Kolumne Tipping Point

Für das, was wichtig ist: Das Verhältnis von Arbeit und Zeit

Was ist uns so wichtig, dass wir uns dafür richtig Zeit nehmen? Am Beginn der Urlaubssaison stehen in „Tipping Point“ die Arbeit und die Arbeitszeit im Fokus. Machen wir mal Pause!

Endlich! Die Ferien sind da, der Urlaub kommt, wir strecken uns aus und entspannen uns vom Stress der Arbeit. Raus und weg und abschalten! Viele sehnen sich nach der Oase Sommerurlaub und hoffen, endlich abschalten zu können. Zu stark ist die Arbeitsdichte geworden – und genau darüber möchte ich nachdenken.

Unsere Arbeitswelt ist rasant und hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Dass es zahlreiche Schieflagen in den Bereichen Arbeit, Wirtschaft und Ökonomie gibt, ist offensichtlich. Viele davon habe ich hier in „Tipping Point“ seit dem April 2023 thematisiert.  In meinem neuen Buch „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit – jage ihr nach! Für ein radikales Christentum im Zeitalter der Tipping Points“ beleuchte ich unsere gegenwärtige Polykrise umfassend.

Gerade auch in Sachen Arbeit und Arbeitsdichte nehmen die Spannungen zu: Jede fünfte Person in Deutschland spürt Burn-Out-Symptome und die Krankheitsausfälle in Deutschland sind auf einem Höchststand. Hinzu kommen Ungerechtigkeiten auf struktureller Ebene: Die letzte Mindestlohnerhöhung wird laut dem DGB von der Inflation aufgefressen. Gleiches gilt für das Bürgergeld. Während Reichtum in Deutschland kaum besteuert und damit für das Allgemeinwohl in Verantwortung gezogen wird, wächst die Armut und die sozio-ökonomische Spreizung nimmt zu (s. „Tipping Point“ vom Januar 2024). Der Niedriglohnsektor ist in Deutschland mit 19% (Stand: 2022) hoch.

Wenn wir über die entscheidenden Tipping Points in unserer Gesellschaft und auf unserem Planeten sprechen, dann müssen wir auch über Arbeit nachdenken – und auch sie muss sich verändern, um nachhaltig zu sein und das bedeutet vor allen Dingen sozial.

Die Frage nach der (Arbeits-)Zeit

In vielen Branchen wird bereits über eine Reduzierung der Wochenarbeitsstunden gesprochen. Die „Viertagewoche“ ist immer wieder Gesprächsthema. Diese Überlegungen betreffen nicht nur eine Hand voll Kreativberufe oder Jobs für Akademiker:innen. Die IG-Metall hat bereits vor über einem Jahr eine Reduzierung der Arbeitszeit auf 32 Stunden die Woche gefordert. Solche Modelle greifen ein Grundgefühl in Deutschland auf. Im letzten Jahr hat das Deutsche Wirtschaftsinstitut festgestellt:

„Die Menschen in Deutschland [wollen] so wenig arbeiten wie noch nie seit der ersten Erhebung im Jahr 1984. Die etwa 30.000 Umfrageteilnehmer aus 15.000 Haushalten wollen durchschnittlich nur noch 32,8 Stunden in der Woche arbeiten, selbst wenn sie dadurch relevante Gehaltseinbußen haben.“

Der Grund dafür sollte nicht anthropologisch negativ erklärt werden, nach dem Motto „Der Mensch sei eben faul“ oder „Die Jugend mache eben nichts“. Nicht nur, dass solche Erklärungen verkürzt sind: Sie widersprechen auch dem biblischen Menschenbild, nach dem der Mensch ein Geschöpf Gottes ist, das sich entfalten soll und Verantwortung für die Schöpfung zu tragen hat. Viel eher könnte man in der „neuen“ Haltung zur Arbeitszeit eine Parallele zur Lehre Jesu erkennen: Die Arbeit ist für den Menschen da – nicht umgekehrt!

Es bringt nichts, wenn Menschen bis weit über ihre Grenzen malochen, damit der permanente Wachstumszwang von Konzernen und Wirtschaft befeuert werden kann. Die oben genannten Schieflagen in der Arbeitswelt sind viel eher die Ursachen dafür, dass Menschen erkennen: Es gibt mehr als Arbeit und die Arbeit darf nicht krank machen! Dass eine Vier-Tage-Woche hier Abhilfe leisten kann, wird zumindest von Studien untermauert.

Das Thema Zeit spielt für die gegenwärtige Situation in der Polykrise die entscheidende Rolle. Antje Schrupp schreibt in der Neue Wege:

„Viele Menschen verfügen nicht wirklich über ihre Zeit. Die Möglichkeiten, Zeit für sich selber, Zeit für andere, in der Arbeit erfüllte Zeit zu haben, sind ungleich verteilt. Zeit ist aber – in Zeiten der Carekrise und der Klimakataststrophe – das entscheidende Kriterium für gutes Leben und gelingende Beziehungen.“

Beim Thema Zeit gibt es große Ungerechtigkeitsachsen zwischen Geschlechtern, Milieus, Berufsbranchen, Generationen. Hierzu finde ich das Buch von Teresa Bücker „Alle Zeit“ sehr lesenswert. Diese Ungerechtigkeit verschärft die gegenwärtigen Krisen, weil gestaltbare Zeit – ganz wie Vermögen – massiv ungleich verteilt ist. Wer vom Mindestlohn lebt und gar noch stemmen muss, kranke Angehörige zu pflegen, steht vor massiven existentiellen Herausforderungen.

Wir brauchen aber Zeit, um uns auf das zu konzentrieren, was wichtig ist: Beziehungen pflegen, dabei sein, begleiten, sinnerfülltes Leben, im Einklang sein mit Mensch und Natur, Demokratie stärken, solidarisch leben. Wir brauchen eine gerechte Verteilung von Zeit, um die Krisen zu überwinden – und die Seele auch mal baumeln zu lassen. Weniger ist mehr. Antje Schruppt schreibt:

„Egal ob Reisen, Konsumieren oder Arbeiten – nichts ist so umweltfreundlich wie einfach auf dem Sofa zu bleiben. Statt schneller müssten wir eigentlich mit allem langsamer machen: weniger herstellen, weniger konsumieren, weniger reisen.“

Die Frage nach Zeit und Arbeitszeit tangiert die Systemfrage – es geht um ein System, das gerade nicht menschliche Beziehungen und erfüllte Zeit in den Vordergrund stellt, sondern allein das Wachstum befördern will. Es geht nicht darum, erholungsbedürftigen Arbeitnehmer:innen den Sommerurlaub zu verbieten. Es sollte uns nicht um „Neiddebatten“ gehen. Zu vermeiden ist auch eine individualethische Abwälzung von Systemfragen in das Handeln einzelner Menschen. Die Polykrise individualethisch anzupacken, wird nicht gelingen. Es braucht politische Lösungen. Das Leben ist einmalig und wir brauchen Zeit für unsere Beziehungen, für die Schöpfung, für ein gerechtes Leben, für das Reich Gottes.

Die Frage nach Zeit und Beziehungen mit alten Menschen

Und natürlich: Die Einwände sind groß: „Wir haben doch schon Fachkräftemangel!“ Und: „Es gibt Bereiche, wo eine Reduzierung gar nicht gelingen kann – der Bedarf an Arbeit ist einfach zu groß!“

Als Beispiel für solche Branchen werden immer wieder Gesundheit und Pflege genannt. Auch wenn heute schon viele Menschen diese gesellschaftlichen Systeme als krisengeschüttelt empfinden, der Druck wird noch weiter steigen: Aufgrund des demografischen Wandels werden bis zum Jahr 2055 37% mehr pflegebedürftige Menschen in Deutschland leben. Personalnot, Intensivierung der Zeitdichte und der Arbeitsbedingungen, die Leib und Seele auffressen: „Das System muss sich ändern“, meint auch Karl Lauterbach (SPD), der Bundesgesundheitsminister.

Für mich bedeutet das, dass nicht nur eine Überwindung des Fallpauschalsystems angestrebt werden muss, sondern auch, dass Arbeitsbedingungen vorherrschen sollten, die Mitarbeitende und Patient*innen in ihrem Dasein nicht gefährden. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigt im „Schwarzbuch Krankenhaus. Das Schweigen brechen“ mit Hilfe von Erfahrungsberichten, dass Unfälle, Unterversorgung und Leid bei Pflegenden und Patient*innen eine strukturelle Ursache haben: Es ist zu wenig Zeit da. „Noch so ein Jahr und in der Altenpflege gehen die Lichter aus“, warnt der Arbeitgeberverband Pflege (AGVP).

Die Arbeitsbedingungen müssen massiv verändert werden. Viele Fragen gehören auf die Tagesordnung einer ernsthaften Debatte, die nicht als Symbolpolitik geführt werden sollte: Wie müssen die Personalschlüssel in der Pflege gestaltet werden? Können wir das DRG-System überwinden? Braucht es ein Soziales Jahr für alle junge Menschen – und wenn ja, wofür? Sollten Pflegekonzerne Gewinne abschöpfen? Wie bleiben Wohlfahrtsunternehmen wie Diakonie und Caritas in einem solchen Marktumfeld konkurrenzfähig? Ist das überhaupt die richtige Fragestellung?

Die gesellschaftliche Bewertung von Care-Arbeit mit alten Menschen braucht Veränderung. Aufgrund der permanenten Überbelastung des Pflegebereichs und der Entwicklung des demografischen Wandels, müssen private Haushalte mehr Aufgaben in der Pflege übernehmen. Wird das gesellschaftlich unterstützt? Wer pflegt, arbeitet zwar, geht aber automatisch weniger Lohnarbeit nach. Er/sie hat Einbußen im Einkommen und Verluste in der Rente. Es gibt genügend Menschen, die sich gerade das nicht leisten können.

Wer privat die Pflege übernimmt, bekommt, bis auf das magere Pflegegeld, kaum finanzielle Unterstützung. Das ist in einem kapitalistisch orientierten System auch folgerichtig: Wer pflegt, tut nichts für das Wirtschaftswachstum. Warum haben wir – Gott sei Dank! – eine Elternzeitregelung mit Elterngeld, aber nichts Ähnliches für Menschen, die ältere Menschen pflegen? Warum läuft die gesamte Care-Arbeit mit alten Menschen eigentlich so ganz nebenbei und wird anders als Lohnarbeit materiell geringgeschätzt? Was sind uns als Gesellschaft das Alt-Sein und Beziehungen zu alten Menschen wert?

Eine Frage der Solidarität

In all diesen Debatten darf nicht auf eine Veränderung am Sankt-Nimmerleins-Tag gewartet werden. Eine Umkehr geschieht nicht von alleine. Ina Praetorius und Uta Meier-Gäwe haben es in ihrem Buch „Um-Care. Wie Sorgearbeit die Wirtschaft revolutioniert“ so ausgedrückt:

„Wir, die wir uns für eine Care-zentrierte Wirtschaft einsetzen, müssen uns mehr Gehör verschaffen. So wie zum Beispiel Brigitte Bührlen, die im Jahr 2010 als Einzelperson die WIR!* Stiftung pflegender Angehöriger gegründet hat. […] Sie fragt: Warum empören wir … uns nicht … im ganzen Land? (…) Wir müssen laut und deutlich in die Gesellschaft und Politik hineinrufen: ‚Wir schaffen das nicht!‘ (…) Warum durchbrechen wir nicht die Mauer des Schweigens und sagen laut und deutlich: ‚So, wie es ist, kann es nicht bleiben‘?

Für eine solche Empörung könnten die Kirchen stehen. Sie könnten aufstehen und sich mit denjenigen solidarisieren, denen es in der Arbeitswelt nicht gut geht: Arbeitslose, Menschen im Niedriglohnsektor, Lehrer:innen im Burn-Out oder Pflegende, die zusammenbrechen. Es gibt viele Berufsgruppen, die zu leiden haben und zu wenig Zeit haben – für die Kirchen gäbe es viel zu tun. Rosemarie Henkel-Rieger und Prof. Jörg Rieger, die in den USA leben, plädieren in ihrem Buch „Gemeinsam sind wir stärker“ für eine „tiefe Solidarität zwischen Glauben und Arbeit“.

Es müsste also um eine Vernetzung zwischen Kirchen, gedemütigten Arbeitnehmer:innen und Gewerkschaften gehen. Heute schon setzen sich die Verbände der Diakonie und Caritas und auch die Büros der großen Kirchen bei den Parlamenten und Regierungen für eine verbesserte Sozialgesetzgebung ein. Die zahlreichen Pressemitteilungen der Diakonie haben zunehmend einen alarmierenden Ton (s. „Koalition geht in die Sommerpause und vergisst die Kinder“ vom 2. Juli oder „Pflegeversicherung: Problemanalysen gibt es genug, zügiges Handeln ist das Gebot der Stunde“ vom 3. Juli). Politische Forderungen der Wohlfahrtsverbände und kirchliche Lobbyarbeit verweisen auch auf einen Missstand in unseren Kirchen: Leben wir die Forderungen an die Politik als gemeinsames Anliegen in unseren Kirchen vor?

Als exemplarische Vorzeige-Organisation verstehen Rosemarie Henkel-Rieger und Prof. Jörg Rieger „Jobs with Justice“, deren Mitglieder sich verpflichten, sich mindestens fünfmal im Jahr an einer Demonstration bzw. an einem Arbeitskampf anderer Berufsbranchen zu beteiligen. Was wäre, wenn Kirchenmitglieder in Deutschland diesen Schritt gehen würden? Es würde auf jeden Fall über die Kirche wieder gesprochen und darüber gesellschaftlich gestritten werden, was eigentlich die Aufgabe von Kirche ist. Vielleicht können wir stärker ins Gespräch bringen, dass das Evangelium einen befreienden Anspruch auf unsere (Arbeits-)Welt hat.

Ich wünsche uns allen einen erholsamen Urlaub und Zeit. Zeit auch dafür, darüber nachzudenken, was im Arbeitsalltag gut läuft und wie er entschlackt, gestaltbar und menschlicher werden kann, falls Schieflagen eingetroffen sind. Schöne Pause!


„Tipping Point“: Ein gutes Ende finden

In unserer Kolumne „Tipping Point“ haben Tobias Foß und Gastautor:innen seit dem April 2023 über die sozial-ökologische Transformation geschrieben. Welchen Beitrag können Christ:innen und Kirchen leisten? Welche Probleme müssen bewältigt werden? Welche Kipppunkte gilt es in Theologie und Glaubensleben wahrzunehmen?

Diese Fragestellungen werden uns im Magazin auch weiterhin begleiten. Die Kolumne „Tipping Point“ aber beenden wir mit dieser Sommerausgabe. Tobias‘ Kolumnen sind in sein neues Buch „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit – jage ihr nach!“ eingeflossen, das im Frühjahr 2024 im EB-Verlag erschienen ist. Alle Ausgaben von „Tipping Point“ bleiben selbstverständlich online hier im Magazin und laden zum Stöbern und Nachlesen ein.

Wir danken Tobias und allen „Tipping Point“-Gastautor:innen herzlich für ihren Input!

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