Im Widerstand mit Dorothee Sölle

Was können uns Werk und Leben Dorothee Sölles heute bedeuten? Lohnt sich die Auseinandersetzung mit der „Riesin, auf deren Schultern wir stehen“? Begegnungen mit Dorothee Sölle zum 20. Todestag.

„Ich glaube an Gott,
der den Widerspruch des Lebendigen will
und die Veränderung aller Zustände“

– aus dem Glaubensbekenntnis von Dorothee Sölle


Heute vor 20 Jahren verstarb Dorothee Sölle. Aus Anlass ihres 20. Todestages befassen sich erneut Theolog:innen, Aktivist:innen, ihr eng verbundene Menschen und kritische Beobachter:innen mit ihrem Leben und Werk. Zwanzig Jahre nach ihrem Tod wird man Sölle als Teil der Kirchen- und Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts neu kennen- und verstehen lernen müssen. Doch das Werk der wirkmächtigsten deutschen Theologin des 20. Jahrhunderts ist auch heute noch – oder wieder? – relevant.

„WIDERSTAND!“ haben wir bei der Eule ein Projekt in Kooperation mit der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt über Dorothee Sölle und den Osten genannt. Mit voller Absicht. „Widerstand!“ – das wird seit Mitte der 2010er Jahre wieder auf den Straßen und Plätzen des Ostens gebrüllt, wenn es gegen die „Islamisierung des Abendlandes“, gegen Flüchtlinge, die Corona-Politik der Bundesregierung und viele andere Veränderungsprozesse geht. Widerstand in diesem Sinne wohnt ein regressives Moment inne: Der Widerstand richtet sich gegen alles, von dem vermutet wird, es bedeute Veränderung auch und besonders für das eigene Leben, den eigenen Wohlstand, das eigene Ego.

Auch die Aktivist:innen der „Letzten Generation“ empfinden sich als „im Widerstand“. Die völlig übertriebenen Reaktionen von einigen erbosten Mitbürgern und aus konservativen und rechten Medien geben ihnen Recht. Widerstand als stationärer Klimaprotest, der provozieren will, um auf die Dringlichkeit des Klimaschutzes hinzuweisen. Der „Letzten Generation“ wird Apokalyptik vorgeworfen, das Verbreiten von Weltuntergangserzählungen, Panikmache.

Widerstand bei Dorothee Sölle ist eine Bewegung in die Zukunft hinein, Widerstand bedeutet ihr Bejahung von Veränderung: „Veränderung aller Zustände durch unsere Arbeit, durch unsere Politik“, wie es in dem von ihr formulierten Glaubensbekenntnis heißt. Im „WIDERSTAND!“-Projekt werden wir mit Zeitzeug:innen, Theolog:innen und Autor:innen zurückschauen: Wie inspirierten sich Dorothee Sölle und die DDR-Opposition in den Kirchen gegenseitig? Welche Pfade wurden gemeinsam beschritten, welcher Dissens bestand? Aber wir schauen bewusst auch in die Zukunft:

Was bedeuten Werk und Leben Dorothee Sölles uns heute? Welche Impulse können von ihrer Spielart feministischer Theologie heute für gegenwärtige feministische und theologische Diskurse ausgehen? Lohnt sich die Auseinandersetzung mit ihr als einer „Riesin, auf deren Schultern wir stehen“, wie sie Sarah Jäger, Juniorprofessorin für für Systematische Theologie / Ethik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena nennt? Kann an Sölles politische Theologie beim Nachdenken über Krieg und Frieden, Geschlecht und Gender, Ökologie und Klimawandel angeschlossen werden?

Dorothee Sölle 1974 in Köln, Foto: Brigitte Friedrich

In den Gesprächen, die ich für das „WIDERSTAND!“-Projekt geführt habe – und die im Laufe der kommenden Tage und Wochen veröffentlicht werden – ist mir eine Dorothee Sölle begegnet, die Menschen Orientierung auf ihren Denkpfaden und Lebenswegen gegeben hat – auch und besonders, wenn man ihr nicht überall hin gefolgt ist. Weil sich bei Sölle Werk und Leben nicht auseinanderdividieren lassen, ist sie noch immer catchy. Ich will fast sagen, sexy. Den eigenen Glauben und das eigene theologische Denken als ganze Person zu verkörpern, ist anziehend.

Vielleicht ist dies und nicht die ungenaue und unzutreffende Unterscheidung zwischen populärer und wissenschaftlicher Theologie, die immer wieder an das Werk Sölles herangetragen wird, die entscheidende Differenz von Sölle zu vielen ihrer theologischen Zeitgenoss:innen und Nachfolger:innen? Denn einfach oder gar vereinfachend ist die Sölle, die uns in ihren Büchern begegnet, gerade nicht. Die Ablehnung der universitären Theologie ihr gegenüber, die sie bereits zu Lebzeiten lakonisch kritisierte („Frau und links, das war wohl zu viel“), zieht sich bis heute hin, aber ihr theologisches Schreiben ist doch ganz akademisch. „Kant am Strand“, Sölle für Wonnestunden, das ist mit ihr nicht zu machen. Ich habe in „Stellvertretung: Ein Kapitel Theologie nach dem »Tode Gottes«“ geblättert: Die erste Fußnote ist dem Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach, die zweite Georg Wilhelm Friedrich Hegel gewidmet.

Begegnungen mit Dorothee

Wo und wie können wir heute Dorothee Sölle begegnen? Da sind zunächst einmal ihre Texte und Bücher, weitverstreut, unübersichtlich, zeitgebunden und zumeist nur antiquarisch zu bekommen. Es stellt sich zwanzig Jahre nach ihrem Tod nicht allein die Frage, in welchen ihrer Texte man „der Sölle“ heute begegnen kann, sondern wo und wie man überhaupt ihren Texten ansichtig wird.

Immer wieder machen meine Gesprächspartner:innen auf die Gedichte Sölles aufmerksam, von denen sie sich in der Vergangenheit haben inspirieren lassen und die auch heute einen Zugang zu ihrem Werk geben. Sölle als Theopoetin, das nimmt von ihrem Wirken als Theologin nichts weg, sondern macht es erst vollständig und eben zugänglich: „Sölle rückt uns nahe über die Gedichte und über diejenigen Texte, in denen sie ganz stark narrativ ihre eigene Biographie entfaltet“, ist die Theologin Sarah Jäger überzeugt. Lothar König erinnert Sölles Gedichte als Anstoß dazu, den Glauben als Stärkung für eine widerständige Praxis in der DDR zu entdecken. Als Antwort auf den Vorwurf der „Schreibtischsolidarität“ durch die ost-berliner „Frauen für den Frieden“ schreibt ihnen Sölle ein Gedicht „in Solidarität für Bärbel und Ulrike“, erzählt Christiana Steiner im ersten Gespräch des „WIDERSTAND!“-Projekts.

Zum 20. Todestag werden neben Sölles Texten auch Interviews und Auftritte von ihr aus den Archiven hervorgekramt: Legendär ihr Gespräch in der Sendung „Zu Protokoll“ von Günter Gaus vom 13. Juli 1969 (YouTube). Nicht allein als Zeitdokument wertvoll ist auch ihr Interview in der Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“ (YouTube). Nicht wenige Veranstaltungen an Akademien widmen sich dieser Tage ihrem Wirken und Leben (einige Beispiele). Hinrich Kley-Olsen sammelt auf dorothee-soelle.de akribisch aktuell erscheinende Artikel und multimediale Beiträge.

Doch kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es vor allem graue Häupter sind, die sich erneut über Werk und Person Sölles beugen, sie studieren, feiern, kritisch bedenken. Es gibt natürlich auch Anknüpfungen jüngerer Akteur:innen: Eule-„SektionF“-Kolumnistin Carlotta Israel hat in der Neue Wege dem intersektionalen Erbe Sölles nachgespürt. Bei „WIDERSTAND! Dorothee Sölle & der OSten“ kommen mit Christiana Steiner und Sarah König junge Theologinnen zu Wort.

Es ist wohl auch ein müßiges Geschäft, Sölle jungen Aktivist:innen hinterherzutragen. Im „WIDERSTAND!“-Gespräch berichtet Juniorprofessorin Sarah Jäger von ihren Student:innen, die Sölle auf dem Leseplan zwar spannend und inspirierend finden, aber eben auch darauf hinweisen, dass auch sie nicht mehr „zeitgenössisch“ sei. Die Kontextualität und der Aktivismus von Sölles Theologie sind sexy, aber heute sind sie auch eine Hürde. Wer Sölle verstehen will, muss sie in ihrer Zeit und darum auch die Zeit damals verstehen. Das Problem zieht sich durch die Lektüre von Sölles Beiträgen zum Feminismus, zur Friedensbewegung (inkl. ihres eigentümlichen Antiamerikanismus‘) und zur Ökologie hindurch.

Dabei braucht es keine große Fantasie, um sich vorzustellen, wie sich ein Sölle-Zitat auf einem Banner von „Fridays for Future“ oder auf einer Demo gegen den Ukraine-Krieg machen würde. Man kann Sölle-Gedichte begleitet von Saxophonklängen (anschl. Häppchen und Pinot Grigio) vor einem saturierten Bürgipublikum aufführen, vieles von Sölles linkem Aktivismus ist in die evangelische Kirche als Ganzes eindiffundiert. Doch ihr Glaubensbekenntnis vom Widerspruch des Lebendigen würde genauso gut als Tischspruch beim Aktivist:innen-Frühstück der „Letzten Generation“ funktionieren, das in den vergangenen Tagen immer wieder in der St. Thomaskirche in Berlin-Kreuzberg stattfand.

Im Widerstand mit Dorothee Sölle

Dorothee Sölles Praxis des Widerstands war eine Praxis des Widerspruchs in Worten, Texten, Gedichten, Erzählungen. Vielleicht ist auch das zum 20. Todestag ein Fingerzeig, der nicht ignoriert werden sollte: In ihrer Sprache hob Sölle sich ab vom Sound der Politik, der Theologie und der Kirche ihrer Zeit. Sie gab Menschen Orientierung, Hoffnung und Heimat durch und in einer Sprache, die sie sich selbst in einem kreativen Beheimatungsprozess geschaffen hatte. Heute sprechen und schreiben wir zwar anders als der Staats- und Kirchenmainstream damals, aber über Sölle ganz in den uns gewohnten, zu einem Teil auch von ihr geprägten Konventionen. So konventionell wie auch dieser Jubiläumstext es ist.

In ihrem Nachwort von 1982 zu „Stellvertretung“ formuliert Sölle ganz zum Schluss:

„Wenn mich täglich etwas neu zu Christus zieht und nach Gott Ausschau halten läßt, dann sind es die Erfahrungen des Schmerzes. Daran hat sich nichts geändert, und dieses Jahrhundert, das man vielleicht einmal das der Folterer nennen wird, hat viele von uns um der Schmerzen willen zu Christen gemacht. Zu Nachfolgern des Armen aus Nazareth, der immer noch Gott für uns spielt.“

Das ist keine Summe der Theologie Dorothee Sölles, auch nicht nur ein Wort einer „protestantischen Prophetin“, zu der sie die EKD dieser Tage ausruft, das ist persönliches Bekenntnis, zeitgebunden, historisch geworden. Das Jahrhundert Dorothee Sölles ist vorbei. Müssen wir Sölle zwanzig Jahre nach ihrem Tod und nur sechs Jahre vor ihrem 100. Geburtstag nicht doch in die Bibliothek der Geschichte einordnen? Wie könnte man heute sagen, was eine:n existentiell am Glauben rührt? Wozu man ihn gebrauchen könnte?

Der 20. Todestag Dorothee Sölles könnte Anlass sein, über die Veränderung auch der sprachlichen Zustände nicht nur nachzudenken, sondern sich über sie zu empören, vielleicht ganz generell formal und grammatikalisch, ernstinhaltlich und widersprüchlich zu eskalieren, mal selbst zu formulieren, DINGE auch mal unklar kompliziert und unfertig zu lassen

Wenn mich täglich etwas neu zu Christus zieht und nach Gott Ausschau halten läßt, dann …