Ein lückenhaftes Zeugnis
Von Italien über Indien nach Alexandrien: Pantänus verbindet Philosophie und Christentum und zeigt, wie vielfältig und globalisiert die junge Kirche war.
Versucht man, in der antiken Kirchengeschichte Lücken zu entdecken, ist das häufig ein leichtes. Nur der Versuch, diese Lücken zu füllen, stellt allzu oft vor die ernüchternde Erkenntnis: „Wie wir wissen, wissen wir nichts“. Wird das historische Zeugnis nicht von literarischem Nachleben gestützt, ist es oftmals schwierig bis unmöglich, das Wirken bestimmter Personen nachzuzeichnen. Ohne sich mit der ein oder anderen Hypothese zu behelfen, kommt die kirchengeschichtliche Forschung häufig nicht weiter, denn gerade aus der allerfrühesten Zeit des Christentums sind die literarischen Zeugnisse rar.
Eine besonders spannende Biografie eines zunächst ungenannt bleibenden Theologen aus der frühesten Zeit könnte man – ergänzt um den ein oder anderen educated guess oder Analogieschluss aus erhaltenem Wissen – wie folgt schreiben:
Geboren vielleicht in Sizilien in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts und zunächst in einem paganen Umfeld aufgewachsen, erhält er eine umfassende Schulbildung in allen klassischen Fächern – Lesen & Schreiben, Grammatik, Rhetorik –, die schließlich in gewohnter Manier im höchsten Fach, der Philosophie mündet. Die philosophische Schule der Wahl ist die Stoa. Für das zweite Jahrhundert eine ausgesprochen zeitgemäße Entscheidung, bringt doch diese Schule zur Lebzeit des fraglichen Philosophen den Philosophenkaiser Marc Aurel (161-180) hervor und ist damit an höchster Stelle im Staat vertreten.
Doch damit nicht genug: Die Konversion zum Christentum folgt auf dem Fuße. Das im 2. Jahrhundert noch recht junge Christentum ist freilich nicht so salonfähig wie eine kaiserlich sanktionierte Philosophie, sodass jeder Übertritt mit einem gewissen Bruch zum Angestammten verbunden ist. Diesen forciert der frisch bekehrte Christ nun noch, indem er voller Eifer für die neue Religion und nach dem Vorbild der Apostel, deren Wirken zu dieser Zeit bereits einige Generationen zurückliegt, eigene Missionsreisen beginnt, die bis in die damals entlegensten Weltteile führen, etwa bis nach Indien. Bei seiner Tätigkeit findet der Missionar gar eine ursprüngliche, hebräische Fassung des Matthäusevangeliums, die durch den Apostel Bartholomäus dorthin gelangt sein soll.
Später im Leben zieht es ihn wieder zurück in den Mittelmeerraum und die Metropole Alexandria in Ägypten wird als Wirkungsort auserkoren. Dort wird er stilbildend für eine von institutioneller Bestimmung freie Form der Unterweisung, die christliches und philosophisches Gedankengut verknüpft und in den Folgejahrzehnten mit so berühmten Schülern wie Origenes Karriere macht.
Dies ist, grob nachgezeichnet die Biografie des Philosophen und theologischen Lehrers Pantänus aus Alexandria, so wie sie sich aus dem knappen Zeugnis in Euseb von Cäsareas „Kirchengeschichte“, einigen wenigen Informationsschnipseln bei andern Autoren und allgemeinen Erkenntnissen über die Welt des 2. Jahrhunderts ergibt.
„Bekehrung“ eines Hoch-Privilegierten
Eine solche Biografie ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Das frühe Christentum wird von Gegnern wie dem Satiriker Lukian von Samosata oder dem von Origenes bekämpften Celsus schnell auf die unteren Gesellschaftsschichten des römischen Imperiums beschränkt und von den christlichen Apologeten entsprechend verteidigt. Schließlich habe, so Tertullian, Jesus keine hochgebildeten Rhetoren, sondern einfache Fischer ausgesandt, um das Evangelium zu predigen.
Wer wie Pantänus im 2. Jahrhundert umfassend in Philosophie ausgebildet worden ist und in großem Stil Reisen finanzieren kann, gehört jedoch zu den oberen 5% der antiken Gesellschaft. In den gehobenen Schichten vollzieht sich aller Wahrscheinlichkeit auch die Lehrtätigkeit Pantänus‘. Vermutlich war die Wende hin zum Christentum hier weitaus weniger drastisch als der Begriff „Bekehrung“ suggeriert und seine Lehrtätigkeit folgte dem Beispiel der zeitgenössischen Philosophenschulen.
Die Synthese aus stoischer Lehre und christlichem Gedankengut ist eine der frühesten Verbindungen der Theologie mit der Philosophie. Da auch die Stoa in der Kaiserzeit stark auf lebensrelevante Lehren ausgerichtet ist, bietet sich die Ethik als Begegnungsraum beider Traditionsstränge an. Die Frage danach, wie ein gutes Leben gelingen kann, verbindet beide.
Diese freie, philosophische Lehrweise wird kurz darauf in institutionalisiertere Bahnen gelenkt: Die Schultradition, die mit Pantänus beginnt, wird schon seit Heraklas (in der klassischen Abfolge der Schulhäupter Pantänus’ Nachnachnachfolger) in Personalunion vom städtischen Bischof geleitet. Und die kirchliche Ungebundenheit von Pantänus selbst ist schon wenige Jahrhunderte später einigen Theologen ein Dorn im Auge: Etwa der große lateinische Kirchenvater Hieronymus ergänzt daher prompt, der ehemalige Philosoph sei nicht etwa aus Eigeninitiative zu seinen Missionsreisen aufgebrochen, sondern vom alexandrinischen Bischof Demetrius entsprechend beauftragt und nach Indien gesandt worden.
Das Christentum in der Antike: Plural und symbiotisch
Reisen von Alexandria bis nach Indien sind vor allem auf dem Seeweg in der römischen Kaiserzeit gut belegt: Die Verbindung des alexandrinischen Binnenhafens mit dem Nil und darüber mit dem Roten Meer wird vorrangig zu Handelszwecken für den Import und Export von Luxusgütern gebraucht. Die Beschäftigung mit dem florierenden Handel zwischen Indien und Rom stellt weitverbreitete Bilder in Frage, die sich über das Römische Reich und mithin über Europa eingeprägt haben.
Mit der Mission in Indien wird prominent der Apostel Thomas in Verbindung gebracht, nachdem ein Teil der indischen Christenheit noch immer benannt wird. Euseb berichtet stattdessen von alternativen Missionaren: Nicht nur habe der ehemalige Stoiker Pantänus selbst dort missioniert, er knüpfte dabei an die Vorarbeit des Apostels Bartholomäus an (der eigentlich für die Armenien-Mission bekannter wurde). Mit dieser Mission verbindet sich dann auch noch ein exegetischer Höhepunkt. Die Idee, dass Matthäus ursprünglich in hebräischer Sprache geschrieben habe, ist alt, auch wenn die neutestamentliche Forschung diese These heute kaum mehr vertritt.
Daran zeigt sich, dass sich handfeste historische Fakten aus dieser Vita nicht gewinnen werden lassen. Die ältere Forschung war bezüglich der Gewissheit solcher Informationen noch deutlich optimistischer, sodass etwa umfassende Missionsgeschichten Indiens selbstverständlich mit Pantänus begonnen wurden (z.B. George Smiths „The conversion of India, from Pantænus to the present time, A.D. 193-1893″).
Pantänus ist jedoch nach wie vor ein Zeuge dafür, dass die Anfänge des Christentums vielfältig waren: Nicht nur die einfachen Leute gehörten zum frühesten Christentum und nicht nur der erweiterte Mittelmeerraum. Die Lehre, die sich selbst als christlich verstand, war plural und konnte symbiotisch mit bereits existierenden Gedankensystemen zusammengehen. Insofern kann auch das lückenhafte Zeugnis eines Lebens in gewisser Weise helfen, eine Lücke zu schließen – oder durch kritische Anfragen dort Raum zu eröffnen, wo das Narrativ zu stark vereinfacht und vereinheitlicht wird.
Ein vergessener Großvater der Tradition?
Nur – ein nennenswertes Nachleben generiert diese eindrückliche Vita in der Antike nicht. Euseb als erster Zeuge zeigt sich noch optimistisch. Er beschreibt, wie Pantänus selbst Schriften hinterlassen habe. Das ist von der weiteren Beleglage und dem heute erhalten Schriftgut her jedoch unwahrscheinlich geworden, vermutlich beschränkte sich die Lehre in Alexandria auf die mündliche Unterweisung.
Neben den Umrissen einer theologischen Position geht auch deren Urheber in der Überlieferung allmählich unter. Der wohlmöglich wichtigste Schüler, der noch zur gleichen Zeit mit Pantänus in Alexandria gewirkt haben könnte und selbst für eine Synthese von Stoa und christlicher Theologie steht, Clemens von Alexandria, nennt seinen vermeintlichen Lehrer nicht beim Namen. Zumindest nicht in den Quellen, die sich von ihm erhalten haben. Der berühmteste Enkelschüler Origenes kennt Pantänus nachweislich, scheint aber nicht bewusst Lehren oder Standpunkte von ihm zu übernehmen. Euseb und Hieronymus nennen Pantänus dann noch als Teil einer Reihe autoritativer Lehrer und Schulhäupter, ohne dass man ihm klar identifizierbare theologische Positionen attestiert.
Am Ende bleibt keine erkennbare Wirkungsgeschichte, die man Pantänus selbst zuschreiben könnte. Doch durch Autoren wie Euseb geschickt in die Genealogie einer Theologie- und Schultradition eingebunden sind sich die nachfolgenden Generationen immerhin darin einig, den christlichen Philosophen aus dem 2. Jahrhundert als wichtig zu akzeptieren. Egal, ob handfestes Wissen existiert oder nicht.
mind_the_gap – Vergessene Kapitel der Kirchengeschichte
Johanna Jürgens stöbert für uns in den Untiefen der Kirchengeschichte: Aus dem Schatz der Alten Kirche kramt sie Neues hervor. Wir setzen unsere Serie „mind_the_gap“ im Herbst / Winter 2024 mit Johanna Jürgens von der LMU München fort. Im Frühjahr / Sommer 2024 ging es mit Flora Hochschild bereits um vergessene Kirchengeschichte(n) aus der Frühen Neuzeit. Wir freuen uns auf Feedback, Fragen und Hinweise auf dieser Schatzsuche in die Vergangenheit!
Alle „mind_the_gap“-Kolumnen hier in der Eule.
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