Keine Politik ist auch keine Lösung

Im Wahlkampf um die Nachfolge Angela Merkels erlebt die Politik ein Comeback. Wir brauchen den Streit zwischen unterschiedlichen Interessen, keine Flucht ins Überpolitische.

Politik stresst und führt zu Konflikten. Um das festzustellen, muss man wohl keine elaborierte Theorie des Politischen bemühen. Das ist insbesondere der Fall, wenn in Umbruchszeiten die politischen Lager mit weitgehend unversöhnlichen, weil in Details und Grundausrichtung gegensätzlichen Programmen um Gestaltungsmacht und Diskurshoheit kämpfen. Währenddessen sehen sich gesellschaftliche Gruppen – soziale Aufsteiger, Absteiger oder Umsteiger – plötzlich in zunehmend heftige Verteilungskämpfe verstrickt: Wer wird zu den Gewinnern gehören?

Angesichts dieses Konfliktpotentials ist es wenig überraschend, wenn politische Gegensätze lieber verschleiert oder aufgehoben werden sollen – also die Flucht vor der Politik ergriffen. Und wie immer, wenn es um Fluchten aus der Bedrängnis unmittelbarer Lebensherausforderungen geht, findet sich auch hier etwas in den Schatzkammern der religiösen Tradition …

Eine solche Flucht ist die Flucht vor dem Interessengegensatz. Der staubige Kampfplatz des politischen Streits soll verlassen und eine Instanz gefunden werden, die unberührt von allen partikularen Interessen über dem Getümmel schwebt. Die eine gemeinsame Vernunft verkörpert und für die ganz große Einheit einsteht, die im Konflikt der Parteien selbst unparteiisch vermittelt.

Es ist mehr als deutlich, dass damit religiöse Instinkte angesprochen werden. Tatsächlich war die Religion ja bis weit in die europäische Neuzeit hinein für dieses letzte Band zuständig, für diese stabilisierende Draufsicht aus dem Jenseits aller sozialen Spannungen. Doch zugleich führte noch jeder religiös-politische Anspruch, für die letzte Einheit der Sozialwelt einzustehen, selbst zu politischen Konflikten. Man denke nur an die Konkurrenz zwischen Kaiser und Papst.

Politik-Ausstieg in der Ära Merkel

Eine Sehnsucht nach einem solchen Ausstieg aus der Politik lässt sich auch im Vorfeld der Bundestagswahl beobachten. Sie scheint mir unter den Anhängern verschiedener Parteien unterschiedlich stark verbreitet. Am wenigsten anfällig erscheinen mir Anhänger der Linkspartei und der FDP zu sein – was mit dem realistischen Bewusstsein zu tun haben könnte, lediglich gesellschaftliche Splittergruppen zu vertreten.

Angela Merkel hat es im Laufe ihrer schier ewigen Kanzlerschaft gemeistert, diese Sehnsucht nach einer Aufhebung der Politik zu inkarnieren. Zunehmend schwebte sie für viele Bürgerinnen und Bürger über aller Tagespolitik und deren Interessengegensätzen, ja sogar über den Parteien. Sie bot sich so aktiv oder auch unbeabsichtigt als Projektionsfläche für alle möglichen politischen Anliegen an. Was wiederum lange Zeit ganz profan ihrer Partei – der Union – zugute kam, die an diesem mystifizierenden Schein teilhaben und so selbst als letzte Volkspartei überpolitische Ansprüche vertreten konnte.

Unabhängig davon, wie Merkel selbst votierte und politisch handelte: Sie war für viele Menschen nicht Unionspolitikerin, sondern Klimakanzlerin, Europakanzlerin, christkonservative Sozialdemokratin, kartoffelsuppekochende Übermutter. In einer letzten Überhitzung des „Angela wählt Annalena“-Hypes erschien es progressiven Merkeljüngerinnen und -jüngern geradezu als Blasphemie oder billiger Zynismus, Angela Merkel überhaupt noch parteipolitische Restneigungen zu unterstellen: Könnte der Unionskanzlerin vielleicht doch zuallererst an einem Wahlsieg ihres Parteifreundes, Nachfolgers im Parteivorsitz und Kanzlerkandidaten Armin Laschet gelegen sein? Das sei ferne!

Die Flucht ins Überpolitische

Sicher nicht zufällig hat diese Sehnsucht nach dem Überpolitischen im linken Spektrum ein Pendant in Teilen der grünen Anhängerschaft. In dieser Variante rückt allerdings nicht die eigene Kandidatin in die Stellung des Überpolitischen ein, sondern die Grüne Partei als Triebkraft eines progressiven Lebensstils. Es ist allein dieser Lebensstil, der in die planetare Zukunft weist und glücklicherweise schon jetzt im urbanen Bildungsbürgertum anwest.

Grün zu wählen und zu sein bedeutet in dieser Perspektive, sich über den kurzsichtigen Egoismus zu erheben, der vor allem die rückständige Land- und Vorstadtbevölkerung noch an die Vergangenheit gefesselt hält. Jedes Eigeninteresse soll hier zugunsten einer Globalperspektive zurückgestellt werden. Wer nun zu diesem Verzicht aufs Eigeninteresse nicht bereit ist, ist eben noch zu sehr in seiner kleinen Lebenswelt befangen. Vermutlich, weil er unmoralisch auf Kosten der Zukunft lebt und sich dies nicht eingestehen will.

Eingebaut ist hier ein Gefälle zwischen den Missionaren des Überinteresses, die ihren Lebensstil (ob durch die persönliche CO2-Bilanz gedeckt oder nicht!) schon als Vorgriff der absoluten Zukunft verstehen und damit auch ein begrenztes Eigeninteresse vertreten dürfen – und denen, deren Lebensformen schlicht durch die Gesetzgebung abzuwickeln sind. Zunehmend tragisch kämpft die kluge Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock gegen die Flurschäden dieser Missionare an, weil ihr mit Blick auf die Umfragen klar sein muss: Dieser Heilsweg führt nicht aus der tiefgrünen Kernklientel hinaus und ist mit der politischen Führungsrolle in einem Industrieland schwer vereinbar.

Es ist ein zutiefst bürgerliches und latent religiöses, als solches auch verständliches Harmoniebedürfnis, das sich in all diesen Fluchten ins Überpolitische ausspricht, z.B. auch in der technokratischen Illusion einer allein an Sachzwängen und rationalen Verfahren ausgerichteten Politikverwaltung, die den Liberalismus infiziert hat. Intellektuelle Weihen erhält es nicht zuletzt von einer popularisierten Systemtheorie, deren soziologische Kurie den Interessengegensatz zugunsten der Eigenlogik eines funktional differenzierten Politiksystems eliminiert, indem der selbst interesselose Beobachter aus dem Nichts auf selbstbezügliche Kommunikationsschleifen starrt. Auch hier heben sich im Jenseits des Systems die Gegensätze auf.

Wo man nun nicht die radikale Komplexitätsreduktion des Stammtisches wählt – die Politiker sind doch alle korrupt und wählen bringt ja nichts! –, bleibt als gemeinsamer Ertrag dieser verschiedenen Fluchtbewegungen: Die in sich verkrümmten Einzel- und Gruppeninteressen sind das Uneigentliche, sie sollten sich eigentlich im Allgemeinwohl aufheben und auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt ausrichten lassen. Das ist eine Denkfigur, die natürlich nicht von ungefähr an die christliche Sündenlehre erinnert.

Das Allgemeinwohl soll entsprechend seinen Ort jenseits des Streits der Interessen haben. Und um trotzdem wirksam zu werden, muss es diesen gegenüber möglichst rein zur Darstellung gebracht werden. Man kann hier je nach Geschmack an den römischen Bischof, den byzantinischen Kaiser oder auch den himmlisch-engelhaften Lebensstil der Mönche und Asketen denken.

Aber alle noch so subtil religiös imprägnierten Vorstellungen einer solchen Politik des Allgemeinen müssen mit einem Pluralismus verschiedener Parteien, Programme, Koalitionsoptionen und Lebensstile dauerhaft fremdeln. Interessengegensätze gelten dann schnell als Sünde. Zu tolerieren ist jede solche Zersplitterung nur als vorläufiges Zugeständnis – solange man es sich als Gesellschaft noch leisten kann oder es angesichts der Widerstände in sich selbst verkrümmter Interessengruppen eben nicht anders geht.

Wahkampf in Deutschland: Es geht um alles – aber worum geht es eigentlich? (Foto: Philipp Greifenstein, CC BY-SA 4.0)

Das freie Spiel der Interessen

Wenn hier schon eine Analogie zu religiösen Motiven vorliegt, dann können wir auch einmal im Fundus religiöser Traditionen nach Alternativen kramen: Als Inspiration dienen könnten hier unter anderem synodale Modelle, die im oberdeutsch-städtischen Luthertum des 17. Jahrhunderts entwickelt wurden, aber sich als utopische Alternative zum landesherrlichen Kirchenregiment mit seinen fürstlichen Notbischöfen leider nie durchsetzen konnten.

In einer ständisch gegliederten Versammlung sollten erfahrene und geachtete Christenmenschen aller Berufsgruppen zur Beratung über Lehre und Leben zusammentreten. Die Einheit und Allgemeinheit der Kirche soll dabei gerade nicht in einer Einzelperson oder einem Amt wirksam zur Darstellung kommen, sondern durch eine möglichst umfassende Repräsentation der gesamten Sozialstruktur, des spezifischen Berufswissens und aller Gruppeninteressen. Der Fürst kann lediglich einen besonderen Ehrenplatz beanspruchen, er hat die präsidiale Leitung der Versammlung und die Aufsicht über das Verfahren inne.

Dass es auf einer solchen Konzilsversammlung zur großen Symphonie der vielen Stimmen kommt, in der sich das Allgemeine tatsächlich manifestiert und allen in seiner Notwendigkeit aufdrängt, bleibt unverfügbar – also Geschenk des Heiligen Geistes. Aber dennoch schafft die vor Gott und im Verfahren gleichberechtigte Repräsentation der verschiedenen Sichtweisen und Interessen einen Raum, in dem sich Wahrheit einstellen kann. Man kann das so interpretieren: Nicht jenseits, über oder unter, sondern mitten auf dem Spielfeld der konkurrierenden Interessen enthüllt sich das Allgemeininteresse.

Versucht man, Anregungen dieser kirchenpolitischen Utopie aus dem 17. Jahrhundert in die Gegenwart zu übersetzen, dann könnte das bedeuten: Interessen sind zu rehabilitieren. Es geht nicht darum, dass bestimmte Menschengruppen ihre Interessen unbesehen zurückstellen und ihre eigene Liquidierung als Klasse akzeptieren lernen. Es geht nicht darum, Personen zu suchen und zu wählen, die das besondere Charisma persönlicher Interesselosigkeit haben. Es geht auch nicht um rein technokratische Verwaltung von Ressourcen.

Wir dürfen nicht die Flucht vor dem Politischen antreten, sondern sollten noch viel tiefer hineintauchen! Die Interessen müssen in ein freies Spiel eintreten können, damit sich zumindest eine immer neue Annäherung an das erreichen lässt, was im Interesse aller sein muss.

Die neue Normalität: Eine Koalition der Gegensätze

Die entscheidenden zwei Fragen sind dann: Wie werden erstens Menschen sich über ihre tatsächlichen Interessen – als soziales Milieu oder altmodisch als Klasse – klar? Denn es könnte ja sein, dass sie bislang immer faktisch gegen ihre Interessen gewählt haben.

Und wie lassen sich zweitens diese verschiedenen Eigeninteressen in der ganzen Breite, die unsere Gesellschaft eben so bietet, auch angemessen im politischen Prozess berücksichtigen? Wie kommt es zu einer öffentlichen Meinungsbildung, zu politischen Entscheidungen und vor allem politischer Legitimation, wenn man nicht länger einen Großteil der Interessen in der Bevölkerung in die Unterwelt des Vorpolitischen abdrängt?

Deshalb müssen wir neu über Diversität, Repräsentation, Beteiligung und Gewichtung reden. Die Koalition einander programmatisch fremder Parteien wird Normalform der Regierung oder bekommt angesichts großer Herausforderungen sogar einen Eigenwert zugesprochen – sie ist nicht einfach nur Zugeständnis bis zur Verwirklichung der wahren Volks- oder Einheitspartei. Im politischen Reinlichkeitswahn aller Lager wird schnell jeder konkrete Kompromiss, jeder Ausgleich konkurrierender Interessen verdächtig und sofort als Prinzipienschwäche oder Verrat an der Alternativlosigkeit einer „guten Sache“ verteufelt.

Ja, diese echte Alternative einer weltlich-politischen Synodalität ist vermutlich eine Form von sozialdemokratischem Liberalismus, der in sich selbst Platz für ganz verschiedene – grüne, marktliberale, konservative, linke – Programme einräumt. Wie sollte es denn auch sonst gehen? Im leeren Himmel des politischen Allgemeinen hockt halt kein höheres Wesen bereit.

Coram Mundo: Eule-Serie zur Bundestagswahl 2021

In einer siebenteiligen Serie von Analysen und Kommentaren widmen wir uns in diesem Jahr der Bundestagswahl am 26. September. Unsere Autor:innen beleuchten verschiedene Aspekte der politischen Landschaft vor dem Urnengang. Dabei schreiben sie aus unterschiedlichen politischen und thematischen Perspektiven. Diskutiert gerne mit, hier in den Kommentaren und auf unseren Social-Media-Kanälen!