Fußball-WM: Das schöne Spiel

Ist die FIFA-Weltmeisterschaft in Katar ein Fanal für den Fußball? Welchen Fußball wünschen wir uns für die Zukunft? Philipp Greifenstein weiß schon, mit wem er lieber spielen möchte.

Dem Fußball nähere ich mich wie auch Niklas Schleicher, der gestern hier in der Eule über die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar geschrieben hat, als Praktiker. Ich kicke, nein, eigentlich bäbbel ich seit 30 Jahren. So nannte man in Sachsen lange das Fußballspielen in der Freizeit. Ich bäbbelte im Kindergarten, in und nach der Schule, während meiner Zeit an der Uni, erst mit Marcel und Felix, dann mit Christoph und Alex, später mit Max, Dennis und Marius, beim Theolog:innenfußball und heute bäbbel ich mit einer Gruppe älterer Herren. Jeden Montagabend, fast ohne Zweikämpfe, dafür mit vielen Toren und hübschen Spielzügen.

Berührung zum Vereinsfußball habe ich in diesen 30 Jahren wenig gehabt. Ich habe mal anderthalb Saisons in der E- und D-Jugend von Turbine Dresden gespielt. Noch auf Hartplatz. In Erinnerung sind mir das Training bei bitterer Kälte, manche Runde im Entengang um den Platz und die Fahrradfahrt vom Training nach Hause mit kaputten Füßen und Beinen. Zum großen Verein am Platz habe ich wie so viele Dresdner:innen ein gespaltenes Verhältnis, weil „Sieg oder Spielabbruch“ eher nicht zu meinen Lebensmottos gehört. Dynamo-Spiele assoziere ich mit berittener Polizei.

Aus meiner Kindheit erinnere ich nur einen einzigen Stadionbesuch, bei einem Freundschaftsspiel des FC Bayern bei der wieder einmal finanziell darniederliegenden SG Dynamo Dresden. Bayern-Manager Uli Honeß hatte ja auch ein Herz für den kleingemachten Ostfußball, erzählte man sich. Damals spielten bei den Bayern nicht nur Elber und Kahn, sondern auch der ehemalige Dresdner Alexander Zickler. Nur einer von zahlreichen Ossis, die es im wiedervereinten Deutschland zu einer ansehnlichen Profikarriere gebracht haben. Ihnen allen voran der erste gesamtdeutsche Kapitän der Fußballnationalmannschaft, Michael Ballack.

Schöne Erinnerungen

Mit Michas Ausbootung aus der Nationalmannschaft 2010 manifestierte sich meine Entfremdung vom deutschen Profifußball endgültig. Die Turniere der Nationalmannschaft haben wir natürlich trotzdem im Freundeskreis verfolgt. 2002 schauten wir auf alten Röhrenfernsehern in unseren Klassenzimmern neben dem Unterricht die Übertragungen aus Japan und Südkorea. Hätte Micha nicht im Halbfinale diese Gelbe Karte auf sich genommen, wer weiß, wie das Finale gegen Ronaldos Brasilianer ausgegangen wäre?

Das berühmt-berüchtigte Skandal-Spiel gegen Kamerun – 12 Gelbe und 2 Gelb-Rote Karten – schaute ich in unserem Wohnzimmer gemeinsam mit Kirchenmusikstudenten. Darunter der erste blinde Student an der KIMU, der zwischen unserem Geplapper und dem Stadionlärm aus dem Fernseher den wilden Spielverlauf zu enträtseln versuchte. Wie es diese zweifelsohne deutsch spielende Mannschaft überhaupt ins Finale geschafft hatte, bleibt auch 20 Jahre später ein Rätsel, dessen Lösung auf die Namen Ballack, Kahn und Klose hört.

Leichte Gegner im Turnierverlauf mögen eine Rolle gespielt haben, aber der Finaleinzug war auch eine Willensleistung, eingebracht von Fußballern, die nicht vom frühesten Alter an gepampert wurden, sondern noch wussten, was ein Hartplatz ist. Zu ihren besten Zeiten spielten in der Nationalmannschaft ein paar dieser Typen, denen man ihr Fremdeln mit der fixen Welt des internationalen Geschäfts abzuspüren meinte. Außenseiter waren sie wie bei den Franzosen Zinédine Zidane und Thierry Henry, die besten Fußballer ihrer Zeit, denen ich zujubelte, als in Deutschland Lothar Matthäus und Thomas Häßler ihre letzten Runden zogen.

Vom deutschen Rumpelfußball erlösten uns nachhaltig Jürgen Klinsmann und Jogi Löw. Von 2006 bis 2014 gab es Torfestivals, ansehnliche Spiele, ja, Spitzenleistungen. Auf dem Platz standen Spieler mit Format und eigenem Kopf, manche leugneten ihre Intelligenz nicht. Natürlich habe ich auch 2014 mitgejubelt, als es für die Nationalmannschaft endlich zum Titel reichte. Aber bis dahin war doch schon einiges kaputt gegangen: Bombast und Kommerz hatten sich von Turnier zu Turnier, von Südafrika bis Brasilien nur noch gesteigert. Für viele der angewandten Wirtschaftstaktiken war die „Heim-WM“ in Deutschland das Vorbild.

Die Umweltzerstörungen, FIFA- und DFB-Skandale, die Auslieferung des Fußballs an Despoten und Diktatoren um des Mammons Willen, das war alles längst am Laufen. Die Leistungen der deutschen Mannschaft aber begeisterten: Das 4:1 gegen England 2010, als Mesut Özil – auch er später einfach vom Hof gejagt – den Engländern davonlief. Die Argentinien-Spiele 2006, 2010 (4:0) und 2014, als die Deutschen die Titelträume Lionel Messis zerstörten. Doch die Nähe zu den Sportlern wuchs auch wegen der gemeinsam erlittenen Niederlagen. Überhaupt ist der Fußball ohne seine Tragik nur halb so schön.

Umso älter ich werde desto schwerer fällt es mir, mit einer Gruppe von Gerade-so-nicht-mehr-Jugendlichen mitzujubeln, die sich allerdings wie Hip-Hop-Stars inszenieren. Fußballerpersönlichkeiten mit Format – da mache ich mir die Kritik von Alt-Stars zu eigen, die sie wöchentlich beim „Doppelpass“ ventilieren – sah ich immer seltener. In mein Herz gespielt hat sich seit Klose, Podolski und Micha keiner mehr. Stattdessen hat sich bei mir mit dem Älterwerden eine rührselige Sentimentalität eingestellt mit Spielern wie Jens Jeremies oder Marco Rehmer, die trotz spielerischer Limitationen ihren Weg gegangen sind, mit Künstlern a’la Mehmet Scholl, Dennis Bergkamp und Mesut Özil, die ein Spiel transzendieren konnten, mit Menschen – wird man solche noch einmal in einem großen Stadion erleben dürfen? – wie dem echten Ronaldo, Zidane und Micha.

Bin ich ein Fußballromantiker? Ganz sicher, und ich bin damit nicht allein. Man braucht dieses Gefühl gar nicht als Nostalgie oder Melancholie bezeichnen, es ist das 11-Freunde-Gefühl, das von den Millennials angefangen alle Altersgruppen jenseits des Jugendalters beherrscht. Na klar, da ist eine gehörige Prise Jugenderinnerung untergehoben, die „schwierige“ Tatsachen des Fußballs der Vergangenheit verklärt und verdrängt.

Mein überhaupt erstes Nationalmannschaftserlebnis war die EM 1996 in England. Das Finale samt Golden Goal von Oliver Bierhoff ist das erste Fußballspiel, an das ich mich als Fernsehzuschauer erinnern kann. Andreas Möllers wahnsinnig arrogante Geste nach dem Elfmeterschuss im Halbfinale gegen die Engländer und die bestimmende Rolle des Ex-Dresdner Liberos Matthias Sammer für den Turnierverlauf waren mir damals nicht bewusst. Ich war 8 Jahre alt. Wenn in zwei Jahren der Fußballzirkus zur Fußball-EM 2024 wieder „zu Gast bei Freunden“ sein wird, wird mein Junge genau so alt sein. Welchen Fußball wird er dann erleben?

Die Wahrheit ist auf dem Platz

Ein Freund, der an einem Gynmasium Sport unterrichtet, erzählte mir, dass kaum noch Schüler:innen an seiner Schule Fußball als Kurs in der Oberstufe belegen wollen. Ungefähr 15 000 Vereine bieten Jugendfußball an, aber in der letzten Dekade wurden 20 % der Nachwuchsmannschaften eingestellt und der deutsche Vereinsfußball hat 10 % seiner jugendlichen Mitglieder verloren. Das war alles noch vor Corona. Die Pandemie hat noch ganz andere Löcher in die Fußballvereinslandschaft geschlagen, die auf dem ehrenamtlichen Engagement von so vielen Menschen fußt. Auf dem Land werden Mannschaften verschiedener Dörfer fusioniert, um den Spielbetrieb aufrecht zu erhalten. Jedes Mal geht dabei auch ein wenig mehr der lokalen Tradition und Identifikation verloren.

Und das Bäbbeln? Schon vor Jahren war es lächerlich, Sportler wie Mehmet Scholl oder Mesut Özil als „Straßenkicker“ zu bezeichnen, nur weil sie mehr Talent und Spielwitz mitbrachten als ihre Kollegen. Die Hinterhöfe und Garagengrundstücke, durch die wir zogen, sind heute zugebaut oder abgeschlossen. Die rumpeligen Ascheplätze und Fußballwiesen – jederzeit für alle zugänglich, wenn man sich nicht von größeren Jugendlichen vertreiben ließ – sind verschwunden, teilweise ersetzt durch chice Fußballkäfige. Dort wird noch gespielt, vor allem von Kids, die nicht so richtig in den deutschen Vereinssport passen, die niemand zum Bambini-Fußball bringt und abholt, deren Väter keine Fahrgemeinschaften für Auswärtsspiele bilden und deren Mütter nicht auch noch einen Mannschaftssatz Trikots waschen können. „Geht’s raus, spielt’s Fußball!“, ist ein seltener Satz geworden. Fußballdeutschland ist massiv segregiert. Und ich weiß schon, mit wem ich lieber spiele.

Heute konkurrieren das Bäbbeln mit der Ganztagsschule und der Vereinsfußball mit zahlreichen anderen aufregenden Sportarten. Der Fußball als Breitensport und Freizeitbeschäftigung steht hier vor ähnlichen Herausforderungen wie Musikvereine, Feuerwehren und auch die kirchliche Kinder- und Jugendarbeit. „Etwas Richtiges machen“, gerne „draußen“, ist zwar ausweislich von Jugendstudien nach wie vor eine große Sehnsucht von jungen Menschen – aber wie, aber wo, aber wann? 2018 hat das Land Nordrhein-Westfalen die Bolzplatzkultur als „immatrielles Kulturerbe“ ins Landesinventar aufgenommen. Es handele sich um „eine jugendkulturelle Form der gesellschaftlichen Selbstorganisation, die ihren Ursprung in den städtischen Milieus der 1920iger Jahre hat“. Wer den Fußball „retten“ will, der muss nicht in Katar anfangen, sondern hier: Kindern und Jugendliche Räume geben, wo sie selbst einfach sein und spielen können.

Die Überaufmerksamkeit, die dem Fußball in den Medien zukommt, steht in Spannung zur sinkenden Zahl der Fußballspieler:innen. Doch Fußball als Sport will zunächst einmal gespielt werden, nicht angeschaut. Fußball-Fan-Sein ist kein Sport, wie auch ein Opernbesuch keine Sangesleistung darstellt. Fairplay ist eine Praxis und eine Lebenshaltung, kein Sticker für den Ärmel. Katar ist kein Fanal für den Fußball, sondern für das Entertainmentprodukt „Fußball“. Darum, und nicht um den Ball, drehen sich der Rubel und die mediale Aufregung: Fankrawalle, Ticketpreise, Ultras hier und dort, Stadionverbote, Banner – und auch Kapitänsbinden. Ins Stadion gehen ist kein Sport. Die Wahrheit ist auf’m Platz.

„Retten ist Pflicht!“

Wenn ich die Bilder aus Katar sehe, dann hebt’s mich: Die Diktatoren in ihren VIP- und VVIP-Logen. Die wirklich sinnlosen Stadien. Die groteske Anmaßung von nationalen Verbänden, sich mit ihren Regionalligamannschaften in eine Weltmeisterschaft einzukaufen. Das Geklüngel der Funktionär:innen. Die eingeübten Jubelposen. Sportmillionäre als Werbereizfiguren für Minderjährige. Die kreuzdämlichen Kommentare, die noch aus jedem Scheißspiel Highlights destillieren wollen. Der Bombast und die pseudo-religiöse Inszenierung samt Händel und Kamerafahrten. Es widert mich an.

Um dem Vorwurf des Moralismus gleich zu entgegnen: Ich bin nicht wütend, ich bin angeekelt. Ich wende mich ab. Wenn die wirtschaftlich-politischen Umstände unserer Welt nun einmal dazu führen, dass sich Ölstaaten und Diktaturen das Entertainment-Paket „Fußball“ als Imagebooster kaufen können, dann ist – da hat Niklas Schleicher Recht – dagegen mit individualmoralischen Gegenmaßnahmen wenig ausgerichtet. Und ehrlich: Von mir aus kann die FIFA ihre WM gerne haben, solange die Fußball-WM auf dem Ascheplatz um die Ecke noch stattfindet.

„Ich bin jetzt Ronaldo und Du bist Kahn“, „Retten ist Pflicht“, bäbbeln überall. Wie wird der Fußball in zwei, in zwanzig Jahren sein? Vermarktung, Kommerzialisierung und Zuschauer:innenmaximierung scheinen an eine Decke zu stoßen. Das war schon vor Katar der Fall, Corona hat hier sicher eine starke Rolle gespielt. Als Entertainmentprodukt hat der Fußball Grenzen. Das Bäbbeln kennt keine Grenzen.

Überall auf Gottes schöner Erde wird man Menschen finden, mit denen man eine Runde kicken kann. Im Urlaub in der Schweiz, im Amazonas-Gebiet, in der Mongolei und auch in den Stadtrandgebieten Deutschlands. Welche Sprache(n) Du sprichst, welchen Gott du heiligst, welche Schuhe oder welches Trikot Du trägst, ob Du Christiano Ronaldo oder Messi für den GOAT hältst (pah, Zidane!) – das ist dann alles unwichtig. E-Sport, Sky-Abos, Dauerkarten, Sportförderung, DFB und FIFA, „Doppelpass“ und Spielerberater – das Geschäft mag sich weiter drehen, doch das Bäbbeln ist nicht käuflich.

Den Glücksmoment eines Zaubertores, eines genialen Passes, einer herrlichen Grätsche, einer tollkühnen Parade, eines aufgeschürften Knies, gemeinsame Siege und Niederlagen, einen Gefoulten wieder auf die Beine ziehen, ein geklückter Lupfer, den Sprint an der Außenlinie, das Vorbeigehen nach einem erfolgreichen Tunnel – das alles ist erlebt noch intensiver als medial vermittelt. Ich mache mir also keine Sorgen, sondern kaufe einen neuen Ball. Eine Pille, mit der wir im Garten und auf der Straße bäbbeln können.