Ein Hausvater, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt
Anlässlich des 75. Geburtstages von Richard Rohr haben wir mit dem Theologen und Autor Andreas Ebert gesprochen, der gemeinsam mit ihm seit Jahrzehnten „auf dem Weg“ ist.
In der Vor-Rede zu „Der wilde Mann“ von 1986 stellt Andreas Ebert Richard Rohr dem deutschen Publikum vor und schließt:
„Der Brückenschlag von der Bibel zu aktuellen psychologischen und gesellschaftlichen Fragestellungen gelingt ihm ohne klerikale Tricks. Er steht in der Kirche und ist doch einer ihrer radikalen Kritiker. Er hat hoffnungsvolle Zukunftsvisionen, die nicht nur aus dem Nachdenken kommen, sondern in seiner Lebensgemeinschaft mit Erfolgt erprobt wurden und werden.“
Eule: Herr Ebert, sind diese hoffnungsvollen Zukunftsvisionen heute noch aktuell?
Ebert: Wenn Richard Rohr über die Bibel spricht oder über christliche Werte, ist es so, dass auch Menschen, die meilenweit weg von der Kirche stehen, große Ohren kriegen und plötzlich etwas damit anfangen können. Das war so, als ich ihn kennengelernt habe und ist bis heute so geblieben.
Was er für die Männerarbeit geleistet hat, das ist gewaltig. Daraus hat sich, glaube ich, das weltweit größte christliche Netzwerk für Männerarbeit entwickelt, das eben keinem fundamentalistischen Lager zuzuordnen ist. Es gibt unglaublich viele Männer in Europa – in Österreich, Deutschland und auch Tschechien – und den USA, die die Männerinitiation gemacht haben und ein Bewusstsein dafür haben, dass Männer eine besondere Aufgabe haben in der Gesellschaft, aber eben auch in der Kirche. Was heißt es Verantwortung zu tragen für die nächste Generation, vor allem für die Söhne?
Eule: Vaterschaft und das oft gestörte Verhältnis von Söhnen und Vätern sind immer wieder Thema bei Richard Rohr.
Ebert: Viele Söhne leiden darunter, dass ihr Vater abwesend war oder kalt. Es fehlt an väterlicher Liebe und Zuwendung. Richard Rohr arbeitet daran, dass Männer das verdauen, sich versöhnen und selber Verantwortung übernehmen für die eigenen Kinder, für die eigene Generation. Da ist wegweisend und da ist auch viel passiert. Vor allem in der österreichischen katholischen Kirche, die sich von Richard Rohrs Ideen für die Firmpastoral hat begeistern lassen. Da werden z.B. die Paten ganz stark eingebunden.
Eule: Wie sieht das in Deutschland aus?
Ebert: In Deutschland wurde Richard Rohr auf jeden evangelischen Kirchentag eingeladen. Ich glaube, er war noch nicht einmal auf einem Katholikentag. Hier ist er eher ein evangelisches Phänomen, das kann aber auch daran liegen, dass ich ihn als evangelischer Theologe nach Deutschland gebracht habe und weil der Claudius-Verlag zunächst seine Bücher herausgab. Vieles was er angestoßen hat, ist in Deutschland eingemündet in die „Männerpfade“. Das ist eine ökumenische Vereinigung die deutschlandweit agiert und unter dem Dach des spirituellen Zentrums St. Martin zuhause ist. Es werden Fort- und Ausbildungsangebote gemacht und vor allem Initiationsseminare angeboten. In diesem Jahr zum ersten Mal auch für junge Männer.
Eule: Im Zentrum der Männerspiritualität steht bei Richard Rohr dieses Initiationsgeschehen. Was hat es damit auf sich?
Ebert: Richard Rohr war als Kaplan eine Zeit lang bei Pueblo-Indianern in New Mexico, die so zweigleisig schwimmen: Sie sind katholisch und sie haben ihre Stammesbräuche und Stammesreligion da hinein integriert. Dort hat er das erste Mal erlebt, wie die jungen Männer neben der Firmung im Alter von 12 oder 13 Jahren „verschwunden“ sind. Die waren längere Zeit mit älteren Männern im Wald und haben dort ihre Initiation erlebt. Was da genau passiert, ist streng geheim. Was er feststellte war, dass die jungen Männer nach ihrer Wiederkehr total verwandelt waren. Vorher waren sie Kinder und plötzlich waren sie junge Männer. Die Frage ist also: Was muss passieren, dass aus Jungen Männer werden?
Initiationsriten gab es in fast allen Kulturen, bis auf die westliche Kultur der letzten zwei bis drei Jahrhunderte. Es gibt kein ritualisiertes Programm, dem junge Männer und auch Frauen folgen können, um erwachsen zu werden. Firmung und Konfirmation sind zwar da, und dass es da etwas braucht, hat ja auch der sozialistische Staat erkannt und die Jugendweihe forciert. Was dabei inhaltlich passiert ist aber meist sehr verkopft, es geht häufig um die Vermittlung einer Ideologie, einer christlichen oder einer atheistischen, die man da eingeübt bekommt und nachbeten muss.
Das ist überhaupt nicht, was mit Initiation gemeint ist. Initiation ist ein ganzheitliches Geschehen. Da gehören Mutproben dazu, Konfrontationen mit den großen Themen des Lebens. Nicht nur im Nachdenken, sondern immer verbunden mit echten Initiationsritualen.
Eule: Warum sind echte Initiationsrituale so wichtig?
Ebert: Wenn die nicht da sind, dann schaffen vor allem junge Männer sich ihre eigenen Rituale: Der erste Suff, der erste Sex, die erste Droge, der Führerschein. Das sind alles Rituale des Erwachsenwerdens, aber sie sind nicht unbedingt konstruktiv, sondern zum Teil destruktive Gruppenrituale. Aber das Bedürfnis sein Mannsein zu beweisen ist da. Dabei braucht es gute Mentorenschaft.
Richard Rohrs These ist es, dass wir alle nicht gut initiiert sind, vor allem junge Männer nicht. Deshalb hat er in der Auseinandersetzung mit den Traditionen vieler Völker christliche Rituale geschaffen, die sich an den Themen orientieren, die da immer wieder eine Rolle spielen: Trauer und Wut. Schmerz auszudrücken, der vielleicht aus der frühesten Kindheit stammt, eigenen Mangel zu spüren. Es geht um eine Suche in der Stille, loszugehen in den Wald mit der Frage „Wer bin ich eigentlich?“. Dazu gehört häufig eine Tauferinnerung und am Schluss das Ritual. Rohr sagt, es ist nie zu spät, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Das passiert auf den mehrtägigen Initiationen.
Männerpfade – Initiationen nach Richard Rohr in Deutschland
Männerpfade ist die Gemeinschaft initiierter Männer aus ganz Deutschland, die ihre Erfahrungen auf ihrem individuellen und spirituellen Weg bündeln, um sie an andere Männer weiterzugeben. Sie wurde 2007 nach einer von Richard Rohr durchgeführten Initiation gebildet. Im Juni 2009 führte sie gemeinsam mit Verantwortlichen des Centers for Action and Contemplation („Zentrum für Aktion und Kontemplation“, s.u.) erstmals seit längerem wieder eine Männer-Initiation in Deutschland durch. Seitdem führen initiierte Männer von Männerpfade in Deutschland jeweils in Jahren mit ungerader Jahreszahl Initiationen durch. Vom 1. bis 5. August richten die Männerpfade eine Initiation für junge Männer aus (mehr erfahren).
Eule: Es kann geschehen, dass wer Männer problematisiert und eine Männerbefreiung einfordert, leicht missverstanden wird. Er wird dann in die Ecke sog. Maskulinisten gestellt, die ein reaktionäres Bild vom Mann haben.
Ebert: Die Männerbewegung besteht von Anfang an aus zwei Richtungen mit unterschiedlichem Ansatz: Die eine Schule sagt, Männer müssen weicher werden, empfindsamer, liebevoller. Vom Klischee her könnte man sagen: Die Männer müssen mehr wie Frauen werden. Und auf der anderen Seite haben wir eben diesen Maskulinismus: Die Männer müssen endlich wieder Kerle sein, ihren inneren Krieger ausleben, und wieder „Ja!“ sagen zu traditionellen Männerrollen. Das gibt es auch in konservativen christlichen Kreisen. Es geht dort darum, traditionelle Rollenmodelle zu bestätigen.
Der Ansatz von Richard Rohr ist auch an dieser Stelle kein entweder oder, sondern ein sowohl als auch. Er kommt da stark von der alten Typenlehre her, den vier männlichen Archetypen: Der Krieger, der Magier, der König und der Liebhaber. Diese Archetypen sind nicht per se schlecht oder gut, sie erscheinen in dunklen und hellen Varianten. Das sind Kräfte die miteinander in Spannung stehen und die versöhnt werden müssen.
Eule: Wir haben uns in der EULE in den vergangenen Wochen mit #MeToo und #ChurchToo befasst, und dabei festgestellt, dass es die sich selbst unsicheren Männer sind, die zur Gefahr für Frauen und Kinder werden, mit denen sie zusammenarbeiten oder die ihnen anvertraut sind. Ist die Männerspiritualität da eine Antwort drauf?
Ebert: Ja, zum Teil ganz sicher. Wenn wir auf den Männerseminaren arbeiten, schauen wir uns die Schattenseiten des Lebens an. Deshalb ist es wichtig da in kleinen Gruppen unter Männern zu sein. Die Männer zeigen sich gegenseitig ihre Wunden und fangen an zu trauern und zu ihrem Schmerz zu stehen. Das ist der Beginn der Heilung.
Richard Rohr hat etwas gesagt, was mir sehr wichtig ist: Was wir nicht heilen, was nicht versöhnt wird, was nicht transformiert wird, das projizieren wir auf andere, das geben wir weiter an unsere Kinder, an unsere Frauen, an unsere Umwelt. Ich gebe das weiter, was mir auch schon geschehen ist von meinen Vorfahren. Da ist – besonders in Deutschland – so viel unverarbeitetes Material in den Familiengeschichten, was in solchen Seminaren dann auf den Tisch kommt. Der Fluch muss gebrochen werden.
Eule: Richard Rohr leitet in New Mexico das Zentrum für Aktion und Kontemplation. Ein weiteres Thema, mit dem er sich intensiv befasst.
Ebert: Richard Rohr steht in der Tradition des kontemplativen Gebets, der Suche nach Gott in der Stille. Es geht darum das Lauschen einzuüben, die Wirklichkeit wahrzunehmen ohne zu urteilen. Dazu gehört zentral die Überwindung des Dualismus, der noch immer die Theologien und Kirchen beherrscht. In Gott vereinigen sich die Gegensätze. Es geht nicht um entweder oder, sondern um sowohl als auch.
Dieses Denken war bei Richard Rohr schon da, als ich ihn mit Mitte Zwanzig kennenlernte. In seiner katholischen Kommunität New Jerusalem waren z.B. Frauen und Männer absolut gleichberechtigt, mit paritätischen Leitungsfunktionen. Es geht also auch um die Überwindung des Dualismus aus Männlichkeit und Weiblichkeit. Die Kirche braucht die Weiblichkeit. Daran sieht man auch die Verbindung von Aktion und Kontemplation: Aus dem Gebet kommt das Engagement für die Welt. Die Aktion gibt der Kontemplation Richtung, die Kontemplation verhindert, dass man sich in der Aktion verliert.
Eule: Ein weiteres ihrer Projekt, bei dem sie Richard Rohr inspiriert hat, ist das Enneagramm. Meine Wahrnehmung ist, dass meine Generation vom Enneagramm kaum gehört hat. Wie erklären sie jungen Menschen heute, was es mit dem Enneagramm auf sich hat?
Ebert: Meine Erfahrung ist, dass sich dafür auch junge Menschen unglaublich begeistern lassen. Ich habe noch nie so viele Enneagramm-Seminare gehalten wie zurzeit. Ich habe auch schon mit Schulklassen gearbeitet und gerade jetzt wieder mit einer Gruppe Novizen im Kloster. In jeder Generation passiert es, dass das Enneagramm wieder auftaucht. Beim Enneagramm geht es, ähnlich wie bei der Männerspiritualität, um die Frage „Wer bin ich?“. Es geht darum wahrzunehmen: Was ist meine Strategie, wie ich am besten durchs Leben komme. Deshalb ist die Arbeit mit dem Enneagramm immer mit einem „Aha!“-Erlebnis verbunden.
Eule: Als ich das Enneagramm in meinem FSJ zum ersten Mal zur Hand genommen habe, hat ein befreundeter Gemeindepädagoge mir gesagt, für das Buch sei ich eigentlich noch zu jung.
Ebert: Das würde ich heute anders sehen als früher, wo wir gesagt haben, man sollte schon 30 Jahre alt sein, bevor man mit dem Enneagramm anfängt. Klar, junge Menschen nehmen das eher mental auf. Aber das reicht auch erst mal. Sie haben schon einmal eine Idee davon, dass es eben verschiedene Strategien gibt, durchs Leben zu kommen. Es geht darum herauszufinden: Wie reagiere ich auf Krisen, warum wiederholt sich manche Misere immer wieder. Das Enneagramm kann wichtig werden in der sogenannten midlife-Krise, aber es gibt eben auch so etwas wie eine quarterlife-Krise, was wir an den vielen jungen Menschen sehen, die zu Beratungen kommen.
Eule: Die „Generation PublikForum“ hat sich auf eine Reise gemacht, die wir Jüngeren aus unterschiedlichen Gründen nicht antreten, bei denen spielen viele unterschiedliche Spiritualitäten eine Rolle. Dabei würde ich sagen, dass die Sehnsucht nach einem Glauben, der Spiritualität und tätiges Leben zusammenführt nach wie vor da ist. Eine junge Theologin hat vor kurzem erst darüber geschrieben, dass Pastoren wieder „Geistliche“ werden müssen.
Ebert: Das beschreibt vor allem einen Mangel in der theologischen Ausbildung, gerade bei Protestanten. Auch im Predigerseminar gibt es das nicht wirklich außer den traditionellen Andachten, wo dann jeder so eine kleine Predigt hält. Was schon Bonhoeffer in seinem Predigerseminar gemacht hat, war die Aufgabe an seine Vikare, jeden Tag über einen Bibeltext zu meditieren. Meditieren ist mehr als nachdenken. Es geht darum, sich berühren zu lassen.
Daraus kommt dann auch eine Ausstrahlung, das hat schon der alte Theologe Schleiermacher gewusst, der davon gesprochen hat, dass Theologen religiöse Virtuosen sein müssen. Was sie vermitteln wollen, dass muss in ihnen leben. Für Schleiermacher spielte da seine eigene Herkunft aus der Herzensfrömmigkeit Herrnhuter Prägung eine große Rolle. Theologen müssen nicht zuvorderst Gelehrte und Theoretiker sein, sondern Menschen in das Geheimnis des Glaubens einweihen. Eine rein theologische Weltdeutung erreicht die Herzen nicht.
Eule: Der alte Schleiermacher, den die meisten Theologen doch aus dem Studium kennen sollten …
Ebert: Ja, Richard Rohr hat mir erst vor zwei Jahren geschrieben, er habe jetzt Schleiermacher für sich entdeckt. Man sieht daran, dass es vieles schon in unserer eigenen Tradition gibt, was sich lohnt neuentdeckt zu werden. Vielleicht betonen wir hier die intellektuelle Seite Schleiermachers auf Kosten seiner Frömmigkeit zu sehr. Wenn Religion bei Schleiermacher nicht Metaphysik, nicht Weltdeutung und erst recht nicht Moral ist, sondern eine „eigene Provinz im Gemüte“, dann ist das das Gleiche, was wir mit Spiritualität meinen: „Geschmack und Sinn für das Unendliche“ nennte es der alte Schleiermacher.
Schon im Neuen Testament lesen wir: „Darum gleicht jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist, einem Hausvater, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt.“ (Mt 13, 52) Das ist ein Wort, das mir sehr wichtig ist, ich liebe es. Zuerst das Neue annehmen und ergreifen und wenn ich das mache, dann entdecke ich im Alten wieder etwas, was mich berührt, und ich staune, was da in den alten Traditionen schon drinsteckt.
Eule: Um noch einmal auf ihre Vorrede zum Wilden Mann zurück zu kommen, sie schreiben darin, dass Richard Rohr vor allem ein Redner ist und kein Schreiber. Seit ihrer Vorrede sind 30 Jahre vergangen und Richard Rohr gehört im Rückblick zu den fleißigsten und auflagenstärksten christlichen Autoren, auch dank ihrer Übersetzungen. Wenn Sie nur eins seiner Bücher für unsere Leser empfehlen würden, welches wäre es dann?
Ebert: Wir haben jetzt zum 75. Geburtstag ein Buch im Claudius-Verlag herausgegeben „Geheimnis und Gnade“, da sind Texte aus vier Jahrzehnten drin. Das ist ein guter Einstieg, um die ganze Bandbreite mitzukriegen. Es sind kleine Kostproben, bei denen man dann auf den Geschmack kommt.
Eule: Herzlichen Dank für das interessante Gespräch!
Das Interview führte Philipp Greifenstein.
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