Interview Verschwörungsglauben und AfD

„Es gibt rote Linien“

Wie reagieren die Kirchen auf Verschwörungsglauben und Rechtsextremismus? In Württemberg gibt es seit September dafür eine eigene Arbeitsstelle.

Eule: Herr Probst, Sie sind seit September Referent der Evangelischen Landeskirche in Württemberg für die Themen Populismus und Extremismus. Ist die Einrichtung dieser Arbeitsstelle dadurch inspiriert, dass das Thema durch Corona gerade hochkocht?

Probst: Die Einrichtung der Stelle war schon länger geplant. Die Württembergische Landeskirche ist bereits sehr engagiert auf diesem Themenfeld. Die neue Arbeitsstelle ist eine Reaktion auf die wachsende gesellschaftliche Polarisierung, den stärker werdenden Populismus, und ganz konkret auch eine Reaktion auf die Frage der Gemeinden nach einem Ansprechpartner für solche Themen in der Landeskirche. Dass meine Arbeit jetzt während der Corona-Demos in Berlin und Stuttgart begonnen hat, ist insofern Zufall.

Eule: Gerade wird in den evangelischen Kirchen intensiv darüber diskutiert, was man sich in Zukunft noch leisten kann und will. Die Rede ist von Kernkompetenzen. Warum engagiert sich die Kirche mit so einer Arbeitsstelle?

Probst: Ich halte es für sehr sinnvoll und gut, dass die Kirchen sich gegen Populismus und politischen Extremismus engagieren. Das hat auch etwas damit zu tun, die christliche Botschaft zu verkündigen.

Aber es geht auch darum, als Kirche die Komplexitätsreduktion in der Gesellschaft nicht ad ultimo zuzulassen. Da sind wir als evangelische Kirche, die sich auch als Bildungsbewegung versteht, gefordert. Der Populismus verbreitet einfache Antworten und wertet wissenschaftliche Erkenntnisse ab. Da müssen wir als Kirche durch Bildungsarbeit versuchen, einen Transmissionsriemen darzustellen und Menschen in die Komplexität mit reinzunehmen. Das beginnt schon damit, dass ein:e Pfarrer:in durchaus erklären kann, warum es gut ist, einen Mundschutz zu tragen.

Eule: In den letzten Wochen hat man den Eindruck gewonnen, dass Verschwörungsglauben einen Schwerpunkt im Südwesten Deutschlands hat. Gibt es eine spezielle württembergische Herausforderung bei dem Thema?

Probst: Man hat hier sicher vor der rechten Esoterik zu lange die Augen verschlossen. Die Anthroposophie hat hier ein regionales Zentrum und auch sonst gibt es eine Vielzahl an alten und neuen esoterischen Angeboten, vor allem in Stuttgart. In den vergangenen Jahren gab es da zwar nur wenige Schulterschlüsse mit der politischen Rechten, das stellt sich jetzt aber ganz anders dar, weil es mit der Ablehnung der Corona-Maßnahmen ein populistisches Amalgam gibt.

Der Vortrag von Ken Jebsen (bekannter Verschwörungsideologe und Antisemit, Anm. d. Red.) vor dem zunächst ja sehr vielfältigen bürgerlichen Publikum vor ein paar Monaten in Stuttgart zeigt das deutlich. Jebsen bringt Antiamerikanismus, Antisemitismus und klassischen rechten Populismus auf die Bühne und erhält dafür Applaus.

Eule: Es ist seit langem bekannt, dass schon bei Rudolf Steiner antisemitische Inhalte zu finden sind, die also zur Anthroposophie traditionell dazugehören. Kann man das Gleiche für den christlichen Glauben sagen? Gibt es nicht auch in der pietistischen Frömmigkeit, die in Württemberg verbreitet ist, Anknüpfungspunkte zum Rechtspopulismus?

Probst: Die Württembergische Landeskirche wird wie kaum eine andere Landeskirche durch unterschiedliche Frömmigkeitsstile geprägt. Wir haben die traditionellen Formen des Pietismus, von denen ich sehr froh bin, dass sie tatsächlich innerhalb der Landeskirche zu finden sind. Und wir haben auch eine starke Tradition liberaler Theologie.

Eule: Aus der Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts wissen wir, dass die liberale Theologie nicht minder anfällig für Antisemitismus oder den Nationalsozialismus war.

Probst: Das stimmt absolut. Es geht überhaupt nicht darum, mit dem Finger auf bestimmte Frömmigkeitskulturen zu zeigen. Aus den Untersuchungen zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit wissen wir jedoch, dass es natürlich Anknüpfungspunkte in das rechtspopulistische Spektrum gibt, wo bestimmte Inhalte stark gemacht werden, zum Beispiel die Absolutsetzung eines traditionellen Familienbildes oder die Abwertung von Homosexualität. Das finden wir eher bei sehr konservativen Evangelikalen, die es auch am Rand der Landeskirche gibt, größtenteils aber in Kreisen außerhalb der Landeskirche.

Ich bin der festen Überzeugung, dass der Pietismus nicht an sich zur Ausgrenzung von Minderheiten tendiert. Man muss hier auch genau unterscheiden: Nicht alle, die der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare kritisch gegenüberstehen, sind zugleich offen für Rechtspopulismus. Aber wir müssen natürlich zur Kenntnis nehmen, dass bei manchen Formen evangelikaler Frömmigkeit da einfach Brücken geschlagen werden.

Eule: Ich glaube viele Bürger:innen haben gar nicht auf dem Radar, dass Baden-Württemberg seit Jahren eine AfD-Hochburg ist. Man schaut immer auf Ostdeutschland, weil hier die prozentualen Anteile an den Wahlergebnissen höher sind, aber wenn man sich die Wählerschaft in ganzen Zahlen anschaut, sieht man, dass auch ein Schwerpunkt in Baden-Württemberg liegt.

Einige Beobachter:innen identifizieren hier die Aussiedler-Gemeinschaften als Problem. Und da gibt es sicherlich einige Städte, wo das der Fall ist. Aber sind Rechtspopulismus und -Radikalismus nicht vielmehr auch einfach bürgerliche Phänomene? Wurzelt nicht im Bürgertum selbst eine Quelle rechten Denkens?

Probst: Was ganz sicher nicht funktioniert, ist auf die Links- oder Rechtsextremen zu zeigen, und damit schon klar zu haben, wer innerhalb der liberalen Demokratie das Problem ist. Da zeigen immer auch Finger auf uns zurück. Das heißt, die Selbstreflexion der Mehrheitsgesellschaft und innerhalb der Kirche darüber, was die Rede von der Mitte und den Extremen eigentlich meint, ist dringend notwendig. Wo findet eigentlich Ausgrenzung statt? Da landet man doch recht schnell auch bei der bürgerlichen Mitte.

Das sieht man auch an der AfD-Wählerschaft, die sich sozio-ökonomisch nicht von „der Mitte“ abhebt, sondern inzwischen einen Querschnitt durch die Gesellschaft darstellt. Wir müssen aus der Geschichte des Nationalsozialismus lernen, dass weder Bildung noch sozio-ökonomische Positionierung uns gegen antidemokratische Überzeugungen immunisieren. Es genügt nicht, einfach auf die bösen Ränder zu zeigen. Wir müssen wahrnehmen, dass Demokratiefeindschaft in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Daraus begründet sich auch ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag – und da zähle ich die Kirche ausdrücklich dazu –, davor nicht die Augen zu verschließen.

Eule: Es wird immer nach mehr Bildung gerufen, dabei sind ja die Demokratiefeinde, Verschwörungsideologen und Antisemiten nicht per se ungebildet. Nur mit Vortragsabenden überall im Land wird man dem nicht Herr werden. Was wollen Sie also konkret tun?

Probst: Ich bin schon Bildungsoptimist und mir sicher, dass das ein Standbein ist, das wir nicht außen vor lassen dürfen. Insofern haben Vorträge, Seminare und Fortbildungsformate ihre Berechtigung – und dafür erhalten wir schon viele Anfragen aus Kirchgemeinden und Kirchenbezirken. Im Moment natürlich vor allem zum Themenfeld Corona und Verschwörungsglaube, aber auch zur Black-Lives-Matter-Bewegung und zum Thema Rassismus und Kirche.

Ein anderer Schwerpunkt der Arbeitsstelle wird die Beratung von kirchlichen Akteur:innen sein. Wir überlegen dann gemeinsam, welche Strategien gegen Populismus und Extremismus günstig sind und wie vor Ort klug agiert werden kann. Als Drittes ist die Bündnisarbeit mir ein Anliegen: Wo finden wir in der Gesellschaft Partner, um Menschenfeindlichkeit etwas entgegenzusetzen? Mit welchen Akteuren können wir uns für die demokratische Gesellschaft einsetzen und gemeinsam solidarisch unterwegs sein? Davor dürfen wir uns als eine Kirche, die doch noch in weiten Teilen der Gesellschaft verwurzelt ist, nicht verstecken.

Eule: Was soll denn das einfache Gemeindemitglied tun, das mitbekommt, dass in der WhatsApp-Gruppe Verschwörungsmythen geteilt werden oder jemand in der Gemeinde solche Dinge verbreitet?

Probst: Mir ist die klare Haltung da sehr wichtig. Ich habe das Gefühl, dass dafür in der Kirche auch das Verständnis wächst, dass wir Infragestellungen von Menschenwürde und Menschenrechten nicht einfach so durchgehen lassen können. Es gibt rote Linien.

Es geht nicht darum, Leute aus der Kirche auszuschließen, aber wir müssen deutlich machen, dass solche Botschaften sich mit dem Evangelium nicht vereinbaren lassen. Alle Christenmenschen stehen in der Pflicht, Rückgrat zu beweisen. Das ist extrem kräftezehrend und kann zu Streit und massivem Widerspruch führen, aber ohne diese Zivilcourage geht es nicht. Und dann wünsche ich mir, dass wir noch intensiver theologisch arbeiten, zum Beispiel zum Verhältnis von Menschenrechten und Theologie.

Eule: Einen Versuch, das Problem theologisch zu fassen, hat zuletzt die Evangelische Akademie zu Berlin unternommen. Ich frage mich dabei immer: Wem soll das eigentlich helfen?

Probst: Ich glaube, wir kommen nicht um die theologische Arbeit herum. Wir brauchen auch die Weiterarbeit an den biblischen Grundlagen. Sie bilden das Fundament, auf dem wir stehen. Deshalb müssen wir sie immer wieder danach befragen, was sie uns in unsere gesellschaftliche Situation hinein sagen können.

Die Autoren der Evangelischen Akademie zu Berlin sprechen zum Beispiel von der Migration als der „Mutter aller Entwicklung“. Das finde ich eine spannende theologische Frage, mal zu schauen, was die Bibel zu Flucht und Migration zu sagen hat. Es ist wichtig, dass wir schauen, was wir selbst im Fundus haben und wie wir uns auf dieser Grundlage positionieren.

Eule: Präses Manfred Rekowski aus der Evangelischen Kirche im Rheinland sagt, meiner Meinung nach zu Recht, dass die Kirche zunächst selbst lernen muss. Ich habe immer wieder das Gefühl, die Kirche tritt zu häufig so auf, als ob sie alle Antworten schon hätte und scheut gleichzeitig die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition und Geschichte.

Probst: Für mich ist es sehr wichtig, externe Expert:innen noch stärker in der Kirche zu Wort kommen zu lassen. Ich denke da zum Beispiel an die Amadeu Antonio Stiftung. Von solchen zivilgesellschaftlichen Organisationen haben wir als Kirche viel zu lernen.

Das Reden an sich ist ja so etwas wie die Grundhaltung der Kirche – positiv gesagt: eine kommunikative Grundhaltung oder Dialogfähigkeit. Dazu gehört aber auch der Willen erst einmal zuzuhören. Wir müssen das, was uns externe Expert:innen über Rassismus und Antisemitismus lehren können, stärker in unsere Selbstreflexion aufnehmen.


Das Gespräch führte Philipp Greifenstein.


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