Evangelische Kirche: Raum für Dissens ist da

Pünktlich zu Weihnachten wird wieder über die Politisierung der Evangelischen Kirche diskutiert. Sind konservative politische Überzeugungen in der Kirche marginalisiert?

Nicht ganz so pointiert wie Ulf Poschardt mit seinem – mittlerweile leider gelöschten – dreizeiligen Lamento auf Twitter über die Predigt, die er in der Heiligen Nacht 2017 hörte, aber in die gleiche Marschrichtung unterwegs kam ein Gastbeitrag von Liane Bednarz in der ZEIT ein paar Tage vor Heiligabend daher:

Man möge sie mit politischen – und damit meint sie: linken und grünen – Predigten verschonen. Stattdessen solle sich die Evangelische Kirche wieder den Kernthemen zuwenden und „mit einem Bekenntnis zu Gott und Jesus Schlagzeilen mach[en] und keine Angst davor ha[ben], dafür vielleicht verlacht zu werden.“ Nun geht es der Autorin vielleicht tatsächlich um Predigten, die sie am Heiligen Abend gehört haben wird – ihr Text aber handelt vielmehr die institutionellen Rahmenbedingungen ab, innerhalb derer ein_e Pfarrer_in predigt.

Bednarz reiht sich ein in eine Gruppe prominenter Kritiker_innen, die die durch sie wahrgenommene kirchliche Ausrichtung in der Gegenwart (wenigstens teilweise) als Gegenentwurf zur eigenen Auffassung davon, wie die Welt gestaltet sein sollte, sehen. Und in der Tat gab es in Folge der „Flüchtlingskrise“ und der Folgekrise ums Klima vermehrt prominent platzierte Anstoßnahmen an einer politischen Schlagseite der Evangelischen Kirche. Die Schlagseite existiert mindestens für die Verlautbarungen der EKD, wie eine sozialwissenschaftliche Studie von Antonius Liedhegener und Daniel Thieme aus dem Jahr 2015 für die EKD-Texte aus der Zeit von 1990 bis 2010 zeigt.[1]

Beinfreiheit der Protestanten

Nun ist es uns Protestant_innen vergönnt, nicht nur in theologischen, sondern auch in ethischen Fragen sehr viel mehr Beinfreiheit genießen zu dürfen als unsere katholischen Geschwister. Die theologische Einhegung der lutherischen Kirchen ist durch die Bekenntnisschriften organisiert, die ethische grob gesagt in der Anerkennung des Menschen als Geschöpf Gottes.

Bunte Vielfalt der Protestanten: Verbindlich ist das Bekenntnis, nicht die politische Überzeugung. Foto: Luther-Statuen in Wittenberg

Bunte Vielfalt der Protestanten: Verbindlich ist das Bekenntnis, nicht die politische Überzeugung. Foto: Luther-Statuen in Wittenberg

Das erlaubt dann etwa christlich verantwortet, für – aber auch gegen – Präimplatationsdiagnostik oder Sterbehilfe zu sein, ohne Gefahr zu laufen, von Kritiker_innen des Verlassens der Bekenntnisgrundsätze geziehen zu werden. Denn Fragen aus dem Gebiet der Ethik haben in der Regel keinen Bekenntnisrang. Dabei könnte man es bewenden lassen und sagen, dass das Heil der Gläubigen an einer mehr oder weniger kontingenten Politisierung der Kirche keinen Schaden nehmen wird.

Die Problemlage ist aber etwas komplexer und es ist mitnichten so, dass die evangelische Kirche erst durch das zu Denkschriften geronnene, in Teilen als sozialdemokratisch-grün wiedererkennbare Gedankengut ihre Politisierung offenbart hat. Als Volkskirche kann sie nie nicht politisch gewesen sein – nur war sie es lange Zeit hauptsächlich so (und ist es in Teilen auch heute noch), dass nur wenige Menschen Anstoß daran genommen haben.

Was ist eigentlich das Problem?

Besteht das Problem in der wahrgenommen Politisierung der Kirche oder in der wahrgenommenen konkreten politischen Ausrichtung der Kirche? Das sind zwei verschiedene Dinge, die aber zu ähnlichen Folgeproblemen führen können: Auf Seiten der Kirche wäre das die unbotmäßige Inanspruchnahme der Heiligen Schrift und des Christentums als Heilszusage Gottes an den Menschen; auf Seiten der Gläubigen eine (zunächst) wahrgenommene Exklusion.

Zu Ersterem: Als Christ_innen, die um ihre Rechtfertigung allein durch den Glauben wissen, können wir uns nicht aus der Welt zurückziehen und auf das Eschaton warten. Das Christentum ist nicht weltentsagend, sondern lebensbejahend und muss folglich weltgestaltend sein. Die Richtschnur, die uns dafür an die Hand gegeben ist, lässt in diesen Fragen einen großen Spielraum zu – und bei der Gestaltung der Welt dürfen wir nicht nur scheitern, sondern werden es auch. Wohl wissend aber, dass wir uns darüber nicht das Heil erarbeiten müssen.

Gleichermaßen steht es Christ_innen auch nicht zu, konkrete Überzeugungen davon, wie die Welt sein soll, als göttlich geboten zu überhöhen. Dort, wo die Sakralisierung weltlicher Dinge stattfindet, findet auch eine theologische Grenzüberschreitung statt, die u. a. Reiner Anselm und Christian Albrecht mit Blick auf das Programm der Öffentlichen Theologie pointiert kritisiert haben: „Vielmehr erhebt sich der Verdacht, es solle eigentlich das Politische mit der ihm eigenen Uneindeutigkeit und eben auch Konflikthaftigkeit durch die Religion domestiziert, letztlich sogar ausgeschaltet werden.“[2] Wenn dieser Punkt erreicht ist, dann sollte man aufhorchen – auch, wenn es die eigene politische Position betrifft.

Zwar mögen in der jüngeren Vergangenheit einige Äußerungen des damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm den Anklang einer zweifelhaften Vermischung von Christentum und Politik gehabt haben, aber daraus zu folgern, „die Kirche“ strebe an, „von links zu missionieren“, wie es im Artikel von Liane Bednarz heißt, überschätzt die Bedeutung der öffentlichkeitswirksamen Auftritte von Kirchenvertreter_innen in exponierten Stellen für das kirchliche Alltagsgeschäft doch gehörig.

Werden Konservative in der Kirche marginalisiert?

Wenn Gläubige sich ausgeschlossen fühlen, weil eine bestimmte politische Option als „die christliche“ dargestellt wird, dann ist dies sehr problematisch und sollte die theologischen Alarmglocken läuten lassen. Wenn Gläubige sich hingegen ausgeschlossen fühlen, weil sich Vertreter_innen der Kirche auch für eine bestimmte politische Option engagieren, dann gilt es zunächst zu prüfen, wie und welchem Kontext das geschieht.

Unter dem Dach der Kirche versammeln sich Menschen verschiedener politischer Couleur, die im Bekenntnis vereint sind. Dass Glaube und Handeln nicht getrennt sind, dürfte ebenso klar sein, wie dass aus dem Glauben nach evangelischer Auffassung in der Regel keine konkreten Handlungen für die Weltgestaltung abgeleitet werden können. Wohl können bestimmte Positionen als mit dem christlichen Glauben vereinbar dargestellt werden.

Wenn nun eine Landeskirche oder der Rat der EKD Klimagerechtigkeit einfordern oder sich an der Seenotrettung im Mittelmeer beteiligen, dann bewegen sie sich insofern auf einem schmalen Grat, als zwar hier satzungsgemäß kein Vorwurf gemacht werden kann, de facto aber (bewusst) ein provokatives Potential entfaltet wird. Dieses wird im Optimalfall sowohl im Vorfeld als auch im Nachgang debattierend begleitet. Diese Debatten sollten nicht durch die unehrliche Fragestellung dominiert werden, ob eine evangelische Organisation in der Gesellschaft agieren darf, sondern wie. Denn ein Rückzug vom Feld der großen politischen Gegenwartsfragen bedeutete ebenso, dass man Politik betriebe, nur eben so, dass man zeigte: „Das geht uns als Kirche nichts an“.

Deswegen muss es um einen Austausch von Positionen gehen, die mit gleichem Recht Öffentlichkeit finden dürfen, sich immer aber auch die Frage gefallen lassen müssen, ob diese vor dem Hintergrund des Christentums verteidigt werden können. Dass das Rettungsschiff „Sea-Watch 4“ nicht aus Kirchensteuermitteln bezahlt wurde, zeugt letztlich davon, dass die Position von Kritiker_innen in den eigenen Reihen Anerkennung fand, dass kein Anreiz zu einer gefährlichen Migration geboten werden solle – obgleich sie überstimmt wurden.

Dass Aktionen wie die Solidarisierung mit der „Fridays for Future“-Bewegung und die Beteiligung an der Seenotrettung aber die Ausnahme und nicht die Regel darstellen, dürfte schon allein um Abnutzungserscheinungen am öffentlichen Auftreten der Evangelischen Kirche zu vermeiden, geboten sein. Der von der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD geforderte Raum für Dissense und das Ringen um Positionen existiert in der Kirche und kann – wenn man nur will – ebenso wahrgenommen werden.

Champions League des Predigens

Kommen wir abschließend zum Kerngeschäft, der Verkündung des Evangeliums und zurück zu Bednarz’ Forderung: Dass gelegentlich das Gesetz oder eine politische Position anstelle des Evangeliums oder gar als Evangelium gepredigt wird, ist ein Kollateralschaden, ein Preis der Freiheit, den wir zahlen.

Selbst Martin Luther sieht im „Sermon von den guten Werken“ im mahnenden Gebrauch des Gesetzes für die „faulen“ Christen eine Verwendung. Aber damit meint er keine platte politische Belehrung von der Kanzel, sondern eine Unterstützung zur Ausbildung einer Grundhaltung, die gute Werke ermöglicht. Dies gelingt den Predigenden mal besser, mal schlechter. Deswegen gilt, wie ich neulich schrieb: Die Champions League des Predigens ist wohl erreicht, wenn man das Evangelium predigt und die Leute am Ende gute Werke tun.


[1] ›Linksaußen‹, politische Mitte oder doch ganz anders? Die Positionierung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im parteipolitischen Spektrum der postsäkularen Gesellschaft, in: Politische Vierteljahresschrift, 56 (2015), 2, 240–277.

[2] Öffentlicher Protestantismus, Zürich 2017, 32.