Krieg um das christliche Abendland
Die Kirchen erinnern an den Beginn des Ukraine-Krieges vor zwei Jahren und suchen nach ihrem Platz in der „Zeitenwende“. Wie sieht eine wehrhafte demokratische Gesellschaft aus? Welchen Beitrag können die Kirchen leisten?
„Wie viel Kraft muss es kosten, Mensch zu bleiben? Zu lieben, zu hoffen?“ Das fragt die amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischöfin Kirsten Fehrs (Sprengel Hamburg und Lübeck, Nordkirche), zum zweiten Jahrestag des Beginns des Ukraine-Krieges. Die vergangenen beiden Jahre hätten gezeigt, „was jeder Krieg mit sich bringt: so unendlich viel Leid, hunderttausendfachen Tod, unzählige Verletzte, Geflüchtete, verlorene Träume und verwaiste Kinder“. Fehrs bekundet ihren „Respekt vor allen Menschen, die bis heute in der Ukraine leben und ausharren – inmitten des Krieges und an der Front“.
Zum zweiten Jahrestag des Beginns des russischen Angriffskrieges auf die gesamte Ukraine finden in zahlreichen Städten Friedensdemonstrationen statt und in den Kirchen wird zu Friedensgebeten eingeladen. Bei einem ökumenischen Gottesdienst in Hamburg am Samstag werden neben Fehrs auch der Erzbischof des Erzbistums Hamburg, Stefan Heße, die Zweite Bürgermeisterin Hamburgs, Katharina Fegebank (Grüne), und die Generalkonsulin der Ukraine, Iryna Tybinka, sprechen.
Hundertausende Menschen aus der Ukraine sind seit dem 24. Februar 2022 nach Deutschland geflohen. Auch wenn viele von ihnen zwischenzeitlich in ihre Heimat zurückgekehrt sind, leben 1,15 Millionen Ukrainer:innen bei uns. Vor allem viele Frauen und Familien. Ukrainische Kinder besuchen unsere Kindergärten und gehen mit unseren Kindern zur Schule. Haben Sie noch Hoffnung auf eine Rückkehr in ihr Land, das vom Krieg so wahnsinnig zerstört ist?
Rund 6,5 Millionen Menschen sind aus der Ukraine vor dem Krieg geflohen, schätzt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Darunter auch Männer, die sich dem Kriegsdienst entziehen. 800.000 von ihnen sollen sich in europäischen Ländern aufhalten. Ukrainer:innen werden auf Grundlage einer EU-Sonderregelung, der „Massenzustrom-Richtlinie“, humanitäre Aufenthaltsgenehmigungen erteilt, ohne dass sie zuvor ein Asylverfahren durchlaufen müssen.
Kaum Schutz für Kriegsdienstverweigerer
Anders sieht es bei den mindestens 250.000 Militärdienstpflichtigen aus, die seit Kriegsausbruch Russland verlassen haben, berichtet ProAsyl. Sie fliehen vor allem nach Kasachstan, Georgien, Armenien, die Türkei und auch nach Serbien oder Israel. „Die Situation in diesen Aufnahmeländern ist zum Teil prekär.“ Nur wenige von ihnen fliehen weiter in die Europäische Union, hier wird ihnen nur sehr begrenzt ein Aufenthalt gestattet. 13.000 Russen im militärdienstpflichtigen Alter stellten einen Asylantrag in einem EU-Staat.
Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Asylanträge von Schutzsuchenden aus Russland im wehrfähigen Alter deutlich gestiegen (2022: 1.150, Jan-Aug 2023: 2.337). „Im Jahr 2023 ist Russland auf Rang 7 der Hauptherkunftsländer der Asylsuchenden in Deutschland vorgerutscht“, berichtet ProAsyl. Die meisten Anträge werden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), wenn sie denn überhaupt schon bearbeitet wurden, „formell erledigt“: Aufgrund der geltenden „Dublin-Regeln“ wird ihnen die Eröffnung eines Asylverfahrens in Deutschland verwehrt. Sie werden in den europäischen „Drittstaat“ zurückgewiesen, in den sie zuerst in die EU eingereist sind. Nicht einmal 100 russischen Militärdienstpflichtigen wurde seit 2022 in Deutschland Asyl gewährt. Ein paar wenige versuchen auf dem Weg des Kirchenasyls doch noch ein Asylverfahren zu erwirken.
Militärdienstpflichtige Ukrainer und Russen, die sich dem Krieg entziehen, begehren nichts anderes, als sich in diesem Krieg nicht schuldig zu machen. Sie fürchten um ihr Leben. „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“, hält Artikel 4, Absatz 3 des Grundgesetzes fest. Daraus ergibt sich auch eine moralische Pflicht Deutschlands gegenüber Kriegsdienstverweigerern aus anderen Ländern, egal ob Freund oder Feind. Nicht umsonst ist die Möglichkeit der Wehrdienstverweigerung im Grundgesetz der Religionsfreiheit und freien Religionsausübung zugeordnet. Der Friedensbeauftragte des Rates der EKD, Landesbischof Friedrich Kramer (EKM), erinnerte im Dezember an die vielen „jungen Menschen aus Russland, Belarus und der Ukraine“, die wegen einer Wehrdienstverweigerung „Verfolgungen ausgesetzt und mit Gefängnis oder Tod bedroht“ werden.
Auf was dürfen wir hoffen?
Wie viel Kraft kostet es, Mensch zu bleiben? Diese Frage stellt sich zum zweiten Jahrestag des Ukraine-Krieges besonders den Menschen in der Ukraine im Angesicht von Krieg und Terror. Sie stellt sich auch den Soldaten, die unfassbares Leid tragen und zu weiterer Gewalt beitragen. Noch immer schweigen die Waffen nicht und immer mehr Menschen werden verletzt und getötet. Die Hoffnung auf einen Frieden oder zumindest einen Waffenstillstand ist geschwunden.
Auf der ersten großen Friedendemonstration in Berlin im Februar 2022 sprach die damalige EKD-Ratsvorsitzende, Präses Annette Kurschus (EKvW), von der Verantwortung Deutschlands und seiner Bürger:innen („Es kommt auf uns an“, Redemanuskript). Sie zitierte das „Kriegslied“ des Dichters Matthias Claudius: „’s ist Krieg! 0 Gottes Engel wehre, Und rede du darein! ’s ist leider Krieg – und ich begehre Nicht schuld daran zu sein.“ Nicht schuldig werden, das ist, was ukrainische und russische Kriegsdienstverweigerer wollen – das ist auch die Frage, die sich viele Menschen in Deutschland stellen, wenn über die Waffenhilfe an die Ukraine diskutiert wird.
Auf was dürfen wir hoffen? Russland dürfe diesen Krieg nicht gewinnen, trug Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im ersten Kriegsjahr wie ein Mantra vor. Was bedeuten Sieg und Niederlage in diesem Krieg für die Ukraine, Russland und Europa? Für Russland ist der Fortgang des Krieges bereits ein Sieg. Die ukrainische Regierung um Wolodymyr Selenskyj will die staatliche Integrität ihres Landes wiederherstellen. Gebietsabtretungen stellen in den Augen der meisten Ukrainer:innen eine Niederlage dar. Europa stellt sich auf einen neuen Systemkonflikt mit dem Aggressor Russland ein und rüstet auf.
Wo nicht gleich ein russischer Atomschlag oder ein weiterer Feldzug Putins, womöglich gegen die Republik Moldau, befürchtet wird, wird doch vor der „hybriden Kriegsführung“ Russlands gewarnt. Mittels Propaganda und Falschmeldungen und auch durch den strategischen Einsatz von Fluchtbewegungen sollen die demokratischen Gesellschaften Europas destabilisiert werden. Russland greift die europäische Friedensordnung auf vielfältige Weise an. Allein mit Rüstung und Waffengewalt können Deutschland und Europa dieser Herausforderung nicht begegnen.
Eine Stärke der Demokratie besteht in der Wahrung der Würde des Menschen, seiner Selbstbestimmung und Freiheit. Eine Freiheit, für die die Ukrainer:innen einen hohen Blutzoll zahlen, und die doch vielen Menschen in Europa noch allzu selbstverständlich erscheint. Die Freiheit ist aber nicht allein ein schützenswertes Gut, sie ist zugleich ein Werkzeug, eine soft power, um den Systemkonflikt mit Putins Russland und den Diktatoren der Welt zu gewinnen. Über Freiheit und Liberalität des Westens ist Putin auch deshalb erzürnt, weil er ihre Attraktivität fürchtet. In diesen kriegerischen Zeiten Mensch zu bleiben bedeutet darum, sie als Teil unserer „Kriegstüchtigkeit“ ernst zu nehmen. Wer sich angesichts immer neuer Bedrohungen von außen selbst radikalisiert, die Schotten dicht macht und in Autoritarismus verfällt, geht Putin entgegen.
Das christliche Abendland
Wladimir Putin sieht sich als Verteidiger des christlichen Abendlandes, in der Tradition der russischen Zaren als Nachfolger des (ost-)römischen Reichs, als Bannerträger von Orthodoxie und christlichen Werten. In diesem Wahn wird er von der Russisch-Orthodoxen Kirche unter ihrem Patriarchen Kyrill von Moskau unterstützt. Rechtsextreme Christen in Europa und den USA nehmen sich Putin zum Vorbild: Der Systemkonflikt zwischen Freiheit und Autoritarismus ist auch ein Konflikt innerhalb der Christenheit.
Die diplomatischen Bemühungen von Papst Franziskus und aus dem Weltkirchenrat (ÖRK) sind dramatisch gescheitert. Vielleicht wurde auf dem Weg der beständigen Dialogbereitschaft mit Kyrill – und somit mit Putins Regime – sogar mehr kaputt gemacht, als jemals hätte gewonnen werden können (wir berichteten). Jedes Friedensangebot und jeder Dialogversuch bedarf zunächst des Eingeständnisses, dass zwischen Putins christlichen Knechten und den Kirchen aus den demokratischen Ländern solange unüberbrückbare Differenzen bestehen, wie an Krieg, Terror und Hass festgehalten wird. Alles andere ist Augenwischerei und verfehlte Hoffnung.
Anders als die diplomatischen Bemühungen der Kirchen sind ihre humanitären Anstrengungen im Ukraine-Krieg erfolgreich: In der Ukraine selbst, in ihren Nachbarstaaten und auch in Deutschland setzen sich christliche Hilfswerke, Kirchen und viele engagierte Christ:innen dafür ein, das Leid zu mindern, die Wunden des Krieges zu verbinden, die Würde der Angegriffenen zu erhalten. Viele tausende Ukrainer:innen leben in Deutschland im Umfeld katholischer und evangelischer Kirchengemeinden, haben Wohnung und praktische Lebenshilfe gefunden und nicht zuletzt Glaubensgeschwister, mit denen sie beten und ausharren können, bis eine Rückkehr in ihre Heimat wieder möglich ist. Wo deutsche Politik und Verwaltung sich unfähig zeigen, auf menschliches Leid adäquat zu reagieren, da springen immer wieder Kirchen und Christ:innen ein.
Mensch bleiben in der „Zeitenwende“
Wie viel Kraft kostet es, Mensch zu bleiben? Diese Frage wird in der Passionszeit zwischen Aschermittwoch und Ostern in den Kirchen in besonderer Weise gestellt. Christ:innen schauen auf das Leiden und Sterben von Jesus von Nazareth. „Sehet, welch ein Mensch!“ so spricht Pontius Pilatus, der Statthalter der römischen Besatzungsmacht, über Jesus, als er ihn geschmückt als König in einem purpurnen Gewand und mit der Dornenkrone auf dem Haupt dem Volk vorführt. „Siehe, der Mensch“ – „Ecce homo“ auf Latein – ist ein bedeutendes Motiv der christlichen Kunst und Musik geworden. In Jesus von Nazareth begegnet uns Gott als angegriffener und verletzter Mensch, aber auch als einer, der seine Würde bis zur Stunde seines Todes nicht verlieren wird.
„In deine Hände befehle ich meinen Geist“, zitiert Jesus am Kreuz den 31. Psalm, „denn du wirst mich erlösen, Du treuer Gott“. In der Passionszeit leben die Kirchen der Erlösung entgegen. Für die Menschen in der Ukraine bedeutet Erlösung das Schweigen der Waffen und die Befreiung von der russischen Besatzung. Für die Ukrainer:innen in Deutschland bedeutet Erlösung die Rückkehr in ihre Heimat. Beides sind existenzielle Sorgen, die viele Menschen in Deutschland – Gott sei Dank! – nicht teilen.
Doch auch in Deutschland sorgen sich viele Menschen darum, was in der „Zeitenwende“ aus unserer Gesellschaft wird. Gegen die Versuchung von rechts und rechtsradikale Politik gehen in diesen Wochen hunderttausende Menschen auf die Straße. Gleichzeitig erleben wir weitere Verschärfungen der Flüchtlings- und Migrationspolitik in Deutschland und Europa. Unter dem Vorwand der Herstellung von „Kriegstüchtigkeit“ und der Notwendigkeit zur Aufrüstung wird am Fortbestand des Sozialstaats gekratzt.
„Zeitenwende“ bedeutet sicher, dass sich die freien Demokratien des Westens fragen müssen, welchen Zielen und Anliegen sie prioritär ihre Aufmerksamkeit und Ressourcen widmen wollen. „Kriegstüchtigkeit“ zulasten der Armen und Schwachen herzustellen, wird nicht funktionieren. Sie gegeneinander aufzuwiegeln funktioniert im Moment erschreckend gut. Verzweifelte Menschen sind verführbare Menschen. Eine wehrhafte Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der die Würde der Menschen unbedingten Schutz erfährt, in der Menschen Sicherheit an Leib und Leben finden, in der auch Geist und Seele frei werden dürfen.
Sei ein Mensch!
In den Kirchen wird seit 2022 angesichts der russischen Aggression um eine neue Friedensethik gerungen. Die römisch-katholische Deutsche Bischofskonferenz (DBK) hat in dieser Woche ein neues Friedenswort („Friede diesem Haus“) vorgelegt. In der Evangelischen Kirche wird weiterhin mittels Konsultationen mit den Wissenschaften, der Politik und zivilgesellschaftlichen Partnern sowie in theologischen Gesprächskreisen intensiv debattiert. Der Krieg im christlichen Abendland verlangt nach neuen Antworten, die auch weitere Herausforderungen und Konflikte jenseits der Grenzen Europas nicht aus dem Blick verlieren. Eine christliche Friedensethik in einer multipolaren Welt hat notwendiger Weise keine einfachen Antworten parat.
Der Versuchung, unter einer ecclesia militans eine Kirche zu verstehen, die wehrtüchtig den Mächten der Welt dient, steht das Bild des vom Volk verspotteten, von seinen Peinigern in die Insignien weltlicher Macht gekleideten Jesus von Nazareth entgegen. Wo sich die Kirche, wie in Russland, mit Diktatoren gegen die Freiheit verbündet, geht sie fehl. Aber das „Ecce homo!“ ermahnt auch die Kirchen des Westens, dass in der „Zeitenwende“ anderes und mehr von ihnen gefordert ist, als in den Chor derer einzustimmen, die kriegstüchtig werden wollen.
Das 2. Vatikanische Konzil hat unter der ecclesia militans die pilgernde Kirche verstanden (Lumen Gentium 50). Was bedeutet es heute, pilgerndes Gottesvolk zu sein? Zunächst, eben genau das: Auf dem Weg zu sein, ohne sichere Antworten, fragend, doch mit einem Ziel. Heute Pilger:in zu sein bedeutet nicht, wie die Religionsbediensteten und Frommen im Gleichnis vom barmherzigen Samariter an den Geschlagenen, Schwachen und Armen vorbeizueilen, sondern an- und innezuhalten, zu helfen, sich in die Pflicht nehmen zu lassen, Schuld(en) zu bezahlen.
„Wie viel Kraft muss es kosten, Mensch zu bleiben? Zu lieben, zu hoffen?“ In den Fragen der amtierenden Ratsvorsitzenden hallen die Worte Marcel Reifs nach, der vor wenigen Tagen erst im Deutschen Bundestag bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus an das vermeintliche Schweigen seines Vater, des Holocaust-Überlebenden Leon Reif, erinnerte:
Ich erinnere mich nicht an den Anlass und nicht an den Zeitpunkt, aber mir wurde irgendwann beinahe schlagartig klar, dass mein Vater ja doch gesprochen hatte und mir all das gesagt und mitgegeben hatte, was ihm wichtig war; was er gerettet hatte, als Essenz destilliert aus all dem Unmenschlichen der Häscher und Mörder, aus dem Übermenschlichen eines so mutigen Berthold Beitz, aus dem, was er selbst geleistet hatte mit dem kleinen Jungen, der seine eigene Menschlichkeit abgefragt hatte.
Das alles hat er in einen kleinen Satz gepackt. Und ich erinnere mich täglich mehr daran, wie oft er mir diesen Satz geschenkt hat – mal als Mahnung, mal als Warnung, als Ratschlag oder auch als Tadel. Drei Worte nur in dem warmen Jiddisch, das ich so vermisse: „Sej a Mensch!“ – „Sei ein Mensch!“
„Sei ein Mensch!“ ist wiederum ein Echo des „Ecce homo!“ – oder umgekehrt? So heißt es in einer Andacht zum Gedenken an den Kriegsausbruch vom 24. Februar 2022 in diesen Tagen: „In dieser vorösterlichen Zeit wollen wir die Hoffnung auf Erlösung nicht aufgeben und Mensch bleiben. Mensch bleiben, das heißt lieben und hoffen. Wer liebt und hofft, hat sich und die Welt nicht aufgegeben.“
Alle Eule-Beiträge zum Thema Ukraine-Krieg.
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