Kolumne Gotteskind und Satansbraten

Junge Menschen brauchen eine Vision für eine bessere Zukunft

Im Wahlkampf spielen die Bedürfnisse und Interessen junger Menschen – wieder einmal – keine Rolle. Werden wir nach der Wahl wieder entsetzt auf den Rechtsruck der Jugend blicken – oder endlich Verantwortung übernehmen?

Am Sonntag werden wir neben den Wahlergebnissen auch wieder Statistiken sehen, die uns zeigen, wie die Jugend gewählt hat. Manch eine:r wird sich eventuell mit dem Resultat schwertun.

In der öffentlichen Wahrnehmung ist die Jugend nämlich oft links und grün, denn das sind die, die uns auffallen: Wenn sie fürs Klima auf die Straße gehen oder wenn sie sich in Jugendorganisationen von Parteien oder NGOs engagieren. Es sind die, die laut sind. Jene, die wir feiern, wenn sie in Wahlsendungen Alice Weidel (AfD) souverän und eloquent die Stirn bieten.

Doch schaut man sich die letzten Landtagswahlen und die Europawahl an, wird klar: Diese jungen Menschen bilden nicht mehr die Mehrheit der Jugendlichen ab. Ein nicht eben kleiner Teil der 16–24-Jährigen in Deutschland wählt konservativ bis rechts. Erschreckend ist, dass rechtsradikale Einstellungen unter Jugendlichen mehr und mehr salonfähig werden. Was ist da eigentlich passiert?

Die FAS berichtete über den Rechtsruck in deutschen Schulen. Ich lese den Artikel und rolle schon beim Einstieg mit den Augen. Denn natürlich hat man sich als Aufmacher eine städtische Gesamtschule ausgesucht und nicht ein altsprachliches Gymnasium. Wie zu erwarten, springen die Autorinnen dann auch im weiteren Verlauf über all die altbekannten Stöckchen, die schon viel zu lange als Erklärungen für den erstarkten Rechtsradikalismus herhalten müssen. Jugendliche, die AfD wählen würden, sind bildungsfern, informieren sich nur über TikTok und auch wenn man am Anfang eine westdeutsche Schule gewählt hat, ist man ein paar Zeilen weiter schnell wieder bei den ostdeutschen Bundesländern angekommen.

Machen wir es uns kompliziert, bitte!

Dabei sind rechtsradikale Jugendliche längst kein Phänomen der Hauptschulzweige, der neuen Bundesländer, der ärmeren Stadtteile mehr. Du findest sie überall! Auf dem altsprachlichen Gymnasium im gut situierten Stadtteil, im Chemie-Leistungskurs der Vorort-Oberstufe, auf der christlichen Privatschule. Wir bildungsbürgerlich sozialisierten Pädagog:innen und Theolog:innen machen es uns zu einfach, wenn wir im Rechtsradikalismus weiterhin ein Problem der Anderen vermuten, das in unserer Welt nicht vorkommt.

Mit einer Mischung aus Naivität und Überheblichkeit ignorieren wir, dass Hakenkreuze und Hitlergrüße längst viel tiefer in unserer Lebenswelt eingesickert sind, als wir es wahrhaben wollen.

Mehr politische Bildung in der Schule ist die wichtigste Forderung, die dann immer wieder laut wird. So als sei sie ein Allheilmittel und völlig ausreichend, um dem Problem des erstarkenden Rechtsradikalismus unter jungen Menschen Einhalt zu gebieten. Dabei wird ignoriert, dass ein Schulsystem wie unseres gegenüber Desinformationen in Sozialen Medien und dem Einfluss von Elternhäusern und sozialem Umfeld oft genug chancenlos ist. Natürlich ist es katastrophal, gerade dort kürzen zu wollen, wo in Bildungseinrichtungen und auch in der kirchlichen Jugendarbeit Demokratie eingeübt und Aufklärung betrieben wird. Es braucht „dritte Orte“ auch für Kinder und Jugendliche.

Aber vielleicht sollten wir einen anderen Ansatz mit in die Überlegungen einbeziehen und uns fragen, welche Bedürfnisse rechte politische Influencer:innen eigentlich bei Jugendlichen ansprechen (und nach eigener Darstellung auch in der Lage wären zu lösen).

Während wir, die Menschen, die heute Eltern sind, in einer Welt aufgewachsen sind, die uns suggerierte, dass alles immer besser, größer, friedlicher und freier wird, erleben unsere 14- bis 24-Jährigen nur noch den fragilen Rest einer goldenen Zeit. Ja, hier gibt es auf die gesamte Welt gesehen noch immer viel Wohlstand. Wir haben ein soziales Netz, das noch halbwegs trägt. Es gibt gerade noch (meistens) genug Schutz vor Naturkatastrophen, so dass das eigene Leben unbehelligt weitergehen darf. Da ist noch ein brüchiger, fragiler Frieden, der jedoch nichts mehr mit dem der Jahre unserer Jugend zu tun hat, in der Krieg nach dem Fall des Eisernen Vorhangs so weit weg war, dass wir es uns leisten konnten, Rüstungsindustrie und Wehrpflicht rundheraus abzulehnen.

Visionen einer besseren Zukunft anbieten

Täglich, stündlich, gar minütlich sind unsere jungen Menschen mit neuen Breaking News konfrontiert, und davon ist eine düsterer als die andere. Die Kommentierungen, sei es von Journalist:innen, Influencer:innen oder aus der Politik, sind pessimistisch bis katastrophal. „Wir schaffen das“ war gestern, „fünf nach 12“ ist heute.

Viele existenzielle Fragen treiben junge Menschen (oder eigentlich uns alle) in diesen Tagen um. Wie kann eine Zukunft aussehen in einer Welt, in der alte, sichere Bündnisse zerbrochen sind? In der das 1,5-Grad-Ziel verfehlt wurde? Einer der wichtigsten deutschen Industriezweige ums Überleben kämpft? In der Wohnraum knapp und teuer ist, Infrastruktur marode, das Erziehungs- und Bildungssystem zugrunde gespart?

Statt um all diese Themen hat sich der Bundestagswahlkampf größtenteils um niveaubefreite persönliche Diffamierungen und die Brandmauer gedreht. Man konnte den Eindruck gewinnen, die zur Verfügung stehenden Spitzenkandidat:innen der demokratischen Mitte sind in dieser Gemengelage nicht mehr Gestalter:innen einer hoffentlich besseren Zukunft, sondern reagieren nur noch panisch und überstürzt auf sich überschlagende Ereignisse. Kopflos, haltlos, planlos.

Lösungen und Visionen einer „besseren“ Zukunft bieten andere an. Die am rechten Rand zum Beispiel. Die AfD behauptet, die Schuldigen für all unsere Probleme ausgemacht zu haben und zeigt mit dem Finger auf sie – es sind die etablierten Parteien und natürlich Migrant:innen, aber auch queere Menschen und überhaupt die ganze „Genderideologie“. Die Herleitungen der Rechtsradikalen sind absurd, ihre Konzepte nicht umsetzbar. Doch es bedarf tieferer Auseinandersetzung mit den Sachthemen, um das zu sehen.

Und eines hat die AfD leider – das Versprechen, dass es mit ihr besser wird. Sie zeichnet eine Vision für eine andere Zukunft. Eine, in der ich nicht leben möchte, die mich anwidert und abstößt. Ich glaube auch, dass die meisten jungen Menschen nicht ernsthaft in einer solchen Welt würden leben wollen. Vielmehr spüre ich bei ihnen (und bei vielen älteren ebenso) die Hoffnung, dass diese Partei Veränderungen anstößt – und irgendwer die schlimmsten Folgen schon abfedern würde. So als könne man bei der AfD das vermeintlich Gute behalten und das menschenfeindliche Drumherum verwerfen.

Dass das nicht klappt, können wir gerade in den USA sehen. Doch ich glaube nicht, dass dieses Verhängnis für Menschen, die ihre verzweifelte Hoffnung auf Veränderung in diese Partei gelegt haben, schnell genug sichtbar genug wird, um ihre Wahlentscheidung zu verändern. Doch was hätte passieren können, damit junge Menschen sich am Sonntag anders entscheiden?

Eh schon alles verloren?

Ich habe natürlich kein Patentrezept. Doch es ist nach wie vor meine Überzeugung, dass ein Teil des Problems darin liegt, dass es uns in den letzten Jahren nicht gelungen ist, Visionen und Chancen zu entwickeln, die aus der derzeitigen Krisensituation herausführen. Politik und öffentliche Diskussion sind in den letzten fünf Jahren mehr und mehr einer Lust am Untergang verfallen.

Pessimismus, Zynismus und Katastrophendenken prägen die öffentlichen Debatten. Positive Zukunftsperspektiven, Visionen einer Welt, für die es sich lohnt, sich anzustrengen, mitzuarbeiten, vielleicht sogar zu kämpfen, vermisse ich. Politisch Verantwortliche, nein, eigentlich eine ganze Erwachsenengeneration, erweckt den Eindruck, das Ruder selbst nicht mehr in der Hand zu haben, keine Ideen zu haben und kein übergeordnetes Ziel. Stattdessen wird gejammert, geschimpft, diffamiert und zerredet.

Wenn Kinder in hochstrittigen Elternhäusern aufwachsen, in denen die Erwachsenen zu sehr mit sich und mit Schuldzuweisungen beschäftigt sind, um noch alltägliche Probleme zu lösen, suchen diese oft neue Sicherheit durch sehr ungünstige Bewältigungsstrategien: Sucht, Weltflucht, falsche und gefährliche Freund:innen. Das gilt übrigens für bildungsferne und bildungsnahe Familien gleichermaßen.

Kann es sein, dass uns dies gerade auf gesellschaftlicher Ebene ebenso passiert? Dass wir junge Menschen verlieren, weil wir sie mit dem Gefühl zurücklassen, für ihre Sorgen keine Kapazitäten mehr zu haben, in einer Welt, die uns mehr und mehr entgleitet? Vermitteln wir den Eindruck, dass es uns wichtiger ist, Recht zu haben und den anderen eins auszuwischen, als konstruktiv nach Lösungen zu suchen? Strahlen wir tagtäglich aus, dass wir eh schon alles für verloren halten?

Sollte es so sein, wäre ein erster Schritt sicher, dass sich die Erwachsenenwelt nach der Wahl zum Wohle aller ein bisschen zusammenreißen könnte. Das bedeutet Differenzen nicht zu unüberbrückbaren Hindernissen zu erklären, eigene Befindlichkeiten hintenanzustellen, wieder Verantwortung zu übernehmen, statt Schuld zurückzuweisen.

So wie krisengeschüttelte Familien darauf angewiesen sind, wieder eine gemeinsame Vision von einer besseren Zukunft zu entwickeln, sind wir es auch als ganze Gesellschaft. Die Verantwortung dafür tragen die, die größer, mächtiger und weiser sind.


Alle Ausgaben der Familienkolumne „Gotteskind und Satansbraten“ von Daniela Albert in der Eule.


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