Kolumne mind_the_gap

Leopard, Apostelin & Co.

Die zweite Staffel unserer Kolumne über vergessene Kirchengeschichte(n) dreht sich um die Alte Kirche. Eine Zeit, in der Apostel:innen auf Reisen gingen und Tiere sprechen lernten!

Ich bin Patristikerin. So könnte ich mich vorstellen und gerade im internationalen Raum wäre dies wohl die geeignetste Formulierung, um auszudrücken, womit ich mich eigentlich beschäftige: Patristics. Der Begriff „Patristik“ ist auch im Deutschen geläufig, in katholisch geprägten Kreisen kommt „Patrologie“ als spezifische Fachausrichtung im breiteren Feld der Kirchengeschichte hinzu.

Zeitlich sind damit meist die ersten sechs Jahrhunderte unserer Zeitrechnung gemeint. Die patristische Zeit geht bis 529, als symbolträchtig die Akademie in Athen geschlossen wird und vielleicht sogar im gleichen Jahr Benedikt von Nursia auf dem Monte Cassino sein berühmtes Kloster gründet. Oder vielleicht bis 604, als der wirkmächtige Papst Gregor der Große stirbt. Oder bis zu einem ganz anderen Zeitpunkt, je nachdem, wen man eigentlich fragt und worauf diese Person ihren Blick richtet. Beide genannte Daten orientieren sich schließlich an westlicher Patristik.

Dabei ist man sich im Allgemeinen einig, dass Patristik nicht nur „Väterlehre“, von lateinisch pater, sein möchte. Trotzdem neigt die Forschung dazu, sich mehrheitlich an solche „Kirchenväter“ zu halten – schon aus dem ganz pragmatischen Grund, dass die Mehrheit der heute erhaltenen Schriften und insbesondere derjenigen Schriften, die durch Editionen und Übersetzungen breit zugänglich gemacht worden sind, aus ihren Federn stammen. Eine „Bibliothek der Kirchenväter“, in der viele ihrer Werke zu lesen sind, steht online zur Verfügung.

Mit der Idee von „Vätern“ verbindet sich schon früh die Hoffnung, durch die „Familientradition“ das rechte Erbe zu bewahren. Schon in der Antike berufen sich daher die Autoren auf die ihnen vorangegangenen Väter, um ihre Lehren abzusichern. Der Rekurs auf Kirchenväter kann zur Legitimationsgrundlage werden, gerade dann, wenn man dagegen häretische Wildwüchse stellt, die häufig als neu oder pervertiert bewertet werden. Häresien, die – im Familienbild gesprochen – eigentlich wohl eher die Cousinen der sich später durchsetzenden Lehren sind, werden dadurch schnell zu ahnen- und ahnungslosen Niemanden degradiert.

Aber mein Arbeitsfeld, die Patristik oder vielleicht besser: die christliche Geschichte in der Antike, beschränkt sich nicht auf Väter und sie beschränkt sich nicht nur auf den (westlichen) Mittelmeerraum. Es gibt durch die Jahrhunderte zahlreiche Akteur:innen an den verschiedensten Orten, deren Geschichten es wert sind, erzählt zu werden, auch wenn sie von den Stars der Kirchengeschichte, Männern wie Augustin, Hieronymus, Athanasius oder den Kappadoziern, häufig ein wenig in den Schatten gestellt werden.

Der andere Kanon

Es gibt den Mainstream, Autoren und Texte, die jede:r kennt und ohne die sich eine Geschichte des Christentums nicht wird schreiben lassen. Und es gibt viele Traditionen, die sich mit diesem Mainstream auseinandersetzen, sich ihm entgegenstellen oder ihn gleich ganz ignorieren. So ist es schon bei den frühesten Texten der christlichen Überlieferung: Das Neue Testament bietet gesicherte, kanonisierte Tradition und die darum herum entstandenen apokryphen Texte, die es nicht in den Kanon geschafft haben, bieten spektakuläre Fortschreibungen und Legenden zu allen möglichen Akteur:innen des Neuen Testaments mit ganz neuen Schwerpunkten.

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel sind die Abenteuer der illustren Reisegruppe rund um den Apostel Philippus. Dieser Jünger Jesu wird in den synoptischen Evangelien spärlich genannt, nur der Evangelist Johannes weiß einige wenige Details über ihn. Karriere macht Philippus erst lange nach Abschluss des neutestamentlichen Kanons und selbst dann bleibt er weit hinter seinen berühmteren Amtskollegen wie Petrus oder Paulus zurück.

Die Apostelakten, die über sein Leben und sein Martyrium berichten, die „Acta Philippi“, stammen nach gängiger Meinung aus dem 4. nachchristlichen Jahrhundert und gehören damit zu einer zweiten Welle apokrypher Fortschreibungen zu kanonischen Gestalten. In Gänze bekannt sind diese „Acta“ erst seit dem spektakulären Fund von François Bovon, der sie 1974 auf dem Mönchsberg Athos entdeckte. Einige Teile der Erzählung sind jedoch bereits zuvor bekannt gewesen.

Besonders die zweite Hälfte der Philippusakten, die Acta 8–15 umfasst, liest sich wie ein Abenteuerroman oder ein Märchen. Um besonders eindrücklich zu vermitteln, was man ausdrücken wollte, nämlich die Notwendigkeit zur Einhaltung eines bestimmten Lebensstils, bringen die „Acta Philippi“ hier unter anderem einen sprechenden Leoparden ins Spiel.

Eine bunte Reisegruppe

Am Anfang steht jedoch die Beauftragung. Der Heiland selbst entsendet seine Apostel in unterschiedliche Regionen der damals bekannten Welt; das prominenteste Beispiel hierfür ist Petrus, der gen Rom gesandt wird und hier der Überlieferung nach schließlich das Martyrium erleidet. Philippus ist, auch das ein gängiger Topos bei göttlich Beauftragten, zunächst wenig angetan von der ihm aufgetragenen Missionsaufgabe. Insbesondere das Ziel, nämlich das Land der Hellenen sagt ihm wenig zu. Die „Acta“ schildern detailliert die aufwallenden Emotionen des Apostels, der sich aus Sorge um Leib und Leben und ausgeprägter Versagensangst sträubt, die Missionsreise zu beginnen.

Seine willensstarke Schwester Mariamne, die Jesus zuvor schon bei der Verteilung der Gebiete behilflich war, wendet sich daraufhin im Vertrauen an den Heiland und wird prompt zur Begleiterin und Motivatorin ihres Bruders auserkoren. So beginnt sie mit Philippus, der nach dem Urteil Jesu besser nicht allein gelassen werden sollte, und Bartholomäus, der in die gleiche Richtung reist, die Mission. Mariamne ist auf dieser Reise vorsorglich als Mann verkleidet, denn als Apostelin kann sie durchaus zum Stein des Anstoßes werden.

Der apostolischen Reisegruppe begegnet kurz nach dem Aufbruch in der Wildnis bereits die erste Ausnahmesituation: Ein Leopard versperrt den Weg. In dieser für antike Reisende potenziell enorm gefährlichen Situation beginnt das Wunderwirken des Philippus. Zuerst jedoch kommt der religiös sensibilisierte Leopard selbst zu Wort, denn das Tier spricht auf wundersame Weise bereits, bevor es mit dem Apostel in Kontakt kommt. Mithilfe der vorübergehenden Gabe einer menschlichen Stimme bittet der Leopard den Apostel, diese Sprachbefähigung auf Dauer zu stellen – und das tut Philippus auch, ohne die Situation weiter zu hinterfragen.

Was das Tier von Philippus erbittet, ist vollkommene Sprache, eine Sprache die nicht nur situationsgebunden ist, sondern bleibend dem Leoparden zu eigen wird und eine Sprache, die die Teilhabe an der menschlichen Sphäre ermöglicht. Dafür gibt der eloquente Leopard sogar seine tierische Natur auf.

Das Tier klärt dann ungefragt darüber auf, wie es in diese Situation geraten ist: Beim nächtlichen Versuch, ein Zicklein zu verspeisen, erhielt dieses Zicklein plötzlich die Fähigkeit des Sprechens und redete dem Raubtier sofort ins Gewissen. Den Leoparden überkam daraufhin das Bedürfnis nach einem vegetarischen Lebensstil und er ließ von seinem Fressversuch ab. Beide, der Leopard und das Zicklein, werden fortan als treue Begleiter von Philippus und Mariamne teil der nun wirklich bunt gemischten apostolischen Reisegruppe, die erfolgreich Wunder vollbringt und Dämonen austreibt.

Happy End für die Tiere

Auch wenn die verschiedenen Apostelakten einige sprechende Tiere kennen, die sich als Ausdruck der Wundermacht eines Apostels zeitweilig dessen Befehlen unterstellen, ist ein derart eloquentes Tier ein Alleinstellungsmerkmal für Texte der Zeit. Wenngleich Tieren durchaus sinnvolle Laute zugestanden werden, sind sich einschlägige Kirchenväter wie Origenes oder Augustin und auch die antike Philosophie der Stoa oder des Platonismus einig, dass Tieren keine Sprache im eigentlichen Sinne zu eigen sein kann. Sprechen sie ausnahmsweise doch und überschreiten so die klar gezogene Grenze von Mensch und Tier, so überleben sie dies häufig nicht lange, sondern sterben, sobald ihr apostolischer Auftrag erfüllt ist.

Ganz anders ergeht es den Tieren in den „Acta“: Der Leopard hat sogar noch deutlich mehr zu sagen. Einige Kapitel später sind es nun die beiden sprechenden Tiere, deren Emotionen überkochen, nämlich als sie beobachten, wie Philippus, Mariamne und Bartholomäus die Eucharistie feiern. Die Tiere sind völlig selbstverständlich von dieser Feier exkludiert, was den Leoparden zu einer ausgefeilten Rede veranlasst, in der er seine große Menschenähnlichkeit und sein Heilsbedürfnis herausstellt.

Und er hat Erfolg: Philippus erbittet schließlich für die Tiere, dass sie auch äußerlich an die menschliche Form angeglichen werden und somit in der Lage sind, die Eucharistie zu empfangen. Die sprechenden Tiere bekommen so ein Happy End.

Dem Überlieferungsbias zum Trotz

Ein derart auffälliges Verhalten eines Tieres möchte allem voran den Lesenden etwas sagen. Die märchenhafte Erzählung wirbt für einen strikt asketischen Lebensstil. Schließlich kann der vernünftige Mensch erst recht auf Fleischkonsum verzichten, wenn es sogar ein unvernünftiges Raubtier kann. Dadurch, dass dieser Lebensstil in der Erzählung mit einem Apostel Jesu wie Philippus eng verbunden wird, soll er legitimiert werden. Zugleich ist der Text ein Zeuge dafür, dass auch Tiere in manchen Sparten der antiken christlichen Literatur durchaus vom Heilshandeln Jesu profitieren können und die Erlösung die gesamte Schöpfung umfasst.

Die Darstellung polarisiert. Aus einigen Manuskripten wurden Passagen rund um den Leoparden, in denen das Tier vielleicht sogar getauft wurde, kurzerhand herausgerissen und diese sind heute verloren. Die „Acta Philipp“ sind in einer radikal-asketischen Gruppierung entstanden, die von den „Vätern“ scharf kritisiert wird. Ihr literarisches Werk hat daher nie die gleiche Popularität erreicht, wie andere, dem Mainstream näherstehende, apokryphe Schriften.

Es ist bemerkenswert, dass sich dieser Text überhaupt bewahrt hat, denn viele Häresie-verdächtige Texte sind dem Überlieferungsbias zum Opfer gefallen und heute höchstens noch durch die Schriften ihrer Gegner greifbar. Lesenswert ist die Geschichte der Reisegruppe von Philippus, Mariamne, Leopard und Co. allemal.


mind_the_gap – Vergessene Kapitel der Kirchengeschichte

Johanna Jürgens stöbert für uns in den Untiefen der Kirchengeschichte: Aus dem Schatz der Alten Kirche kramt sie Neues hervor. Wir setzen unsere Serie „mind_the_gap“ im Herbst / Winter 2024 mit Johanna Jürgens von der LMU München fort. Im Frühjahr / Sommer 2024 ging es mit Flora Hochschild bereits um vergessene Kirchengeschichte(n) aus der Frühen Neuzeit. Wir freuen uns auf Feedback, Fragen und Hinweise auf dieser Schatzsuche in die Vergangenheit!

Alle „mind_the_gap“-Kolumnen hier in der Eule.

Unterstütze uns!

Die Eule bietet Nachrichten und Meinungen zu Kirche, Politik und Kultur, immer mit einem kritischen Blick aufgeschrieben für eine neue Generation. Der unabhängige Journalismus und die Stimmenvielfalt der Eule werden von unseren Abonnent:innen ermöglicht. Mit einem Eule-Abo unterstützst Du die Arbeit der Redaktion, die faire Entlohnung unserer Autor:innen und die Weiterentwicklung der Eule.

Jetzt informieren und Eule-Abo abschließen!

Mitdiskutieren