„Verantwortung übernehmen, auch wenn es unbequem ist“
Auf der Tagung der EKD-Synode in Dresden wurden Ergebnisse der Arbeit im Beteiligungsforum (BeFo) und Fortschritte bei der Umsetzung der Empfehlungen der „ForuM-Studie“ vorgestellt. Ein Überblick.
Auf den Tagungen der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) wird einmal im Jahr ein Rechenschaftsbericht in Sachen „Missbrauch evangelisch“ vorgestellt: Was ist aus den großen Vorhaben auf den Handlungsgebieten Prävention, Intervention, Aufklärung, Aufarbeitung und Anerkennung des Leids binnen eines Jahres geworden? Wo gibt es – den Worten der Betroffenensprecherin Nancy Janz folgend – Auseinandersetzungen, Lernerfolge und/oder Scheitern?

Am Informationsstand des BeFo auf der EKD-Synode werden Wünsche an Kirche und Diakonie ausgestellt, die auf dem Evangelischen Kirchentag 2025 in Hannover formuliert wurden. (Foto: Philipp Greifenstein)
Seitdem die EKD quer zu ihrer Gremienstruktur aus Synode, Rat und Kirchenkonferenz im Jahr 2022 das Beteiligungsforum sexualisierte Gewalt in der EKD und Diakonie (BeFo) eingerichtet hat, werden die jährlichen Fortschrittsberichte im Tandem von Betroffenensprecher:innen und kirchlichen Beauftragten eingebracht. Da Co-Sprecher Detlev Zander sein Sprecheramt derzeit ruhen lässt, wurde der BeFo-Bericht in diesem Jahr von der verbliebenen Betroffenensprecherin Nancy Janz und der Sprecherin der kirchlichen Beauftragten im BeFo Dorothee Wüst, Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche der Pfalz, gehalten.
Zur Erinnerung: Alle EKD-Gremien haben sich dazu verpflichtet, alle Entscheidungen, die in Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt stehen, in Absprache mit dem BeFo zu treffen. Eine derartige Einbindung von Betroffenen in die Entscheidungen der Organisation, in der sie Leid erfahren haben und Opfer von Verbrechen wurden, ist in Deutschland nach wie vor einmalig.
Neben den BeFo-Bericht (PDF) trat, wie im vergangenen Jahr, ein Update zur Umsetzung des „ForuM-Maßnahmenplans der EKD“. (Beide Berichte stehen als Live-Mitschnitt auf dem YouTube-Kanal der EKD zur Verfügung.) In Folge der Veröffentlichung der „ForuM-Studie“ über sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche und Diakonie an Kindern und Jugendlichen im Januar 2024 – wir berichteten – wurde vom Beteiligungsforum in Zusammenarbeit mit den Landeskirchen und Organen der EKD ein umfangreicher Maßnahmenplan erarbeitet, der nun peu à peu unter Federführung des BeFo abgearbeitet werden soll. Zu diesem Prozess hatten sich im Nachgang der Veröffentlichung der „ForuM-Studie“ alle EKD-Gliedkirchen und Landesverbände der Diakonie Deutschland bekannt (wir berichteten).
Anerkennungsleistungen
Das für Betroffene in und jenseits evangelischer Strukturen drängendste Vorhaben bleiben auch in diesem Jahr die Anerkennungsleistungen. Bei der Synodentagung 2024 in Würzburg stellte das BeFo bereits Pläne zur Vereinheitlichung und Standardisierung der Anerkennungsleistungsverfahren in den 20 EKD-Gliedkirchen und Landesverbänden der Diakonie Deutschland vor.
Im Frühjahr 2025 wurde die neue Anerkennungsrichtlinie der EKD vom Rat der EKD und von der Kirchenkonferenz verabschiedet, nachdem zuvor noch ein Stellungnahmeverfahren der Landeskirchen absolviert wurde (wir berichteten). Noch mehr Verbindlichkeit lässt sich in der evangelischen Kirche nur durch ein ordentliches EKD-Kirchengesetz herstellen, dem allerdings ein mehrjähriges Gesetzgebungsverfahren vorausgeht, an dessen Ende die Zustimmung aller Gliedkirchen stehen muss.
In ihrer Höhe sollen sich die kirchlichen Anerkennungsleistungen an den Schmerzensgeldzahlungen orientieren, die in vergleichbaren Fällen vor Gericht zugesprochen werden, hieß es bereits zur Synodentagung 2023. Die neue Richtlinie setzt bewusst keine Obergrenze für die Zahlungen in Anerkennung des Leids, die sich nicht allein an der Schwere der Tat, sondern auch an den Langzeitfolgen des Missbrauchs für die betroffene Person orientieren soll. Zu diesem individuellen Betrag tritt noch eine Pauschalleistung von 15.000 Euro hinzu, wenn dem Fall ein strafbares Handeln des Täters zugrunde liegt. Zum 1. Januar 2026 sollte das neue Anerkennungsleistungssystem in der evangelischen Kirche an den Start gehen.
Bereits im Juli 2025 setzte Dorothee Wüst im Eule-Interview an dieses ambitionierte Ziel ein Fragezeichen. Verzögerungen ergeben sich zunächst deswegen, weil die Einrichtung der neuen Anerkennungsleistungskommissionen in neun Verbünden von Kirchen und diakonischen Verbänden parallel zur Umsetzung der Richtlinie in das geltende Recht der 20 EKD-Gliedkirchen und der Diakonie Landesverbände erfolgt. Einige Landessynoden und Diakonie-Landesverbände befassen sich damit erst in den kommenden Wochen.
Obergrenze durch die Hintertür?
Auseinandersetzungen gibt es zudem um den sogenannten Anhaltskatalog: Eine Sammlung „hypothetischer Fälle“, die den Mitgliedern der Unabhängigen Anerkennungsleistungskommissionen bei der Vereinheitlichung der Spruchpraxis helfen soll. Für ähnliche Fallkonstellationen sollen auch ähnliche Anerkennungsleistungen zugesprochen werden, um Betroffene nicht weiterhin regional zu diskriminieren. Die aktuelle Diskussionsgrundlage enthält, wie die Eule erfahren hat, auch Richtwerte für die Höhe der Zahlungen. Die Betroffenenvertreter:innen im BeFo befürchten, dass auf dem Umweg über den Anhaltskatalog doch noch faktisch Obergrenzen für die individuellen Leistungen eingezogen werden könnten.
Ein weiterer Streitpunkt ist, ob sich der Anhaltskatalog – wie angekündigt – tatsächlich an den aktuell vor deutschen Gerichten in Zivilverfahren erstrittenen Schmerzensgeldern orientieren soll oder am Leistungsspektrum des staatlichen Opferentschädigungsrechts, das auch die (Spät-)Folgen des Missbrauchs in den Blick nimmt. Dann ginge es am Ende aber auch um die finanzielle Würdigung von konkreten Krankheitsbildern und Diagnosen. Entsprechende Kompetenz dafür wird in den einzelnen Kommissionen allerdings nur fragmentarisch vorgehalten.
Handlungsfähig können die Kommissionen jedoch auch werden, ohne dass sich das BeFo und die EKD-Gremien über einen Anhaltskatalog handelseinig werden, betonten Janz und Wüst in Dresden. „Faule Kompromisse“ werde man als Betroffenenvertretung nicht eingehen, versprach Janz weiter. Andere Instrumente zur Vereinheitlichung der Sprachpraxis werden gegenwärtig jedoch nicht geprüft. Vor der Synode warnte Wüst, die bisher erreichten Verabredungen dürften von den einzelnen Landeskirchen nicht durch „Bedenken und Fragen aufgeweicht und zerfleddert“ werden.
Unabhängige Regionale Aufarbeitskommissionen (URAKs)
Im Wesentlichen nichts Neues hatte das BeFo auf der Synodentagung zu den Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommissionen (URAKs) mitzuteilen. Noch immer ist die URAK für die Konföderation der evangelischen Kirchen Niedersachsens und Bremen nicht konstituiert. Man wartet dort auf die niedersächsische Landesregierung, die zwei unabhängige Expert:innen für die Mitarbeit benennen muss, nachdem ihr erster Personalvorschlag in der Betroffenenvertretung durchgefallen war (wir berichteten).

Die neun Verbünde der Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommissionen (URAKs)
In den weiteren acht URAK-Verbünden konnten sich im Laufe des Jahres 2025 die Kommissionen immerhin konstituieren: In Sachsen mit ein paar Monaten Verzögerung und in Württemberg unter Missachtung der Regeln, die in der „Gemeinsamen Erklärung“ von Kirchen und Diakonie mit der Unabhängigen Bundesbeauftragten gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen (UBSKM), Kerstin Claus, verabredet wurden.
Die Vereinbarung sieht die Einladung in Betroffenenforen vor, bei denen eine Betroffenenvertretung gebildet wird, aus deren Reihen wiederum die Betroffenenvertreter:innen in die URAK entsandt werden. Die verschiedenen Kreise sollen auch als kommunizierende Röhren für Informationen, Ratschläge und Hinweise funktionieren. In Württemberg hatte sich die URAK mit „kommissarisch“ berufenen Betroffenenvertreter:innen konstituiert, ohne dass rechtzeitig eine Betroffenenvertretung gebildet wurde (wir berichteten).
Die zahlreichen Unsicherheiten und Probleme der URAKs kamen auf der EKD-Synodentagung in Dresden nur in wolkigen Umschreibungen zur Sprache. Die URAKs seien, sagte Wüst bereits im Sommer gegenüber der Eule, „Gremien mit hohem Betreuungsbedarf“. Wie Die Eule von Mitgliedern von URAKs und Betroffenenvertretungen aus fünf URAK-Verbünden erfahren hat, sehen sie sich vor eine Reihe von Problemen gestellt, die von den URAKs, Kirchen und Diakonie-Landesverbänden noch bewältigt werden müssen, damit die Kommissionen ihrer Arbeit in Zukunft gut nachgehen können.
Betroffene kritisieren insbesondere die mangelnde institutionelle Trennung der URAKs von der Kirche. Dabei geht es derzeit weniger darum, dass die Landeskirchen und Diakonie-Landesverbände auf dem Weg der Budgetierung konkreter Aufarbeitungsprojekte doch Einfluss auf Richtung und Umfang der Aufarbeitung nehmen könnten. Gegenwärtig wird in den URAKs vor allem an einer Orientierung im vorgegebenen Aufgabenfeld und bestenfalls an einer Priorisierung der von betroffenenen Personen bisher schon eingereichten Anliegen gearbeitet. Konkrete Aufarbeitungsprojekte gibt es noch nicht, die zu Beauftragungen an Forscher:innen führen könnten.
Vielmehr geht es Betroffenen darum, dass URAKs flächendeckend in kirchenamtlichen Bürogemeinschaften tätig und über kirchliche Telefonnummern und E-Mail-Adressen erreichbar sind. Auch sind die URAK-Geschäftsführungen wohl nur unzureichend personell und institutionell von den Fachstellen für sexualisierte Gewalt der jeweiligen Landeskirchen getrennt.
Das verärgert vor allem jene Betroffene, die bei den URAKs ihre Beschwerden über die bisherige Arbeit der Fachstellen vortragen wollen. Für die noch in der jüngsten Vergangenheit defizitäre Begleitung betroffener Personen durch kirchliche Stellen legte die „ForuM-Studie“ reichlich Belege vor. Auch mit Blick auf bereits entstandene Konflikte in den Betroffenenvertretungen und URAKs gelobte Wüst vor der Synode Besserung: Es brauche „weiterhin Arbeit an Strukturen, die möglichst verletzungsfreie Räume sein können“.
Die „Gemeinsame Erklärung“ mit der UBSKM sieht eine vollständige institutionelle Trennung von Kirche/Diakonie und URAKs nur dem Geiste nach, aber nicht im Wortsinn vor. Das Fehlen einer eigenständigen Rechtsform für die URAKs sei ein Webfehler der „Gemeinsamen Erklärung“, wird von Kirchenvertretern zur entschuldigenden Erklärung der organisationalen Verschränkungen vorgebracht. Gleichwohl drückt sich in den Fehlern bei der Einrichtung der URAKs auch aus, dass die Kirchen beim viel beschworenen Kulturwandel noch viel Wegstrecke vor sich haben. Stehen die Interessen der Betroffenen tatsächlich im Zentrum?
Systematik von Missbrauchsfällen und Reform der Gewaltschutzrichtlinie
Konkrete Fallzahlen enthalten die Berichte zum „Missbrauch evangelisch“ auf der EKD-Synodentagung auch in diesem Jahr nicht. Diese werden weiterhin vornehmlich in den 20 EKD-Gliedkirchen je nach verschiedenen Systematiken gesammelt und den Landessynoden und dadurch mittelbar der Öffentlichkeit zur Kenntnis gegeben. Was ist ein Missbrauchsfall? Welche Tatvorgänge gelten als sog. „Altfälle“? Was ist je damit gemeint, wenn eine Landeskirche von einem Missbrauchsgeschehen mit „digitalem Hintergrund“ spricht?
Eigentlich gibt die geltende Gewaltschutzrichtlinie der EKD für eine einheitliche Systematik von Missbrauchsfällen wenigstens im Raum der Kirche Maßstäbe vor, die auch solche Fälle greifbar macht, die vom Strafrecht nicht umfasst sind. Allein, eine Übereinkunft zwischen den EKD-Gliedkirchen und darum erfolgreiche Zusammenstellung der (jährlichen) Missbrauchszahlen der evangelischen Kirche in ihrer Gesamtheit ist, so hat es die Eule aus der Fachstelle sexualisierte Gewalt des EKD-Kirchenamts erfahren, ein work in progress. Vielleicht gelingt es ja bis zur Synodentagung 2026 in Würzburg?
Die Novelle der EKD-Gewaltschutzrichtlinie, so ist dem Fortschrittsbericht zum „ForuM-Maßnahmenplan“ zu entnehmen, soll in BeFo und in den EKD-Gremien bis Ende 2027 abgeschlossen sein. Dass die evangelische Kirche die erst im Herbst 2019 von den EKD-Gremien beschlossene und in den Folgejahren in den EKD-Gliedkirchen in geltendes Recht umgesetzte Richtlinie schon wieder reformieren will, erklärt sich aus dem Umstand, dass ein Gros der Reformempfehlungen der „ForuM-Studie“ die Handlungsfelder Prävention und Intervention betreffen, die in der Richtlinie geregelt werden.
Ein Recht auf Aufarbeitung?
Die Arbeit an einem weiteren großen Regelwerk soll im kommenden Jahr beginnen: Die evangelische Kirche will sich ein eigenes Aufarbeitungsgesetz geben. Da der Deutsche Bundestag trotz des Drängens der UBSKM keine Anstalten macht, ein Bundesaufarbeitungsgesetz auf den Weg zu bringen, das für alle Tatkontexte in Kirche, Sport, Schulen etc. gelten würde, hält man eine eigene kirchliche Gesetzgebung für nötig. Und das, obwohl sonst am „Entrümpeln“ der Kirchengesetze gearbeitet wird, unnötige Doppelungen und nicht-zwingend notwendige Sonderregeln sollen entfallen, um die kirchliche Rechtspflege verschlanken zu können.
„Ein gutes Bundesaufarbeitungsgesetz würde uns natürlich entlasten“, erklärte Kirchenpräsidentin Wüst dazu gegenüber der Eule: „Letzten Endes wird die Politik aber woanders gemacht.“ Wann die Arbeit an einem Aufarbeitungsgesetz-EKD abgeschlossen werden kann und wie es dereinst einmal aussehen wird, steht noch in Sternen. In den EKD-Gliedkirchen wird zum Beispiel skeptisch auf das „Recht auf [individuelle] Aufarbeitung“ geschaut, das die UBSKM als Zielvorgabe für Aufarbeitung in der Gesamtgesellschaft vorgegeben hat.
Allen Betroffenen Aufklärung über „ihren“ Fall zu ermöglichen, ist ein ressourcenintensives Unterfangen. Würde ein solches Recht im Kirchenrecht kodifiziert, ergäbe sich daraus in den EKD-Gliedkirchen die Notwendigkeit, den dann nicht nur berechtigten, sondern auch rechtmäßigen Ansprüchen von Betroffenen zu genügen. Auch entstünde ein erheblicher finanzieller Aufwand für die schrumpfenden Landeskirchen.
„Jede verschobene Entscheidung, jedes vertagte Thema ist eine Entscheidung gegen Betroffene“, warnte Betroffenensprecherin Janz im Plenum der EKD-Synode. Die im BeFo mitarbeitenden Betroffenen erlebten immer wieder, „dass Mitgefühl an die Stelle von Verantwortung tritt, dass Betroffenheit gezeigt, aber kaum gehandelt wird“. Empathie sei gut, doch sie genüge nicht. Man brauche „keine neuen Bekundungen des Bedauerns, sondern Menschen, die handeln – die Verantwortung übernehmen, auch wenn es unbequem ist“.
Alle Eule-Beiträge zum Themenschwerpunkt „Missbrauch evangelisch“.
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