„Es ist eine Unverschämtheit“
Die Deutsche Ordensobernkonferenz, in der katholische Frauen- und Männerorden zusammengefasst sind, hat die Ergebnisse einer Befragung zum sexuellen Missbrauch veröffentlicht. Matthias Katsch vom „Eckigen Tisch“ kritisiert die Orden scharf:
Eule: Herr Katsch, sie sprechen im Zusammenhang mit der am Mittwoch veröffentlichten Mitgliederbefragung der Deutschen Ordensobernkonferenz (DOK) von einem Skandal. Worüber ärgern Sie sich denn am meisten?
Katsch: Die Zahlen selbst haben mich nicht erstaunt. Ich gehe davon aus, dass die Zahlen höher liegen als das, was bei dieser Befragung herausgekommen ist. So gesehen vervollständigen sie das Bild, das die MHG-Studie gezeichnet hat. Man muss sie mit Vorsicht betrachten, weil sie ja nur auf einer dilettantischen Befragung der Ordensgemeinschaften beruhen.
Wir sind wirklich empört darüber, dass die DOK zehn Jahre gebraucht hat, um eine solche Befragung durchzuführen. Im Grund wurde ja nur abgefragt, wer sich bei den Orden als Betroffene:r gemeldet hat. Wie kann es zehn Jahre dauern, so etwas zustande zu bekommen? Dass man dafür nun auch noch gelobt werden will, finde ich wirklich ein Unding. Ich hatte bei der Veröffentlichung der MHG-Studie das Gefühl, dass auch die Ordensgemeinschaften begriffen hätten, wie dringlich die Aufarbeitung ist. Seitdem sind noch einmal zwei Jahre vergangen, und jetzt fangen sie an, über eine eigenes Aufarbeitungsprojekt im größeren Umfang nachzudenken.
Eule: Die Ergebnisse der Befragung können interessierte Beobachter:innen kaum überraschen.
Katsch: Ja, es gibt einige größere Orden – ich denke da vor allem an die Jesuiten -, die in den vergangenen Jahren genug Anlass zum Handeln gehabt hätten, weil sie ja um die Menschen wussten, die sich bei ihnen gemeldet haben. Die haben sich all die Jahre hinter den armen, kleinen Gemeinschaften versteckt, die in der DOK auch vertreten sind. Bei den kleinen Ordensgemeinschaften hat das Thema nicht das gleiche Gewicht wie für Orden, die Schulen, Internate und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe betrieben haben oder betreiben.
Eule: Als ständige Beobachter:in vergisst man leicht, wie erstaunlich die Zahlen sind, trotzdem sie ganz sicher nicht die ganze Realität des Missbrauchs abbilden. 1 412 Betroffene und 654 Beschuldigte, das sind doch wieder wirklich hohe Zahlen. Sie haben das so erwartet. Aber das schmälert den Schock über die Menge der Meldungen doch nicht?
Katsch: Nein, die Zahlen an sich sind natürlich erschreckend. Vor allem, wenn man bedenkt, dass sie den Verantwortlichen seit langem bekannt sind. Es fehlte an einer Sammlung der Zahlen, aber jeder einzelne Orden, bei dem sich Betroffene gemeldet haben, wusste doch Bescheid. Ganz sicher diejenigen mit 100 oder mehr Fällen. Die haben sich in der großen Menge der Ordensgemeinschaften weggeduckt.
Eule: Es gibt Orden, die bereits zuvor oder extra für die Befragung alle ihre Personalakten nach möglichen Vorfällen untersucht haben, aber der Großteil der Orden hat nur Stichproben genommen und sich ausschließlich auf die Meldungen von Betroffenen konzentriert.
Katsch: Die Zahlen kommen zu spät, sie sind nicht vollständig, sie wurden nicht unabhängig erhoben. Es ist eine Unverschämtheit, nach zehn Jahren damit um die Ecke zu kommen.
Eule: Anders als die MHG-Studie handelt es sich ja hier nur um die Ergebnisse einer Befragung der Ordensleitungen mit Hilfe eines kurzen Fragebogens. Auf der anderen Seite sind, anders als in der MHG-Studie, auch Fälle von Missbrauch von Menschen im Erwachsenenalter mit im Blick. Diese Betroffenen-Gruppe ist erst nach der MHG-Studie vermehrt in den Fokus gerückt.
Katsch: Das ist sicher eine gute Entwicklung, weil diese Form des Missbrauchs gerade für die Ordensgemeinschaften relevant ist. In ihnen wird sehr eng zusammengelebt, mit einer starken Betonung auf den Gehorsam. Insofern gibt es in Orden andere systemische Gefährdungen gerade für junge Erwachsene.
Für diejenigen Orden, die Schulen oder dergleichen betreiben, gilt allerdings, dass sie nicht erst durch diese Befragung oder die MHG-Studie auf das Thema gestoßen wurden, sondern durch die vielen Enthüllungen seit 2010. Ich sehe bei den Orden nach wie vor die Hoffnung handlungsleitend, dass diese Krise schon irgendwie an ihnen vorbeiziehen möge.
Nach Mittwoch würde ich außerdem sagen, dass es auch um einen Mangel an der Fähigkeit geht, mit diesem Thema umzugehen. Deshalb fordern wir, dass sich die Staatsanwaltschaften das jetzt anschauen sollen, so wie es nach der MHG-Studie auch bei den Bistümern der Fall war. Das ist sehr dringend, weil man erst einmal feststellen muss, ob wirklich alle Fälle verjährt sind, wie die Verantwortlichen meinen. Nach der Vorstellung der MHG-Studie meinte Kardinal Marx: „Wir brauchen Hilfe.“ Das gilt für die Orden ebenso, auch wenn sie das vielleicht selbst nicht so sehen. Die Orden brauchen nicht nur Hilfe, sondern jemanden, der jetzt interveniert und das Thema in die Hand nimmt.
Wir haben zehn Jahre darauf gewartet, dass sie aus eigenem Antrieb heraus handeln. Wir warten auf eine Studie, die alle Schulen, andere Werke der Orden und die Personalverantwortlichkeiten in den Blick nimmt. Alles, was seit 2010 gelaufen ist, ist auf Druck der Betroffenen und entlang ihrer Fälle geschehen. Man hat nicht links und rechts in die Akten geschaut nach Fällen, in denen sich die Betroffenen eben nicht gemeldet haben. Das kriegen die Orden aus eigenem Antrieb nicht hin.
Eule: Es gibt, was die Orden angeht, anscheinend ein Verantwortungsvakuum.
Katsch: Die Bischöfe haben bereits deutlich gesagt, dass die Ordensgemeinschaften außerhalb ihrer Zuständigkeit liegen. Gefordert sind also staatliche Stellen. Auch die Verjährung von Verbrechen kann nicht einfach ein Schlussstrich sein. Wir brauchen einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der den Missbrauch gesamtgesellschaftlich und in den Kirchen aufarbeitet. Denn es geht ja nicht nur um den Missbrauch selbst, sondern um die Vertuschung, den Täterschutz. Die Orden sind Institutionen, denen man jahrzehntelang vertrauensvoll Kinder und Jugendliche anvertraut hat, deshalb muss die Öffentlichkeit auch ein Interesse an der Aufklärung haben.
Eule: Nur in 88 Fällen wurde überhaupt die Staatsanwaltschaft eingeschaltet, in 907 Fällen nicht, zu weiteren 417 wurden diesbezüglich keine Angaben gemacht.
Katsch: Genau deswegen erwarte ich, dass die Staatsanwaltschaften jetzt hellhörig werden, und bei den Orden in ihrem Einzugsgebiet nach den Fällen nachfragen, die nicht zur Anzeige gebracht wurden. Es muss ja zumindest geprüft werden, ob Ermittlungsbedarf besteht. Eigentlich müssten die Staatsanwaltschaften alle Akten einfach einpacken und mitnehmen, denn die DOK weist ja selbst auf die mangelnde Aktenführung hin. Warum sollte man der Institution den Bonus gewähren, die passenden Akten herauszusuchen?
Wir sind einfach an einem Punkt angekommen, wo die Scheu der staatlichen Akteure im Umgang mit der Institution Kirche abgelegt werden muss. Wenn bei VW Verdacht auf Verbrechen besteht, fragt auch keiner freundlich nach ein paar Akten, die mit dem Thema zu tun haben. Da fährt man hin und nimmt sich die.
Eule: Ich bin doch schon erstaunt, dass ausweislich des Ergebnispapiers 58 % der Ordensgemeinschaften, die den Fragebogen ausgefüllt haben, keine:n Präventionsbeauftragte:n ernannt haben. Drei Viertel der 260 Ordensgemeinschaften, die die Frage dazu beantworteten, haben keine Institutionellen Schutzkonzepte. Darunter 41 Ordensgemeinschaften, „die angeben, häufig oder oft Kontakt mit Minderjährigen oder erwachsenen Schutzbefohlenen zu haben.“ Selbst wenn man davon ausgeht, dass Ordensmitglieder in diözesanen Einrichtungen oder bei der Caritas Ansprechpartner:innen und Fortbildungen finden, dokumentiert das doch einen erheblichen Mangel.
Katsch: Es herrscht organisierte Verantwortungslosigkeit. Wenn man die Bischöfe darauf anspricht, zucken die mit den Schultern und verweisen auf die Selbstständigkeit der Orden. Wir wissen, dass die Kontrolle von Rom aus auch nicht stattfindet. Wie soll der Vatikan auch Tausende von kleinen und großen Orden weltweit kontrollieren? Das ist völlig illusorisch. Die Orden arbeiten ohne Aufsicht und Kontrolle.
Ich unterstelle ja niemanden bösen Willen, aber man kann es ja nicht den einzelnen Schwestern oder Brüdern überlassen, ob sie an einer Fortbildung teilnehmen oder sich Regeln ihrer Einrichtungen unterwerfen. Es mangelt in den Ordensgemeinschaften einfach an einem Bewusstsein für die Problematik.
Eule: Das macht es Täter:innen natürlich leicht, die mangelnde Aufmerksamkeit für klare Regeln und Pflichten auszunutzen wissen.
Katsch: Ja, und man sollte das noch weiterziehen. Im Ergebnisbericht geht es ja um die traditionellen Ordensgemeinschaften. Es gibt daneben noch die neuen geistlichen Gemeinschaften, die im Laufe des 20. Jahrhunderts entstanden sind – die Legionäre Christi, Opus Dei, die Petrusbruderschaft und andere Gemeinschaften päpstlichen Rechts. Wer schaut eigentlich bei denen hin? Da geht es um den Schutz von Kindern- und Jugendlichen in Einrichtungen, aber auch um den von jungen Erwachsenen in diesen Gemeinschaften. Die sind dort in einer sehr intransparenten Umgebung mit pastoraler Macht konfrontiert, die sehr schnell ins Übergriffige oder sogar in Gewalt umschlagen kann.
Diese Gemeinschaften, die in vielerlei Hinsicht das Gepräge von Sekten haben, die sich mit ihren Positionen am Rande der Kirche bewegen, die hat niemand im Blick. Es gibt da also noch einmal ein ganzes Spektrum von Gruppierungen, das unterbelichtet ist. Übrigens auch auf evangelischer Seite, wenn man an evangelikale Freikirchen denkt. Hier ist die Politik gefordert: Nur weil Kirche drauf steht, heißt das nicht, dass man blind vertrauen sollte. Das wäre jedenfalls eine Konsequenz aus dieser dramatischen Selbstenthüllung.
Eule: Ich bin überrascht, dass von den bereits in 774 Fällen Anerkennungsleistungen gezahlt wurden. Zumeist wurden die üblichen ca. 5000 € gezahlt, insgesamt 4,3 Millionen Euro. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass man hier zügiger war als bei Prävention und Aufarbeitung. Will man sich so des Problems entledigen?
Katsch: Meine Wahrnehmung ist da anders, was damit zu tun hat, dass ich die Summen für allenfalls symbolisch halte, die da in „Anerkennung des Leids“ angeboten werden. Diese Regelung besteht seit 2011. Das hat mit Entschädigung oder Schadensersatz nichts zu tun. Also die Tendenz, dass man sich beim Zahlen leichter tun würde, kann ich nicht erkennen. Ich halte das Vorgehen bei den Anerkennungsleistungen für ähnlich unausgegoren wie bei der Aufarbeitung.
Eule: Weil Sie die Jesuiten jetzt mehrfach erwähnt haben: Papst Franziskus ist Jesuit. Ebenso Hans Zollner, einer der führenden kirchlichen Experten für das Thema sexueller Missbrauch. Der ehemalige Generalobere des Ordens der Herz-Jesu-Priester, Heiner Wilmer, ist seit 2018 Bischof in Hildesheim. Auf ihn setzt der Reformflügel der deutschen Katholiken große Hoffnungen. Ist es denn zu viel verlangt, dass die Jesuiten und andere große, verdienstvolle Orden als gutes Beispiel und vielleicht auch in Stellvertretung für kleine, wegsterbende Orden voran gehen?
Katsch: Gerade wegen der weltweiten Bedeutung des Jesuiten-Ordens wäre es wichtig, dass er bei der Aufarbeitung und auch bei der Entschädigung vorbildlich handelt. Was die Aufarbeitung angeht, spielt in vielen Fällen – auch in meinem Fall – Rom eine Rolle, weil in bestimmten Fällen die Spuren der Akten eben in die Zentrale führen – in den Vatikan, die Glaubenskongregation, aber auch in die Generalkurie des Ordens. Wenn man wirklich als weltweit agierende Organisation aufarbeiten will, dann braucht man ein Konzept, das die eigene Zentrale miteinbezieht. Wenn überhaupt eine Ordensgemeinschaft zu so etwas in der Lage ist, dann ist es der Jesuiten-Orden, ganz klar.
(Das Gespräch führte Philipp Greifenstein.)
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