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Rezension Ratgeber von Johannes Hartl

Anleitung zum individuellen Erlösungsglauben

Mit „Die Kraft eines fokussierten Lebens“ legt der Augsburger Theologe und Influencer Johannes Hartl ein neues Ratgeberbuch vor. Was taugt sein neues Werk, vor allem aus christlicher Sicht?

„Dieses Buch kann Dein Leben verändern.“ Damit ist nicht die Bibel gemeint, sondern das neueste Werk des Theologen Johannes Hartl. Dennoch soll „Die Kraft eines fokussierten Lebens“ wie die Heilige Schrift dabei helfen, das eigene Leben in einem „Zeitalter der Ablenkung“ neu auszurichten. Seit mehreren Wochen steht der Ratgeber neben Büchern von Papst Franziskus, Elke Heidenreich oder Ulf Poschardt auf der SPIEGEL-Bestsellerliste für Sachbuch-Hardcover.

Johannes Hartl ist Gründer des Gebetshauses Augsburg und Vertreter einer Allianz von konservativem Katholizismus und neo-charismatischer Bewegung. Außerhalb der Kirchenbubbles ist er vor allem für seine YouTube-Videos bekannt, die den Clips von Kulturkämpfer Jordan Peterson („12 Rules for Life“) oder Männlichkeitsinfluencer Andrew Tate ähneln. Aufmerksame Beobachter*innen werden sich an Hartls Engagement für „Deutschland betet gemeinsame“, bei der UNUM24 in München und bei der Tagung der rechten „Alliance for Responsible Citizenship“ (ARC) in London erinnern. Was taugt sein neuer Ratgeber, vor allem aus christlicher Sicht?

Zunächst fällt die sprachliche Gestaltung des Buches auf. Die Leser*innen werden durchgehend mit einem großgeschriebenen „Du“ adressiert. Gleichzeitig bildet Hartl immer wieder Schicksalsgemeinschaften: „Diesen Flugmodus, von unserem Handy genau wie von uns selbst, schalten wir im Alltag viel zu selten ein.“ Die wiederkehrenden Pronomen „Du“ und „wir“ bewirken, dass sich das Lesepublikum persönlich angesprochen fühlt, auch wenn es bei genauerer Betrachtung vielleicht gar nicht gemeint ist.

Dem arbeiten nicht zuletzt die schriftlichen Übungen zu, die das Buch durchziehen: Stetig hält der Verfasser die Leser*innen dazu an, Sätze zu ergänzen, Dinge anzukreuzen, Listen zu erstellen oder Fragen zu beantworten. Hartl erzeugt auf diese Weise ein bestimmtes Selbstbild in seinen Leser*innen: Sie seien dauernd am Smartphone, würden unter einem „,Potenzial-Verrottungs-Syndrom‘“ leiden und sich zu sehr am Geschmack der Massen ausrichten – ihr Leben sei schlicht nicht fokussiert.

Hartl behauptet zwar an einigen Stellen, dass er mit seinem Buch nicht das Ziel verfolge, seinem Publikum „noch mehr Stress zu machen“. Es gehe nicht darum, innerhalb „kürzester Zeit alle Baustellen in Deinem Leben“ anzugehen. Besonders wenn eine Person an „ADHS, einer Sucht, einer schweren Krankheit oder Problemen im Bereich der mentalen Gesundheit“ leide, seien kleine Schritte auch ein Anfang, so der Augsburger Theologe.

Nicht in „Opferrolle versteifen“

Allerdings verortet Hartl diese nicht vollständig aus der Luft gegriffenen Probleme der Gegenwart stets in den Einzelnen. Menschliches Leiden erscheint als Folge eines Lebens ohne Fokus. Gesellschaftliche Ursachen bespricht Hartl abseits seines schablonenhaften Technik-Pessimismus nicht. Als populärwissenschaftliche Gewährsmänner für diese Haltung dienen ihm der Informatiker Alexander Markowetz, der Kulturkämpfer Jonathan Haidt und der Psychiater Manfred Spitzer – den sogar der Augsburger Theologe als „einen der bekanntesten, aber auch nicht unumstrittenen Aufklärer über die Schattenseiten der digitalen Revolution“ ankündigen muss.

Dem menschlichen Leiden zieht Hartl die „Proaktivität“ vor. Er kommt mit dem mormonischen Lebensberater Stephen R. Covey („Die 7 Wege zur Effektivität“) zu der Überzeugung, dass man nicht immer den Umständen die Schuld geben solle. Zwar sei eine „Sensibilität für die Leidensgeschichte und individuelle Situation jedes Menschen […] ganz wichtig“, allerdings würden sich viele heutzutage „durch übermäßige Betonung von Benachteiligung und erlittenen Verletzungen in ihre Opferrolle versteifen“, raunt Hartl.

Eine seriöse Therapie bestehe deshalb nicht darin, den „Klienten nur in seinen Mustern zu bestärken“, erklärt Hartl weiter. Es gehe „früher oder später immer um das Aktivieren von Handlungsoptionen“. Woher der psychologisch nicht weiter qualifizierte Theologe das weiß, bleibt unklar. Er verweist lediglich auf die Kenntnisse seiner ebenfalls im Augsburger Gebetshaus engagierten Ehefrau Jutta, einer „professionellen Traumabegleiterin“.

Ähnlich Gewichtiges erfahren die Leser*innen über das Burnout-Syndrom. Zwar sei dieses in den vergangenen Jahren zu einer „Volkskrankheit“ geworden, allerdings treffe die Krankheit nicht immer die Menschen, die „objektiv am meisten leisten“. Sich selbst zu schonen, sei in jedem Fall der falsche Weg. Das Scheitern spielt in Hartls Menschenbild nur eine untergeordnete Rolle. Misserfolge werden zwar benannt, aber lediglich als Rückschläge begriffen, die das Leben bereichern können. Man dürfe sich nur nicht entmutigen lassen. Der Augsburger Theologe zieht dafür unter anderem das biblische Beispiel des persischen Beamten Nehemia heran, der trotz großer Widerstände nicht aufgehört habe, die Stadtmauer von Jerusalem wiederaufzubauen.

Das andere große Pronomen des Buches ist das „ich“ – genauer gesagt das „ich“ von Johannes Hartl. Immer wieder kehrt der Augsburger Theologe zum eigenen Beispiel zurück. Sein Kopf sei „oft […] ganz schön voll“, er dusche immer erst heiß und dann 2:30 Minuten „so kalt wie es geht“, er sei aufgrund von Intervallfasten „fast gar nicht mehr krank“ (ein schlagender Beweis dafür fehlt, Hartl beruft sich diesbezüglich auf Wikipedia), er lese gerne die „großen Werke der Philosophie […], um einen Überblick zu bekommen“ und so weiter.

Derart banal kommt der Großteil der im Buch genannten Ratschläge daher. Um nicht auszubrennen, könne man beispielsweise auf Pornographie verzichten, häufiger das Mobiltelefon ausschalten, einen „gesunden“ Umgang mit den eigenen Gefühlen einüben und das tägliche Leben umfassend verplanen. Hartl gibt damit über weite Strecken wieder, was eine florierende Lebensratgeberindustrie seit Jahren in immer neuen Varianten verkündet. Wenig überraschend liest sich das Literaturverzeichnis wie ein „Who’s Who“ der Coachingszene: Melody Beattie („Die Sucht, gebraucht zu werden“), James Clear („Die 1%-Methode“), Mihály Csíkszentmihályi („Flow – Der Weg zum Glück“), Yasin Seiwasser („Mental Shower“), Robin Sharma („Der Mönch, der seinen Ferrari verkaufte“) und Chris Surel („Die Tiefschlaf-Formel“) werden selbstverständlich zitiert – ohne ihre Tipps und Tricks kritisch zu hinterfragen.

„Exzellenz hat nie nur Freunde“

Ein weiterer blinder Fleck in Hartls Argumentation  – oder sollte man besser von einer bewussten Auslassung sprechen? – sind die Nächsten. Die menschliche Umwelt macht sich bei ihm lediglich als gelegentlicher Ratgeber, als sogenannter „Rechenschafts-Partner“, dem man regelmäßig über die eigenen Fokus-Fortschritte berichten soll, oder als Hindernis auf dem Weg in ein fokussiertes Leben bemerkbar. Hartl widmet den als Feinde gebrandmarkten „Erwartungen anderer“ sogar einen ganzen Abschnitt. Es sei eine „tragische Wahrheit“, dass uns äußere Ansprüche in die falsche Richtung führen können. Dies gelte „nicht selten vor allem dann“, wenn man besonders begabt, ehrgeizig oder erfolgreich sei: „Exzellenz hat nie nur Freunde.“

Hartl hält seine Leser*innen dazu an, „Mittelmäßiges“ aus ihrem Leben zu verbannen. Sie sollen die „Maske des netten Mädchens oder des netten Jungen […], der immer das tut, was die anderen wollen“, ablegen. Wer sein Leben nicht plane, lasse es sich von anderen Menschen planen. Dass eine reife Persönlichkeit zwischen eigenen Wünschen und fremden Ansprüchen zu vermitteln wüsste, ist für den Augsburger Theologen anscheinend nicht denkbar.

Deshalb erstaunt, dass Hartl in einer Fußnote unter anderem ausgerechnet Martin Bubers Büchlein „Ich und Du“ von 1923 empfiehlt („Nicht besonders langweilig, aber dicht und eine wirklich gute Einführung in philosophisches Denken […].“). Darin vertrat der jüdische Religionsphilosoph die These, dass das „wirkliche Leben“ in Begegnung und nicht in einem Benutzen, Gebrauchen, Beherrschen oder Besitzen bestehe. Eingedenk der vorher präsentierten Vorschläge stellt Hartls „fokussiertes Leben“ gewissermaßen die Antithese zu dieser Überzeugung dar. Der Augsburger Theologe leitet seine Leser*innen eher dazu an, wie sie ihr Selbst gegenüber einer notorisch unbeherrschbaren Umwelt noch besser beherrschen können.

Selbstoptimierung als Privatreligion

Dass Hartl im letzten Abschnitt („Was wirklich zählt“) die „Hingabe“ gegen die reine „Selbstoptimierung“ in Stellung bringen will, ändert daran nichts: Ein „wirklich fokussiertes Leben“ bestünde nicht nur darin, „effektiv, zielorientiert und kraftvoll zu handeln“, eigentlich geht es doch um die Liebe zu Gott und den Nächsten. Wodurch sich diese Liebe jenseits des bloßen Bekenntnisses auszeichnet, bleibt dunkel.

Allerdings versteht es Hartl, die christliche Botschaft in einen Lebenstipp für Einzelne umzudeuten. Bei Jesus käme das Gebot der Gottesliebe vor dem Gebot der Nächstenliebe, denn: „Nur dort, wo die oberste Priorität stimmt, ordnet sich der Rest des Lebens.“ Hartl verschweigt jedoch, dass Matthäus subtil auf die Gleichwertigkeit des ersten und des zweiten Gebots hinweist (Matthäus 22,39). Dass sich das Christentum gerade dadurch auszeichnet, Gottes- und Nächstenliebe ineinander zu verschränken, gerät beim Augsburger Theologen vollständig aus dem Blick. Nicht umsonst spricht Jesus in seiner Rede vom Weltgericht davon, dass sich Gott den Menschen vor allem im bedürftigen Nächsten zu erkennen gebe: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25,40) Vielleicht entfernt uns ein „fokussiertes Leben“, ein Leben nach hartlscher Rationalität, sogar von solchen Begegnungen?

„Die Kraft eines fokussierten Lebens“ steht jedenfalls stellvertretend für eine Form der Lebenshilfe, die das menschliche Leiden individualisiert und damit entkontextualisiert. In extremen Fällen können leicht beeinflussbare Menschen durch die Lektüre sogar schlechte Angewohnheiten an sich erkennen, die sie eigentlich gar nicht haben. Die Verwandtschaft zu Jordan Peterson und Andrew Tate ist deshalb – auch jenseits der ideologischen Übereinstimmungen – nicht zufällig: Beide beschwören in ihren Zuschauer*innen bewusst Fehler und bieten ihnen einen übermäßig strengen Umgang mit dem Selbst als Lösung an.

Darüber hinaus spricht sich in Hartls Buch eine Form des Christentums aus, die in der Botschaft Jesu vor allem eine auf den*die Einzelne*n bezogene Selbstoptimierungsstrategie erkennen will und dabei die Nächsten außer Acht lässt – auch wenn der Augsburger Theologe das bestreiten würde. Ein Verständnis von Umkehr, das die von Jesus im Markusevangelium mit liebendem Blick für die Schwachheit des Menschen formulierte Aufforderung zur Veränderung des eigenen Lebens – „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ – ernst nimmt, kann sich damit nicht zufriedengeben.


Johannes Hartl
Die Kraft eines fokussierten Lebens
Verlag Herder
144 Seiten
16 € (gebunden), 11,99 € (E-Book)


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