Interview Kirche im Ukraine-Krieg

„Man läuft Gefahr, das Augenmaß zu verlieren“

Die ukrainische Regierung geht gegen die Ukrainische Orthodoxe Kirche vor, weil sie mit den russischen Angreifern kollaborieren soll. Wie steht es um die Religionsfreiheit in der Ukraine? Und welche Rolle spielt der Bruderstreit zwischen den beiden orthodoxen Kirchen im Land?

Eule: Frau Elsner, vor zwei Wochen haben die ukrainischen Sicherheitsorgane im Kiewer Höhlenkloster eine großangelegte Razzia durchgeführt. Das Kloster gehört zur Ukrainischen Orthodoxen Kirche (vormals Moskauer Patriarchat). Man vermutete, dass sich in den Höhlen dieses sehr großen und alten Klosters russische Terroristen versteckt hielten oder Waffen gelagert würden. Wie groß ist denn die Gefahr, dass sich in der Ukrainischen Orthodoxen Kirche russische Agenten verbergen?

Elsner: Die Gefahr ist real. Es gibt nachgewiesene Fälle der Kollaboration von Priestern und Bischöfen der Ukrainisch-orthodoxen Kirche mit den russischen Besetzern. Dabei handelt es sich oft um Fälle in den von Russland besetzten Gebieten des Landes. Dort gab es Bischöfe, die russischen Soldaten Unterschlupf gewährt haben, und Priester, die ukrainische Stellungen an die russische Armee weitergegeben haben. Die meisten dieser Bischöfe befinden sich inzwischen in Russland.

Das Höhlenkloster im Zentrum Kiews ist eines der wichtigsten Heiligtümer der Orthodoxie. Gleichzeitig wissen wir, dass ihm der sehr konservativer Metropolit Pavlo (Lebed) vorsteht, der für seine Verschwörungstheorien und extremen politischen Positionen berüchtigt ist. Es ist allgemein bekannt, dass das Kloster sehr russlandfreundlich ist und weiterhin Kontakte nach Russland pflegt. Deshalb sind die Sicherheitsbehörden davon ausgegangen, dort Hinweise auf Kollaboration zu finden. Man suchte sicher auch nach Beweisen dafür, dass die Ukrainische Orthodoxe Kirche weiterhin im engen Kontakt mit dem Moskauer Patriarchat steht. Der Kirche wird seit vielen Jahren vorgeworfen, so etwas wie eine „Fünfte Kolonne“ Moskaus zu sein.

Eule: Der anderen großen orthodoxen Kirche in der Ukraine, der Orthodoxen Kirche der Ukraine unter Metropolit Epiphanius, wird nachgesagt, sie hätte ein großes Interesse, das Kloster von der Ukrainischen Orthodoxen Kirche zu übernehmen. Welche Rolle spielt der Streit zwischen den Kirchen in diesem religionspolitischen Konflikt?

Elsner: Das Kloster hat einen hohen Symbolwert für die Orthodoxie der Region. In der Ukraine haben wir nun diese beiden orthodoxen Kirchen, die sich gegenseitig nicht anerkennen, aber beide von jeweils anderen orthodoxen Kirchen anerkannt sind. Beide erheben den Anspruch, die rechtmäßigen Erben der Kiewer Tradition zu sein und deshalb auf die Verwaltung der zu ihr gehörenden wichtigen spirituellen Orte.

Das Höhlenkloster ist, wie andere Heiligtümer des Landes auch, nicht im Besitz einer Kirche, sondern des Staates. Der ukrainische Staat hat es in den 1990er Jahren der Ukrainischen Orthodoxen Kirche zugeteilt, die damals zum Moskauer Patriarchat gehörte und die einzige kanonisch anerkannte orthodoxe Kirche im Land war. Seit 2019, als die Orthodoxe Kirche der Ukraine gegründet wurde, steht die Frage im Raum, ob es rechtmäßig ist, dass nur die Ukrainische Orthodoxe Kirche Zugriff auf das Kloster hat.

In dieser Situation findet nun der aktuelle Ukraine-Krieg statt: Es gibt Kollaborationsvorwürfe und den Eindruck, dass im Kloster besonders russlandfreundlich gepredigt wird. Da fragt die neue Orthodoxe Kirche der Ukraine, die sich sehr loyal zur Regierung positioniert, natürlich: Wie kann das sein, dass dieses spirituelle Zentrum von einer Kirche verwaltet wird, die eigentlich mit dem Aggressor kollaboriert? Das wiederum bringt natürlich den Staat in die Bredouille, weil er die Ukrainisch Orthodoxe Kirche nicht einfach vor die Tür setzen kann.

Eule: Die Kritik an der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (ehem. Moskauer Patriarchat) ignoriert allerdings häufig, dass sich die Kirchenleitung um Metropolit Onufrij deutlich gegen den russischen Angriff ausgesprochen hat.

Elsner: Die Lage ist kompliziert, weil Onufrij jahrelang für seine Nähe zu Russland und zum Moskauer Patriarchat bekannt war. Er ist ein sehr konservativer Mönch, der auch wenig für die Ökumene übrig hat und als sehr weltabgewandt gilt. Seit 2014, seit der Annexion der Krim und seit dem Maidan, hat er sich nur sehr zurückhaltend politisch geäußert. Er hat nie Stellung gegen die russische Aggression bezogen. Das hat sich mit dem 24. Februar radikal geändert. Noch am gleichen Tag hat er deutlich gemacht, dass die Ukrainische Orthodoxe Kirche kompromisslos für die Ukraine und ihre Souveränität eintritt und er hat sowohl den Patriarchen von Moskau, Kyrill, als auch Präsident Putin dazu aufgefordert, den Krieg und die Aggression zu beenden.

Die Vorwürfe gegenüber der Ukrainischen Orthodoxen Kirche beziehen sich auf die Zeit vor dem 24. Februar und sind ein Zeichen dafür, dass man ihren derzeitigen Ansagen nicht traut. Der Kirche wird Opportunismus vorgeworfen, sie würde sich der neuen Lage einfach anpassen, aber sei eigentlich noch immer der Überzeugung, dass die Verbindung zu Russland zur ukrainischen Identität dazugehöre.

Eule: Im Mai gab es ein Konzil der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, auf dem die Trennung vom Moskauer Patriarchat beschlossen wurde. Aber das wird der Ukrainischen Orthodoxen Kirche nicht abgekauft?

Elsner: Das Misstrauen ist groß, auch weil die auf dem Konzil beschlossenen Statuten bis heute nicht veröffentlicht wurden. Die Orthodoxe Kirche der Ukraine und andere Akteur:innen werfen der Ukrainischen Orthodoxen Kirche vor, sie sei nicht ehrlich und würde die Trennung von Moskau nur vorspielen. Auch innerhalb der Kirche brodelt es, weil es durchaus Stimmen gibt, die kritisieren, dass die Kirchenleitung nicht gegen die Kollaborateure vorgeht. Es gab nicht wenige Übertritte in die Orthodoxe Kirche der Ukraine von Menschen, die die Verbindung zu Moskau verurteilen. Die neuen Religionsgesetze und die Untersuchungen sollen klären, wie nahe sich die Kirche und Moskau tatsächlich sind.

Eule: Sicher hat die ukrainische Regierung ein legitimes Interesse daran, Kollaboration mit dem Kriegsgegner zu ahnden. Aber treibt das Vorgehen gegen die Ukrainische Orthodoxe Kirche nicht auch einen Keil in die Bevölkerung? Sie ist ja die mitgliederstärkere der beiden orthodoxen Kirchen im Land. Wem nutzt denn das Vorgehen gegen die Kirche?

Elsner: Ich glaube, dass Präsident Selenskyj und seine Leute ganz genau nach der Stimmung in der Bevölkerung schauen. Es gibt Umfragen aus den letzten Monaten, die den Wunsch vieler Menschen dokumentieren, man solle die Ukrainische Orthodoxe Kirche verbieten, weil man ihr die Trennung von Moskau nicht abnimmt. Insofern sind die staatlichen Aktionen gegen die Kirche auch eine Reaktion darauf, dass der Regierung vorgeworfen wird, zu wenig gegen Kollaborateure zu unternehmen. Die Regierung Selenskyi will hier natürlich nicht nachgiebig oder schwach erscheinen.

Gleichzeitig nutzt diese ganze Kampagne in erster Linie Russland. Die russische Propaganda springt auf Berichte von Ermittlungen, Festnahmen oder jetzt Verurteilungen von Priestern sofort an. Die Russische Orthodoxe Kirche hat damit neue Argumente für ihre Darstellung, in der Ukraine würde die Religionsfreiheit missachtet. Wenn man jetzt nicht genau darauf achtet, wie die neuen Regelungen ausgelegt werden, könnte Russland mit dem Vorwurf sogar Recht behalten. Man läuft Gefahr, das Augenmaß zu verlieren.

Zuletzt nützt das Vorgehen gegen die Ukrainische Orthodoxe Kirche natürlich auch der Orthodoxen Kirche der Ukraine, weil sich in dieser heiklen Situation Menschen doch zu einem Übertritt entscheiden, die ihn bisher nicht für sich in Betracht gezogen hatten.

WTF?! – Ukraine-Update mit Regina Elsner

Im „What the Facts?!“-Podcast der Eule ordnet Regina Elsner ausführlich die aktuelle Lage in der Ukraine und in der Ökumene ein. Im Gespräch mit Eule-Redakteur Philipp Greifenstein erklärt Elsner die Gefahr für die Religionsfreiheit, die von den aktuellen Entwicklungen ausgeht. Außerdem sprechen die beiden über den ökumenischen Dialog mit den ukrainischen Kirchen und der Russisch-Orthodoxen Kirche und die Positionen, die der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK), die Evangelische Kirche und der Vatikan in diesem Konflikt beziehen. Kurz vor der Jahreswende bietet diese „What the Facts“-Episode den aktuellen Stand der Dinge.


Das Interview führte Philipp Greifenstein.