – zumindest bei den je ca. 270 000 Personen, die den evangelischen Kirchen und den römisch-katholischen (Erz-)Bistümern im Jahr 2019 den Rücken kehrten. Der Zuwachs bei der Zahl der Kirchenaustritte ist Ausweis eines tief gestörten Vertrauensverhältnisses vieler Christ*innen zu ihren Kirchen.

Die Zeit läuft ab

Dass die Austritte aus der römisch-katholischen Kirche 2019 zunehmen würden, wurde allgemein erwartet. Im Herbst 2018 veröffentlichte die DBK die sogenannte MHG-Studie zum systematischen sexuellen Missbrauch. Der Schock sitzt bis heute tief. Doch sei an dieser Stelle noch einmal an eine Selbstverständlichkeit erinnert: Ursächlich für die Austritte ist nicht die Veröffentlichung der Studie, sondern das Problem, das sie beschreibt. Die Menschen verlieren das Vertrauen in die Institution Kirche, weil sie ihr die Aufarbeitung der Missbrauchskrise nicht mehr zutrauen.

Zwar ist auf dem Feld der Missbrauchsprävention in beiden Kirchen viel erreicht worden, bei der Aufarbeitung, inkl. Benennung und Bestrafung von Verantwortlichen und Entschädigung der Betroffenen, tun sich die Kirchen aber auch fast zwei Jahre nach der MHG-Studie und zehn Jahre nach den Enthüllungen am Canisius-Kolleg Berlin schwer. Öffentliche Debatten über Umfang und Finanzierung von Entschädigungszahlungen haben sicher nicht geholfen. Eher wirken die Kirchen so besonders hartherzig.

Vielleicht motiviert die Angst vor solchen statistischen Effekten, wie dem Kirchenaustrittsanstieg des letzten Jahres, ja die – wohlwollend formuliert – Zurückhaltung bei der Beauftragung und Veröffentlichtung von Aufarbeitungsstudien in beiden Kirchen. So zieht sich die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in beiden Kirchen weiter hin. Die Menschen verlieren die Geduld. Die Zahlen mahnen zur Eile und dazu, endlich reinen Tisch zu machen.

Sichtbar wird auch: Kirchenskandale werden in ökumenischer Eintracht ausgebadet. Wer aufgrund der schleppenden Aufarbeitung der Missbrauchsskandale aus einer evangelischen Landeskirche austritt, beweist ein gutes Näschen. Auch wenn es in der Presse vor allem um die katholische Kirche geht, wenn Missbrauchsaufarbeitung angemahnt wird, sieht es bei den Evangelen nicht besser aus. Dass die Austrittszahlen nahezu identisch sind, zeigt, dass sich das evangelische Verstecken hinter den römisch-katholischen Geschwistern nicht auszahlt.

Die Engverbundenen lösen sich

Gottesdienstbesuch und Kirchenmitgliedschaft sind zwei verschiedene Paar Schuh‘: Für ca. 90 %  der katholischen und 95 %  der evangelischen Christ*innen ist der allwöchentliche Gottesdienst nicht mehr Zentralveranstaltung ihres Glaubens. Umso wichtiger nehmen die Kirchen die Gestaltung von Lebenswenden durch Kasualien und Sakramente wie Taufen, Konfirmation/Firmung, Trauungen und Bestattungen.

Der zum Teil erhebliche Rückgang beim Sakramenten-Empfang in den römisch-katholischen Bistümern deutet darauf hin, dass die Vertrauenskrise längst bei denen angekommen ist, die ihre Kinder früher selbstverständlich zu Erstkommunion und Firmung schickten, sich gerne kirchlich trauen ließen. Zwar setzt sich der Trend zum geringeren Gottesdienstbesuch nicht ganz so derb fort wie in den vergangenen beiden Jahren – als in einzelnen Bistümern der Messbesuch um mehr als 10 % sank -, aber wer schon nicht mehr kommt, kann ja nicht noch einmal fernbleiben.

Untersuchungen zeigen, dass vor allem Menschen im Alter von 20 bis 35 Jahren aus den Kirchen austreten. Die Kirchen erreichen junge Menschen weder mit ihrem Angebots-Portfolio, noch mit ihrer lebensweltlichen Orientierung. Hübsche Digitalformate nützen wenig, wenn sich die Institution Kirche an engherzige Sozialmodelle klammert. „Wir wollen euch nicht! Ihr seid nicht richtig!“ hören nach wie vor viel zu viele junge Menschen ihre Kirchen sagen.

Einige mutige Schritte in die richtige Richtung werden jedoch unternommen: Die katholische Kirche begibt sich auf einen langen „Synodalen Weg“, der irgendwie die Kluft zwischen dem real life der Katholik*innen und ihrer Kirche überbrücken soll. Und die Synode der EKD wird ab dem kommenden Jahr junge Menschen überrepräsentieren (wir berichteten).

Beide Kirchen stehen vor der Aufgabe, Kirche auch für diejenigen zu werden, die (schon) nicht mehr da sind. Was wohl die älteren und alten Menschen dazu sagen werden, die nach wie vor an Bord sind? Zu befürchten ist nämlich, dass sich durch die neuerlichen katastrophalen Zahlen diejenigen bestärkt fühlen, die die sinkenden Kirchensteuermittel vor allem für die eigene Klientel verwendet sehen wollen.

Relevanz statt Repräsentanz

Für die evangelischen Kirchen sind die Austrittszahlen auch deshalb ein ernüchterndes Ergebnis, weil 2019 ein gutes Jahr für die Darstellung der Evangelen in der Öffentlichkeit war. Der Evangelische Kirchentag in Dortmund (#Gurkentruppe), der umtriebige EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm und das Engagement für die Seenotrettung (#WirschickeneinSchiff) brachten der Kirche fast durchgängig positive Schlagzeilen.

Sollten am Ende diejenigen Recht behalten, die angesichts des politischen Engagements der EKD und ihrer Führung vor Kirchenaustritten konservativer Christ*innen warnten? Wegen der Seenotrettung ist jedenfalls kaum jemand in die Kirche eingetreten. Gleichwohl haben sich beide Kirchen mit ihrem Eintreten für die Flüchtlinge auf dem Mittelmeer hartnäckig am Evangelium orientiert und damit an gesellschaftlicher Relevanz gewonnen. Darauf wird es in Zukunft noch stärker ankommen.

Nur noch 25 % (evangelisch) bzw. 27 % (katholisch) der Menschen in Deutschland gehören einer der beiden großen Kirchen an. Diese Zahlen könnten sich perspektivisch halbieren. Die Kirchen geraten an die Grenzen ihres Anspruchs, weite Teile der Gesellschaft zusammenzuführen, auch wenn sie gemeinsam nach wie vor knapp die Hälfte der Bevölkerung umfassen (43 Millionen Menschen).

An die Stelle der Repräsentanz muss die Relevanz des kirchlichen Handelns in der Gesellschaft auch für Menschen jenseits ihrer eigenen Mitgliedschaft treten, wenn die beiden großen Kirchen nicht zu Partikularinteressensvereinen werden wollen. Nur wenn Kirche nicht um sich selber kreist, kann sie auch darauf hoffen, die Zahl der Kirchenaustritte in Zukunft wieder zu verringern.