Wie die Evangelische Kirche am Missbrauch scheitert

Wie weit ist die Evangelische Kirche bei der Aufarbeitung des Missbrauchs gekommen? Zum Beginn der diesjährigen EKD-Synode analysiert Philipp Greifenstein die Lage:

Zur Synode 2018 hat die EKD einen 11-Punkte-Handlungsplan für die Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche beschlossen. Im letzten Jahr wurde eine erste Bilanz gezogen, an der auch Betroffenenvertreter:innen teilnahmen, die auf der EKD-Synode in Dresden sprachen und an Workshops teilnahmen (wir berichteten). Inzwischen ist wieder ein Jahr vergangen. Auf der EKD-Synode in den nächsten Tagen werden die Betroffenen nicht dabei sein.

Darum haben sie in einer eigenen Pressekonferenz am gestrigen Freitag über ihre Sicht der Dinge informiert. Der Synode selbst wird das Thema mit dem Bericht des Beauftragtenrates zum Schutz vor sexualisierter Gewalt am Montag – ausschließlich schriftlich – vorgelegt. Nach ausführlichen Recherchen ist es der Eule möglich, den aktuellen Stand der Bemühungen der Evangelischen Kirche um die Aufarbeitung des Missbrauchs schon heute darzustellen:

Wie viele Betroffene gibt es?

Die ehrliche Antwort darauf ist: Wir wissen es nicht. Es ist davon auszugehen, dass rund 900 Fälle den evangelischen Kirchen auf die ein oder andere Weise bekannt sind. Der Psychiater Jörg Fegert hatte 2018 ausgehend von einer zufälligen Bevölkerungsstichprobe 100 000 mögliche Betroffene in evangelischen Kontexten errechnet. Während letztere Zahl erschreckend hoch wirkt, ist die erste definitiv zu klein.

In der MHG-Studie der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) werden für die Katholische Kirche 3 677 Fälle genannt. Seit einem Zwischenbericht des unabhängigen Aufarbeitungsprojekts „Erfahren.Verstehen.Vorsorgen (EVV)“ im Bistum Mainz können wir eine um das Zweieinhalbfache vergrößerte Betroffenenzahl für die Katholische Kirche annehmen, also ca. 9 200 Personen. Der Zwischenbericht erlaubte zum ersten Mal einen Blick in das sog. Dunkelfeld des Missbrauchs, denn in Mainz werden nicht nur über die Jahre bei der Kirche angezeigte Fälle gezählt.

Es gibt keinen Grund, für die evangelischen Kirchen nicht eine ähnlich hohe Betroffenenzahl anzunehmen. Was an strukturellen Missbrauchsrisiken im Vergleich zu den Katholiken entfällt, wird durch andere Risikofaktoren und -Bereiche ausgeglichen. Bis zum Erweis des Gegenteils durch eine Aufarbeitungssstudie, die anhand wissenschaftlicher Kriterien die Betroffenenzahl in der Evangelischen Kirche darstellt, wird man also von ca. 10 000 Missbrauchsfällen in den vergangenen 75 Jahren ausgehen müssen.

Hell und Dunkel – Studie(n) bis 2023:

Im Juni 2020 informierte die EKD, die Kirchenkonferenz der 20 EKD-Gliedkirchen habe „mit einem einstimmigen Beschluss der Beauftragung einer umfassenden Aufarbeitungsstudie zugestimmt“. „Ein unabhängiger Forschungsverbund wird in sechs Teilstudien Ursachen und Besonderheiten von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche untersuchen“, informierte gestern Vatican News auf Grundlage eines KNA-Interviews mit Bischöfin Kirsten Fehrs (Hamburg/Lübeck, Nordkirche), der Sprecherin des EKD-Beauftragtenrates. „Die auf Kosten von 3,6 Millionen Euro veranschlagte Studie soll innerhalb von drei Jahren Ergebnisse liefern und dabei alle Landeskirchen sowie die Diakonie einbeziehen.“

Was in dieser Außendarstellung zu kurz kommt, ist, dass die umfänglichen Studien eben nicht wie die MHG-Studie 2018 für die Katholische Kirche eine Betroffenenzahl für einen bestimmten Untersuchungszeitraum (Prävalenz) präsentieren werden. Vielmehr handelt es sich vor allem um „qualitative“ Studien, die spezifisch evangelische Missbrauchsrisiken erforschen sollen. Auch 2023 werden die evangelischen Christen in Deutschland durch diese Studien nicht wissen, wie viele Menschen tatsächlich in ihren Kirchen von sexueller Gewalt betroffen waren/sind.

Studiendesign und Kooperationsvereinbarung sind nur wenigen Menschen bekannt, müssten aber öffentlich diskutiert werden, um den Wert der von der Kirchenkonferenz beschlossenen Beauftragung für die Aufarbeitung in den evangelischen Kirchen umfassend bewerten zu können. Auf Nachfrage der Eule, ob die Kooperationsvereinbarung veröffentlicht werde, erklärte ein EKD-Sprecher:

„Im beiderseitigen Einvernehmen zwischen Beauftragtenrat und Forschungsverbund ist dieses Dokument aktuell nicht öffentlich und eine Veröffentlichung ist derzeit auch nicht vorgesehen.“

Keine dieser Studien wird sich mit dem Dunkelfeld des Missbrauchs beschäftigen. Eine Dunkelfeldstudie soll in Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Akteuren unter Koordination des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) der Bundesregierung durchgeführt werden. Seit 2019 hat sich nach Informationen der Eule dazu kein neuer Sachstand ergeben.

Laut Vatican News erklärte Fehrs im Interview mit der KNA, dass die Arbeit an einer Missbrauchs-Studie bald beginnen könne, es fehlten nur noch „allerletzte, rein formelle Schritte“. Die Ausschreibung der Studien lief bis zum 15. Januar 2020. Danach sollte es laut dem Bericht des Beauftragtenrates auf der EKD-Synode 2019 „zeitnah in die Umsetzung“ gehen. Die EKD spricht von den Studien als einem Teil der sog. „institutionellen Aufarbeitung“. Betroffenen-Sprecher:innen weisen immer wieder darauf hin, dass wissenschaftliche Studien die Aufarbeitung in den Kirchen nicht ersetzen können.

Neue Gewaltschutzrichtlinie und Fachstelle im EKD-Kirchenamt

Im vergangenen Herbst beschloss der Rat der EKD mit Zustimmung der Kirchenkonferenz der Gliedkirchen eine Gewaltschutzrichtlinie, die im Anschluss auf der EKD-Synode als Erfolg präsentiert und verbucht wurde (auch von uns). Die Umsetzung in geltendes Kirchenrecht obliegt den Gliedkirchen der EKD – den 20 evangelischen Landeskirchen.

Auf Nachfrage der Eule erklärt ein EKD-Sprecher, hierzu nur die Zahlen aus dem März 2020 vorliegen zu haben. Die betreffenden Informationen würden „erneut Mitte/Ende November 2020 erfasst“. Die Corona-Pandemie hat sicher zu Verzögerungen bei der Implementierung der Gewaltschutzrichtlinie in den Landeskirchen geführt, weil die gesetzgebenden Landessynoden im Frühjahr und Herbst teilweise verschoben oder verkürzt werden mussten oder – wie die EKD-Synode nun an diesem Wochenende – rein digital stattfanden oder -finden.

Laut EKD waren demnach „im März 2020 bei acht Landeskirchen die Planungen zur Umsetzung angelaufen, acht sahen die Umsetzung für die Herbstsynode 2020 vor oder mussten aufgrund der Pandemiesituation die Umsetzung dahin verschieben“. Vier Landeskirchen haben der EKD bis März die Umsetzung gemeldet, „teilweise auch aufgrund schon bestehender Gewaltschutzgesetze“.

Zum 1. Juli 2020 hat die neue „Fachstelle sexualisierte Gewalt“ im Kirchenamt der EKD in Hannover ihre Arbeit aufgenommen. Sie ist mit drei – für den kirchlichen Kontext – sehr jungen Mitarbeiter:innen besetzt, darunter zwei Kriminologinnen. Die drei frischen und in den Gliedkirchen wenig vernetzten Kräfte treffen dort auf seit Jahren eingefahrene Strukturen und müssen sich auf die Vorarbeit aus Landeskirchen und EKD-Kirchenamt verlassen, die seit 2010 bzw. 2018 geleistet wurde.

Wirklich unabhängige Aufarbeitungskommissionen / Gemeinsame Erklärung mit UBSKM

Irgendwann reißt jedem mal der Geduldsfaden und so äußerte sich der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, im Sommer recht deutlich im Deutschlandfunk: „Ich kann das nicht ausschließen, dass einige Landeskirchen bis heute die Hoffnung haben oder hatten, dass sie um eine unabhängige Aufarbeitung von Missbrauch in ihrem Bereich herumkommen“.

Mit der Katholischen Kirche hatte er im Mai Standards zur Aufklärung der Missbrauchsfälle verabredet, bei den Protestanten reichte es nur für einen „Letter of Intent“, also eine Absichtserklärung. Das öffentliche Drängen des UBSKM und der wenig schmeichelhafte Vergleich mit den katholischen Geschwistern wiederum sorgte dem Vernehmen nach in der Evangelischen Kirche für Verstimmungen.

Eine neue gemeinsame Erklärung von UBSKM und EKD soll vor allem die Einrichtung neuer, tatsächlich unabhängiger Aufarbeitungskommissionen zum Inhalt haben. Diese Kommissionen sollen – wahrscheinlich regional, aber landeskirchenübergreifend organisiert – die Aufarbeitung in den EKD-Gliedkirchen endlich voran treiben, d.h. endlich genau hinschauen, wie die evangelischen Kirchen mit Missbrauchsfällen bisher umgegangen sind. Sie werden nicht für die Zubilligung von „Anerkennungsleistungen“ zuständig sein.

Die Betroffenen sprachen in ihrer Pressekonferenz am Freitag im Zusammenhang mit den Fortschritten der EKD in diesem Jahr von „unerledigten Hausaufgaben“, tatsächlich darf man gespannt sein, was der Synodenbericht des Beauftragtenrates hierzu nach einem weiteren halben Jahr Verhandlungen und Beratungen an Neuigkeiten zu Tage fördern wird. Eine Sprecherin des UBSKM erklärte auf Nachfrage der Eule, man werde den „laufenden Prozess weiter im Blick haben, im Moment hierzu aber keine Interviews geben“.

„Anerkennungsleistungen“ und „Unabhängige Kommissionen“

Über die inzwischen anscheinend gescheiterte, hoch problematische Neuorganisation der „Anerkennungsleistungen“ hatten wir hier in der Eule anhand interner EKD-Dokumente bereits Anfang der Woche berichtet. Diese sollen weiterhin von den als „Unabhängige Kommissionen“ bezeichneten Gremien zugesprochen werden. Die Kommissionen sind zwar nach ihren Satzungen an keine Weisungen gebunden, setzen sich aber auch aus Kirchenmitarbeiter:innen zusammen.

In der Nordkirche zum Beispiel sitzt EKD-Beauftragtenrats-Sprecherin Kirsten Fehrs der dortigen „Kommission Unterstützungsleistungen“ vor. Sie ist zugleich Sprengelbischöfin für Hamburg und Lübeck und zudem Mitglied im Rat der EKD. Anderswo sitzen in den Gremien Pfarrer:innen, Kirchenamtsmitarbeiter:innen und Landessynodale, die als Haupt- und Ehrenamtliche in vielerlei kirchlichen Kontexten gebunden sind. Laut einem EKD-Sprecher haben „alle Landeskirchen, in denen Fälle bekannt sind, Unabhängige Kommissionen oder entsprechende Strukturen eingerichtet bzw. sich dazu zusammengeschlossen“ (Hervorhebung von mir).

Noch zur Synode im vergangenen Jahr, im neunten Jahr der Missbrauchskrise in Deutschland, konnte die EKD keine Angaben darüber machen, in welcher Gesamthöhe die Landeskirchen Anerkennungsleistungen an Missbrauchsbetroffene gezahlt haben. Verkündet wurde den anwesenden Journalist:innen, man zahle „bis zu mittlere fünfstellige Beträge“ aus. Immerhin hat man seitdem die Zahlungen einiger Gliedkirchen addieren können:

Insgesamt wurden, laut Fehrs, „Anerkennungsleistungen“ in Höhe von 7,4 Millionen Euro gezahlt. Hinzu kommen noch einmal 74,8 Millionen an Zahlungen u.a. an ehemalige Heimkinder und im Ergänzenden Hilfesystem, wie Thomas Klatt in den aktuellen zeitzeichen berichtet. Er zeigt dort anhand einer Erklärung der EKD-Pressestelle auch, dass vier der 20 Landeskirchen zu den „Anerkennungszahlungen“ überhaupt keine Angaben machen.

Insgesamt könnten sich die von den evangelischen Landeskirchen zu leistenden „Anerkennungszahlungen“ einmal auf den gleichen Betrag belaufen, der für die Katholische Kirche erwartet werden kann – das heißt 220–270 Millionen Euro. Allerdings nur, wenn die Protestanten es ihren katholischen Geschwister gleichtun, und den Betroffenen keine neue Hürden, wie den Nachweis eines „institutionelles Versagens“, in den Weg stellen.

Uneingelöste Versprechen: Betroffenenbeteiligung

Gleich im ersten Punkt des 11-Punkte-Handlungsplans gegen sexualisierte Gewalt, der von der EKD-Synode 2018 beschlossen wurde, bekennt die Evangelische Kirche, „dass eine Beteiligung der Betroffenen mehr als bisher erforderlich ist“. Der Beauftragtenrat beabsichtige, „die Betroffenenperspektive konsequent einzubinden“. Was ist daraus geworden?

Im September 2020 hat sich der neue Betroffenenbeirat der EKD zu seiner ersten Sitzung getroffen (wir berichteten), seitdem wird unter Corona-Bedingungen digital weitergearbeitet. Gleichwohl durch seine Intervention die neue Musterordnung für die „Anerkennungsleistungen“ noch einmal überarbeitet wird (obwohl Ankündigungen neuer Zahlungen voreilig an Betroffene versendet wurden, wir berichteten), ist der Betroffenenbeirat bisher kaum arbeitsfähig.

Der Beirat befindet sich in einer Phase der Selbstfindung. Zunächst müssen die Beteiligten klären, auf welcher Grundlage sie in Zukunft zusammenarbeiten wollen, und ob die bisher mit der EKD verabredeten Rahmenbedingungen dafür überhaupt geeignet sind. Betroffenenbeirats-Mitglied Katharina Kracht klagte am Freitag: „Es wird immer wieder betont, man wolle Betroffenen eine Stimme geben. Ich habe doch schon eine! Es geht darum, Betroffenenpartizipation sicherzustellen.“

Der EKD-Beauftragtenrat beharrt darauf, dass die Betroffenen auch vor Einrichtung des Betroffenenbeirates beteiligt wurden und zwar in drei unterschiedlichen Prozessen: Bereits im Januar 2019 sei demnach eine Arbeitsgruppe zur Betroffenenpartizipation gegründet worden, die das Konzept für den Betroffenenbeirat (1) inhaltlich mitentworfen habe. „In dieser Arbeitsgemeinschaft haben auch Betroffene mitgewirkt“, erklärte ein EKD-Sprecher Ende September gegenüber der Eule.

„Ebenso waren in der Auswahlkommission für die Aufarbeitungsstudie (2) Vertreter*innen des Betroffenenrates beim UBSKM beteiligt.“ Und wie auf der Synode 2019 bekannt gegeben wurde, sollen Betroffene auch an der Konzeption der Gewaltschutzrichtlinie mitgewirkt haben (3). Nach Informationen der Eule aber waren an allen Prozessen Betroffene nicht durchgängig und als Partner auf Augenhöhe beteiligt.

Kerstin Claus, die im vergangenen Jahr auf der Synode eine vielbeachtete Rede gehalten hat (im Wortlaut hier in der Eule), bewertet die Vorgänge im Nachhinein skeptisch:

„Die teilnehmenden Betroffenen wurden immer wieder mit Ergebnissen konfrontiert, wie bei der Konzeption der Gewaltschutzrichtlinie. Es entstand zunehmend der Eindruck, wir sollten dem unter großem Zeitdruck zustimmen.“

Auch zur Zusammenstellung des Betroffenenbeirates gibt es unterschiedliche Schilderungen des Geschehens: Bischöfin Fehrs erklärt, der Beirat „habe sich wegen der Corona-Pandemie erst im September konstituieren können“. Nach Aussagen von Betroffenenvertreter:innen gegenüber der Eule war für die Verzögerung jedoch vielmehr ursächlich, dass die EKD zunächst nicht ausreichend Kandidat:innen für den Beirat fand. Ein Umstand, den der Beauftragtenrat selbst durch die Formulierung umstrittener Kriterien für die Kandidat:innen-Suche beförderte.

So ist der Beirat zum Beispiel nach Geschlecht quotiert, obwohl überhaupt keine wissenschaftlichen Hinweise dafür vorliegen, dass die Zahl männlicher und weiblicher Missbrauchsbetroffener sich in den evangelischen Kirchen die Waage hält. Schlussendlich fand man geeignete Kandidat:innen auch in vier selbst von Missbrauch betroffenen Kirchenmitarbeiter:innen, die nun dem neuen Beirat angehören. Ihnen hat man zwischen Loyalität zur Institution und Arbeitgeberin Kirche und Aufklärungswille ein extra Päckchen aufgegeben.

Das Vertrauen der Betroffenen in die EKD-Verantwortlichen ist nachhaltig beschädigt. Nicht umsonst haben es vier Betroffene, die der EKD in der Vergangenheit intensiv bei ihren Bemühungen zur Seite gestanden haben, für nötig befunden, in einer eigenen Pressekonferenz ihre Sicht der Dinge zu schildern. Zum Vertrauensverlust hat zuletzt auch beigetragen, dass die Präses der EKD-Synode, Irmgard Schwaetzer, öffentlich bekannt gab, man habe die Betroffenenbeiräte dieses Jahr nicht zur Synode einladen können, weil sie ausschließlich digital stattfindet (wir berichteten).

Tatsächlich wurde die Nicht-Einladung den Betroffenenbeiräten – ausweislich eines EKD-Dokuments der „Fachstelle sexualisierte Gewalt“, das der Eule vorliegt – intern mit den „stark veränderten Rahmenbedingungen durch die Corona-Pandemie“, die „in diesem Jahr leider keine dem Betroffenenbeirat angemessene Beteiligung während der Tagung in Berlin“ ermögliche, begründet. Demnach hat das Synodenpräsidum bereits vor dem 2. Oktober in dieser Sache entschieden, also gut zwei Wochen vor der Absage der Präsenztagung.

Muss die Politik helfen?

Die Betroffenen forderten auf ihrer Presssekonferenz am Freitag erneut ein stärkeres Engagement von Staat und Politik: „Alleine schaffen es die Kirchen nicht!“ Eine ähnliche Forderung hatte der UBSKM bereits im Sommer erhoben. Könnte also die Politik – vielleicht mit einem Untersuchungsausschuss oder einer Enquete-Kommission – die Aufarbeitung des Missbrauchs in den Kirchen und anderen gesellschaftlichen Kontexten vorantreiben?

Lars Castellucci, der Beauftragte der SPD-Bundestagsfraktion für Kirchen und Religionsgemeinschaften, erklärt auf Nachfrage der Eule, er habe dazu „ein Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen anderer Fraktionen, Betroffenen, Kirchen und weiteren Institutionen im Deutschen Bundestag initiiert. Ich denke, dass eine parlamentarische Begleitung der Aufarbeitung in den Kirchen sinnvoll ist.“ Castellucci ist seit 2016 auch Mitglied der Kammer für Migration und Integration der EKD.

„Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche erfordert eine Null-Toleranzstrategie“, so Castellucci weiter, „hier müssen wir alle unsere gesamtgesellschaftliche Verantwortung besser wahrnehmen. Auch die Politik ist sehr viel stärker gefordert.“ Er begrüße daher ausdrücklich den Vorschlag Johannes-Wilhelm Rörigs, das Amt des UBSKM gesetzlich zu verankern.

Eine gleichlautende Anfrage der Eule an den Kirchenbeauftragten der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Hermann Gröhe, wurde nicht beantwortet. Gröhe ist berufenes Mitglied der aktuellen EKD-Synode und war von 1997 bis 2009 Mitglied im Rat der EKD.

Situation der Betroffenen

Auf ihrer Pressekonferenz am Freitag erklärten die Betroffenen, die Lage für Missbrauchs-Betroffene, die sich erstmalig an die Kirche wendeten, habe sich in den vergangenen Jahren nicht verbessert. Es gibt zwar seit Sommer 2019 eine Zentrale Anlaufstelle, die aber kann die einzelnen Fälle nur an die zuständigen Stellen in den Landeskirchen weiterleiten.

„Nach wie vor gibt es keine unabhängige Stelle, die das gesamte Verfahren steuert“, erläutert Kerstin Claus das Problem. „Als Betroffene gerät man immer wieder in kirchliche Strukturen. Betroffene, die sich heute melden, treffen noch immer auf die gleichen strukturellen Hindernisse wie vor 2018.“

Dass sich Betroffene ohne Hindernisse und ohne vermeidbares Risiko einer Retraumatisierung melden können, ist die Voraussetzung dafür, dass sie später angemessene „Anerkennungsleistungen“ erhalten können und die schleppende Aufarbeitung des Missbrauchs Tempo aufnimmt. Dort, wo aufgearbeitet wird, melden sich mehr Betroffene.

Eine funktionierende, unabhängige und barrierearme Melde-Infrastruktur ist für die Aufklärung der Missbrauchsverbrechen in den evangelischen Kirchen essentiell. Glaubt man den Betroffenen, ist das heute in den evangelischen Kirchen – zehn Jahre nach Beginn der Missbrauchskrise – immer noch keine Realität.

EKD-Synode 2020: Die digitale Synode

Die diesjährige Tagung der EKD-Synode begleitet Die Eule mit einer Reihe von Beiträgen und einem Live-Blog am Sonntag und Montag. Das Plenum der Synode wird per Livestream übertragen, denn zum ersten Mal in ihrer 75-jährigen Geschichte führt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) aufgrund der Corona-Pandemie ihre Synode ausschließlich digital durch.
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