Kirche

ForuM-Studie: Sie wollen Verantwortung übernehmen

Die evangelischen Landeskirchen, EKD und Diakonie reagieren mit einer gemeinsamen Erklärung auf die Ergebnisse der „ForuM-Studie“. Sexualisierte Gewalt gehöre zur Realität in Kirche und Diakonie.

Vor zwei Wochen wurde die „ForuM-Studie“ über sexualisierte Gewalt und andere Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie veröffentlicht (wir berichteten). Gestern nun wandten sich die 20 evangelischen Landeskirchen, der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Bundesvorstand der Diakonie Deutschland in einer gemeinsamen Erklärung zu den Studienergebnissen an die Öffentlichkeit (vollständiger Text am Ende dieses Artikels):

„Betroffene Personen wurden nicht gehört, Taten nicht aufgearbeitet, Täter geschützt und Verantwortung nicht übernommen. Sexualisierte Gewalt gehört zur Realität unserer Kirche und unserer Diakonie. Diese Einsicht nimmt uns in die Pflicht. Wir übernehmen die Verantwortung.“

Manchmal sagt schon die Absenderzeile eines Schreibens Entscheidendes: Denn es sind eben nicht allein die EKD-Ratsvorsitzende, Bischöfin Kirsten Fehrs (Sprengel Hamburg und Lübeck, Nordkirche), der Rat der EKD oder die Pressestellen von Diakonie Deutschland und EKD, die Stellung nehmen und bekennen, Verantwortung übernehmen zu wollen, sondern an erster Stelle die 20 evangelischen Landeskirchen, die sog. Gliedkirchen der EKD. Vorausgegangen waren Beratungen im Rat und in der Kirchenkonferenz in den zurückliegenden Tagen.

In der Kirchenkonferenz sitzen die leitenden Geistlichen und Jurist:innen der EKD-Gliedkirchen. Sie ist neben Rat und Synode eines der drei kirchenleitenden Gremien der EKD und dient vor allem der Einflußwahrung der Landeskirchen im Konzert der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ziel der Beratungen in den vergangenen Tagen war es, die evangelische Vielstimmigkeit nach der Veröffentlichung der Studie wieder einzufangen. Dafür wollte man sich dann doch nicht bis zur nächsten regulären Sitzung Mitte März Zeit nehmen.

Schließlich hat die „ForuM-Studie“ ja genau die „föderale Struktur“ der Kirche als ein „Hindernis“ bei der Aufarbeitung identifiziert. Nicht wenige sprachen sich direkt nach der Veröffentlichung dafür aus, die Evangelische Kirche stärker zu zentralisieren. Daran hat auch die Mahnung des Studienleiters Professor Martin Wazlawik nichts geändert, der darauf hinwies, man habe nirgends von Zentralisierung gesprochen, sondern empfehle eine verstärkte „Standardisierung“ und Koordination.

Koordination auf Probe

Dass die 20 Landeskirchen als erste Absender der gemeinsamen Erklärung genannt werden können, dürfen wohlwollende Beobachter:innen also als ersten Erkenntniszuwachs aus der Studienlektüre bei den evangelischen Kirchen registrieren. Die Landeskirchen stehen jedenfalls schon rein rechtlich in der Verantwortung, zu der sie sich jetzt bekennen, wenn es um Taten in Gemeindekontexten geht. Die gemeinsame Erklärung aber könnte man auch als Bekenntnis zur Verantwortungsübernahme für Missbrauchstaten in Verbänden und Vereinen verstehen, die den Landeskirchen zugeordnet sind.

Zumindest die Koordination der kirchlichen Kommunikation bei und nach Empfang der Studie ist allerdings nicht gelungen. Einige Landeskirchen verteidigten sich auf eigene Faust gegen den öffentlich erhobenen Vorwurf, sie hätten an der Studie nur unzureichend mitgewirkt (wir berichteten). Ihr Beharren darauf, man habe die entscheidende und leider zwangsläufige Veränderung des Studiendesigns des Teilprojekts E (den Wechsel von einer Stichprobenanalyse von Personalakten hin zu einer Untersuchung der Disziplinarakten), doch mit dem Forschungsverbund verabredet, musste allerdings im Kontext der in der Studie geschilderten Probleme der Kirche kleinlich wirken. Vollends inkompetent erscheinen darüber hinaus Akteur:innen wie zum Beispiel der bayerische Landesbischof, Christian Kopp, und die bayerische Synodenpräsidentin, Annekathrin Preidel, die die Glaubwürdigkeit der Forschenden in Zweifel ziehen, aber die der Arbeit zugrundeliegenden Vereinbarungen mit dem Forschungsverbund gar nicht kennen wollen (wir berichteten).

In der gemeinsamen Erklärung verpflichten sich die Landeskirchen nun deutlich „zu einheitlichen Standards der Prävention und Transparenz, einheitlichen Anerkennungsverfahren und einem einheitlichen Prozess der weiteren Aufarbeitung sexualisierter Gewalt“. Wie viel diese Versprechen Wert sind, werden die kommenden Monate zeigen: Bis zur Tagung der EKD-Synode im Herbst sollen die Vereinheitlichung und vor allem Verbesserung der Anerkennungsverfahren zwischen den EKD-Gremien Beteiligungsforum (BeFo), Rat und Kirchenkonferenz vereinbart sein. Diese müssen danach von den Landeskirchen erst noch umgesetzt werden.

Ebenfalls im Laufe des Jahres 2024 sollen sich insgesamt neun regionale, unabhängige Aufarbeitungskommissionen konstituieren. So sieht es die „Gemeinsame Erklärung“ von EKD / Diakonie mit der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), Kerstin Claus, vor  (wir berichteten). Ein Mammutwerk der Koordination zwischen den jeweils beteiligten Landeskirchen, Diakonie-Landesverbänden und Landesregierungen, das gerade erst begonnen wurde. In der Katholischen Kirche, die solche Kommissionen auf Diözesanebene schon im Jahr 2020 mit Claus‘ Amtsvorgänger Johannes-Wilhelm Rörig vereinbart hatte, sind noch längst nicht alle von ihnen arbeitsfähig.

Die „ForuM-Studie“

Die komplette Studie steht als PDF zum Download auf der Website des Forschungsverbundes zur Verfügung. Dort findet sich außerdem eine 37-seitige „Zusammenfassung der Ergebnisse, Schlussfolgerungen und Empfehlungen für Prävention, Intervention und Aufarbeitung“ als PDF zum Download.

Wo steckt die Diakonie?

Der neu erwachte Koordinierungswille der Landeskirchen aber kann über zwei augenfällige Umstände nicht hinwegtäuschen: Ob und wie die im Beteiligungsforum der EKD (BeFo) mit Betroffenenvertreter:innen gemeinsam erarbeiteten und beschlossenen Maßnahmen umgesetzt werden, liegt weiterhin in der Hand der einzelnen Landeskirchen und diakonischen Werke. „Wir übernehmen Verantwortung“ kann in diesem Kontext nur bedeuten, dass sie die gemeinsam vereinbarten Beschlüsse auch bis in die kleinsten Gliederungen durchsetzen.

Dass die Landesverbände der Diakonie in der Absenderzeile der gemeinsamen Erklärung fehlen, muss daher enttäuschen. Der Bundesvorstand der Diakonie Deutschland hat keinerlei Durchgriffsrechte auf die Landesverbände, denen jeweils dutzende Diakonische Werke und hunderte von Einrichtungen zugeordnet sind. In die „ForuM-Studie“ selbst haben nur Missbrauchsfälle aus diakonischen Einrichtungen bis Ende der 1970er Jahre Eingang gefunden. Und selbst bis dahin tun sich gewaltige Löcher auf, denn die diakonischen Einrichtungen wurden offenbar nicht gründlich genug nach bereits bekannten Fällen befragt.

Die Mitarbeit der diakonischen Landesverbände und Werke an der „ForuM-Studie“ bedarf der kritischen Aufarbeitung. Bisher ducken sie sich hinter der verfassten Kirche und ihrer häufig disparaten Kommunikation weg. Der neue Präsident der Diakonie Deutschland, Rüdiger Schuch, bekannte sich in der ZEIT (€) zur Notwendigkeit von „tiefgreifenden Veränderungen“ und will das Thema mit neuem Schwung angehen. Er machte sich das Diktum der „ForuM“-Forschenden von der „Spitze der Spitze des Eisbergs“ zu eigen, demzufolge die in der Studie enthaltenen Betroffenen- und Täterzahlen nur einen minimalen Ausschnitt des tatsächlichen Missbrauchsgeschehens wiedergeben.

Was aber die Diakonie angeht, erscheint selbst dieses drastische Sprachbild noch zu positiv: Wo Zahlen aus den letzten 40 Jahren fehlen, die an anderer Stelle im diakonischen System sehr wohl bekannt sind, und auch im Berichtszeitraum selbst Auslassungen dominieren, kann von einer angemessenen Datenzulieferung an die Forscher:innen überhaupt keine Rede sein. „Wir müssen Quellen und Akten erschließen, die noch nicht in die Studie eingegangen sind“, hat Diakonie-Präsident Schuch erkannt. Ob diese Erkenntnis auch in den Landesverbänden der Diakonie schon gereift ist? Zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls liegt noch überhaupt gar kein Überblick über das Tatgeschehen in der Diakonie vor.

In die Breite

„In unseren Landessynoden und vor Ort in den Kirchenkreisen und Gemeinden sowie auf allen Ebenen der Diakonie“ wolle man sich „mit den Ergebnissen der ForuM-Studie und ihrer Bedeutung für unsere Kirche und Diakonie transparent und offen auseinandersetzen“, verspricht die gemeinsame Erklärung. Es ist das einzige Vorhaben, das im Text zur Sprache kommt, an dem nicht zuvorderst im EKD-Beteiligungsforum gearbeitet wird. Hier stehen vielmehr die „Mittlere Ebene“, Akademien, kirchliche Ausbildungsstätten und (Berufs-)Verbände in der Pflicht.

Im Nachgang der Veröffentlichung der „ForuM-Studie“ verweisen Kirche und Diakonie gerne auf die in den letzten Jahren seit 2018 verstärkten Präventionsbemühungen und Verbesserungen im Umgang mit Betroffenen. Es ist einiges besser geworden, als die „ForuM-Studie“ zeigen konnte – aber noch längst nicht gut. Nur wenige Pfarrer:innen, Kirchenvorstände und Vorstände diakonischer Einrichtungen, Ehren- und Hauptamtliche in Kirche und Diakonie befassen sich proaktiv mit dem Thema. Die Erstellung von Schutzkonzepten, zum Beispiel für Kindergärten (wir berichteten) oder Kirchgemeinden, wird zu selten als „Prozess“ verstanden, in den Familien und Kirchenmitglieder und alle Mitarbeitenden einbezogen werden, erklärten die „ForuM“-Forscher:innen in Hannover. Auch in den Synoden der Landeskirchen gibt es nur wenige Spezialist:innen für dieses Handlungsfeld, und wenn dann handelt es sich häufig um Synodale, die das Thema vornehmlich juristisch betrachten.

Entlarvend ist nicht allein der Blick auf die nicht selten beleidigten Reaktionen der Kirchenleitungen auf die „ForuM-Studie“: Allenthalben werden von den Landeskirchen Kataloge mit aktuellen Meldezahlen und seitenweise Informationen veröffentlicht, die maximale Transparenz beweisen sollen – und doch nur zeigen, wie viel man der (Kirchen-)Öffentlichkeit bisher meinte vorenthalten zu können. Auch die Stellungnahmen einzelner Pfarrer:innen und Kirchenmitarbeiter:innen „aus der Fläche“ und in Social-Media-Netzwerken verblüffen: Wie kann es sein, dass ein junger Pfarrer heute noch überrascht davon ist, dass Missbrauch „nicht nur ein katholisches Problem ist“? Ist es wirklich angemesssen, als Pfarrer ob der Schuld des eigenen Dienstgebers in Tränen auszubrechen, trotzdem die Studie die „Pastoralmacht“ der Pfarrer:innen ausdrücklich problematisiert? Was bedeuten die Studienbefunde über „evangelischen Klerikalismus“ für das Auftreten im geistlichen Amt und das Miteinander von Ehren- und Hauptamtlichen?

Aufklärung und Aufarbeitung, so beschreibt es die „ForuM-Studie“, kommen in der Evangelischen Kirche und Diakonie nur dann überhaupt ins Rollen, wenn Betroffene Verantwortung übernehmen, die Kirche zu Veränderungen drängen, immer wieder einen würdigen Umgang mit Betroffenen und Aufklärung einfordern. Um das zu tun, muss man gleichwohl nicht selbst von sexualisierter Gewalt betroffen gewesen sein.

Ermutigend ist daher, wie viele Menschen sich in den vergangenen Tagen an ihren Kirchorten auf den Weg machen nachzufragen: Wie gehen wir in unserer Gemeinde mit Verdachtsmeldungen eigentlich um? Wie viele Fälle gibt es in unserer Landeskirche? Zum ersten Mal werden auch die Stimmen der Betroffenen, die sich in der Kirche und bei der „ForuM-Studie“ selbst engagiert haben, von nicht selbst betroffenen Kirchenmitgliedern wahrnehmbar verstärkt. In der „föderalen Struktur“ der Evangelischen Kirche ist dieses Graswurzel-Engagement nicht weniger wichtig als feierliche Erklärungen von Kirchenleitenden.


Im Wortlaut:

Gemeinsame Erklärung der Landeskirchen und des Rates der EKD sowie des Bundesvorstandes der Diakonie Deutschland zur Aufarbeitungsstudie „ForuM“ vom 6.2.2024

  1. Die Ergebnisse der ForuM-Studie legen ein jahrzehntelanges Versagen der evangelischen Kirche und der Diakonie auf allen Ebenen und in allen Landeskirchen offen. Betroffene Personen wurden nicht gehört, Taten nicht aufgearbeitet, Täter geschützt und Verantwortung nicht übernommen. Sexualisierte Gewalt gehört zur Realität unserer Kirche und unserer Diakonie. Diese Einsicht nimmt uns in die Pflicht. Wir übernehmen die Verantwortung.
  2. Mitte Februar wird das Beteiligungsforum zusammen mit Forschenden die Ergebnisse und Empfehlungen erstmals beraten. Wir unterstützen diesen Diskussionsprozess im Beteiligungsforum. Dort, in unseren Landessynoden und vor Ort in den Kirchenkreisen und Gemeinden sowie auf allen Ebenen der Diakonie werden wir uns mit den Ergebnissen der ForuM-Studie und ihrer Bedeutung für unsere Kirche und Diakonie transparent und offen auseinandersetzen.
  3. ForuM macht deutlich, dass wir oft nicht einheitlich, nicht betroffenenorientiert und nicht mit der nötigen Initiative vorgegangen sind. Daher ist es richtig, dass nun Betroffenenvertreter*innen sowie kirchliche und diakonische Beauftragte im Beteiligungsforum der EKD einen klaren Maßnahmenplan für die evangelische Kirche und Diakonie insgesamt entwickeln. Wir stehen hinter diesem Grundsatz der direkten Mitentscheidung von Betroffenenvertreter*innen im Beteiligungsforum. Und wir verpflichten uns zu einheitlichen Standards der Prävention und Transparenz, einheitlichen Anerkennungsverfahren und einem einheitlichen Prozess der weiteren Aufarbeitung sexualisierter Gewalt.

(Die Erklärung auf der EKD-Website.)


Alle Eule-Artikel zum Themenschwerpunkt „Missbrauch evangelisch“.

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