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Kultur

Matthäuspassion: Drei Stunden Überwältigung

Andrea Hofmann und ihre Student:innen bieten zum Karfreitag eine kleine Werkeinführung in die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach und einen Alternativvorschlag.

Aufführungen von Johann Sebastian Bachs Johannes- und Matthäuspassion gehören zu den Standardkonzerten vor Ostern. Wie schon 2020 werden die wenigsten von uns auch dieses Jahr die Passionen in einer Kirche oder in einem Konzertsaal erleben können. Wir sind auf Aufnahmen und Konzertmitschnitte angewiesen – wie z.B. die vieldiskutierte Interpretation von Simon Rattle und Peter Sellars aus dem Jahr 2010, die bis Ostermontag in der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker frei zugänglich ist.

Ich erinnere mich in diesen Tagen an das Sommersemester 2020, in dem die Matthäuspassion eines der Themen war, das ich mit Studierenden der Theologischen Fakultät Berlin in einer Übung zu „Johann Sebastian Bach und seine Zeit“ diskutiert habe. In diesem ersten Corona-Semester saßen wir alle allein zu Hause vor unseren Laptops, probierten uns als Studierende und Lehrende das erste Mal in digitalen Lehrformaten aus und waren von vielem überfordert – auch von der Vielschichtigkeit und Monumentalität der Matthäuspassion.

Jetzt, fast ein Jahr später, schreibe ich auf, was wir damals im Seminar diskutiert haben. Ich lade alle Leser:innen ein, parallel die Stücke anzuhören, über die ich schreibe. So wird aus diesem Text vielleicht ein kleines digitales Gesprächskonzert.

Bachs große Passionen – die etwas ältere Johannespassion (Erstfassung 1724) und die Matthäuspassion (Erstfassung wahrscheinlich 1727) – stehen in einer langen Tradition von Vertonungen der Passio Christi. Wahrscheinlich schon im ersten Jahrtausend n. Chr. war es an Karfreitag üblich, dass die Passionsgeschichte nach Johannes oder Matthäus durch Geistliche in einer Art Sprechgesang während des Gottesdienstes vorgetragen wurde. Um diese Deklamation lebendiger zu gestalten, wurde in verschiedenen Rollen gesungen: Es gab einen Evangelisten, die Figur Jesus und die Worte des Volkes. Dabei erklang die Stimme des Evangelisten in einem höheren, Jesus in einem tieferen Ton.

Mit der Reformation wurde diese Rezitationspraxis der Passionsgeschichte auch Teil evangelischer Gottesdienste. Es entstanden deutschsprachige und mit der Zeit musikalisch immer kunstvoller ausgestaltete Vertonungen der Passionsgeschichte für die Karfreitagsgottesdienste. Heinrich Schütz (1585-1672), einer der wichtigsten Vertreter der evangelischen Kirchenmusik, komponierte eine Lukas- (1653), eine Johannes- (1665/66) und eine Matthäuspassion (1666). Im Mittelpunkt dieser Passionsvertonungen steht der Text des Evangeliums, der in verteilten Rollen der Gemeinde zu Gehör gebracht wird. Eingangs- und Schlusschöre bilden den Rahmen um die Passionsgeschichte.

Johann Sebastian Bach (1685-1750) stand also mit seinen Passionen in einer musikalischen Tradition, an die er anknüpfte und die er zugleich massiv veränderte. Bachs Passionen sind mehr als der auskomponierte Text der Evangelien. Sie enthalten große Eingangs- und Schlusschöre, zahlreiche Choräle, Turbae-Chöre, Rezitative und Da-capo-Arien – also eine Vielzahl von Formen aus der Vokalmusik des 17. Jahrhunderts. Bachs Hörer:innen kannten sie einerseits aus der evangelischen Kirchenkantate, andererseits aber auch aus den Opern dieser Zeit. Die Vielfalt der musikalischen Formen und die Länge des Werkes sind gewaltig – und können leicht zur Überforderung führen.

Tiefe durch Doppelchörigkeit

Für mich liegt ein Schlüssel zum Verständnis der Matthäuspassion darin, dass das Stück für zwei Chöre, zu denen jeweils ein eigenes Orchester und ein eigenes Solistenensemble gehören, konzipiert ist. In der Leipziger Thomaskirche zu Bachs Zeit stellten sich die beiden Chöre auch räumlich getrennt auf: Der erste Chor stand auf der Hauptempore, der zweite im sog. Schwalbennest, einer heute nicht mehr existierenden Orgelempore der Thomaskirche.

Die Doppelchörigkeit gibt dem Werk seine theologische und musikalische Tiefe. Jeder Chor mit seinen jeweiligen Solist:innen und Instrumentalist:innen spielt eine eigene Rolle in der Passion. Das macht es aber zugleich auch so kompliziert. Ein weiteres zentrales Element, das das Stück strukturiert, sind die Choräle aus dem lutherischen Gesangbuchrepertoire, besonders häufig Strophen aus Paul Gerhardts „O Haupt voll Blut und Wunden“.

Am Eingangschor der Matthäuspassion lässt sich zeigen, wie die beiden Chöre und die Choräle zusammenwirken und was jeweils ihre Aufgabe im weiteren Verlauf des Werkes ist. Der Haupttext des Eingangschores liegt im 1. Chor:

„Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen, / Sehet den Bräutigam, / Seht ihn als wie ein Lamm. / Sehet, seht die Geduld. / Seht, auf unsre Schuld. / Sehet ihn aus Lieb und Huld / Holz zum Kreuze selber tragen.“

Der 2. Chor unterbricht den 1. Chor, fast unhöflich, mit kurzen Fragen:

„Wen? Wie? Was? Wohin?“

Wenn ich mir die Szene bildlich vorstelle, könnte das so aussehen: Der 1. Chor scheint zu sehen, wie Jesus das Kreuz trägt: „Sehet ihn aus Lieb und Huld / Holz zum Kreuze selber tragen.“ Vielleicht stehen die Sänger:innen direkt am Kreuzweg und wollen andere auf das Geschehen aufmerksam machen. Sie zeigen auf die Szene und sprechen ihr Publikum direkt an: „Kommt, ihr Töchter“. Sie fordern die Hörer:innen jedoch nicht nur zum Beobachten und Zuhören auf, sondern reden ihnen auch ins Gewissen: „Seht, auf unsere Schuld“.

Der 2. Chor scheint dagegen nicht ganz so nah am Geschehen, kommentiert dieses eher von ferne bzw. scheint es nicht zu verstehen: Wen sollen wir da sehen? Was sehen wir? Wohin sollen wir sehen? Welche Rolle kommt also dem 2. Chor zu? Sind das wir, die Hörer:innen, die mit räumlichen und zeitlichen Abstand dabei sind?

Beide Chöre werden durch einen Kinderchor ergänzt, der mit einer Choralstrophe eine dritte Komponente in das Geschehen einbringt:

„O Lamm Gottes, unschuldig / Am Stamm des Kreuzes geschlachtet / Allzeit erfunden geduldig, / Wiewol du warest verachtest. / All Sünd hast du getragen, / Sonst müssten wir verzagen, / Erbarm dich unser, O Jesu.“ (Nicolaus Decius, 1531)

Der Choral ist die Antwort der gläubigen Gemeinde auf das Geschehen. Er verbindet die beiden Chöre miteinander und kommentiert das Geschehen von außen. Als wichtiger Teil des lutherischen Gottesdienstes wurde der Choral auch in Bachs Passionsaufführungen von der Gemeinde mitgesungen.

Aus der Beobachter:innen-Position herausgeholt

Diese Struktur – die beiden Chöre, denen auch die jeweiligen Solist:innen und Instrumentalist:innen zugeordnet sind – und die immer wiederkehrenden Gemeindechoräle wird von Bach in der ganzen Passion beibehalten. Der 1. Chor ist direkt Teil des Passionsgeschehens. Er ist „live“ dabei und erlebt mit, wie Jesus Abendmahl feiert, wie er von Judas verraten wird, beobachtet die Verhaftung, und zu ihm gehört auch Petrus, der Jesus dreimal verrät. Der 2. Chor ist nicht direkt an der Geschichte beteiligt. Er blickt von außen auf das Geschehen, kommentiert und bezieht so die Hörer:innen direkt mit ein.

Deutlich werden diese unterschiedlichen, durch die Chöre erzeugten Ebenen zum Beispiel in der Abendmahlsszene (1. Teil Berliner Philharmoniker, ca. 00:26:16): Auf die Bemerkung Jesu „Einer von Euch wird mich verraten“ ertönt elfmal das „Herr, bin ich’s“ der erschrockenen Jünger aus dem 1. Chor. Judas sagt als einziger nichts – was im Stimmenchaos aber nur dann auffällt, wenn man wirklich genau zählt. Darauf setzt der 2. Chor mit einem Kommentar in Form eines Chorals ein „Ich bin’s, ich sollte büßen / An Händen und an Füßen / Gebunden in der Höll“.

Die Abendmahlsszenerie wird mit diesem Choral verlassen, jetzt sind wir Hörer:innen angesprochen, sollen über uns selbst reflektieren und uns unsere Sündhaftigkeit und Nichtigkeit vor Gott eingestehen. Ich selbst bin es, die in dem Moment büßen soll – und das wird durch die Unterbrechung der Passionsgeschichte deutlich gemacht. Als Hörerin werde ich aus meiner Beobachterposition herausgeholt.

Drei Stunden voller Gefühlsumschwünge

Dieser ständige Wechsel der Ebenen durch den Einsatz der beiden Chöre zieht sich durch die ganze Passion hindurch. Nicht immer ist allein durch Hören nachzuvollziehen, welcher Chor gerade an der Reihe ist. Bachs Partitur (Autograph hier) lässt die Einteilung aber genau erkennen.

Für mich als Hörerin ist die Matthäuspassion deshalb anstrengend: Ich soll das Leiden Christi betrachten und zugleich meinen eigenen Kreuzweg gehen, indem ich immer wieder auf meine Sündhaftigkeit hingewiesen werde und darüber reflektieren soll. Die Musik macht ein ganzes Tableau an Gefühlen plastisch:

Ich höre Tränen tropfen und die Geißeln auf Jesu Rücken, erlebe Gefühlsumschwünge in Da-capo-Arien. Fast 3 Stunden lang werde ich zur Contemplatio und Compassio aufgefordert, bis mir am Ende der Schlusschor „Wir setzen uns mit Tränen nieder“ (zweiter Teil Berliner Philharmoniker, ab ca. 1:40:00) erlaubt, mich nach einem langen beschwerlichen Weg, im wahrsten Sinne des Wortes, endlich hinzusetzen und Luft zu holen. Der Doppelchor in Da-capo-Form mit seinen Ritornellen klingt beinahe fröhlich, zumindest kehrt jetzt die Karsamstags-Ruhe ein, Ostern ist noch nicht da.

Überwältigung bei Bach, Andacht mit Schütz

Im Berliner Sommersemester 2020 haben wir auch die Schilderung der Kreuzigung Jesu angehört, allerdings nicht nur aus der Matthäuspassion von Bach, sondern die gleiche Szene auch aus der Matthäuspassion von Heinrich Schütz (Hörbeispiel).

Bachs Kreuzigungsszene (vgl. Zweiter Teil Berliner Philharmoniker, ab ca. 1:14:00) hat uns durch den ständigen Wechsel der Ebenen und die Unterbrechungen der eigentlichen Erzählung durch Arien und Rezitative beim Anhören überfordert. Das Rezitativ „Ach Golgotha, unsel’ges Golgatha“ und die Arie „Sehet, Jesus hat die Hand / Uns zu fassen ausgespannt“ verstörten mit ihren Disharmonien, sperrigen Rhythmen und dem seltsam süßlich anmutenden Text. Sie wollen uns selbst, als Sünder:innen, direkt unter das Kreuz ziehen.

Die Kreuzigung wird bei Bach nicht in ihrer ganzen Schrecklichkeit stehengelassen, sondern sofort durch den Choral „Wenn ich einmal soll scheiden“ kommentiert – ich erlebe als Hörerin Jesu Tod mit und werde direkt im Anschluss mit meiner eigenen Sterblichkeit konfrontiert. Im Sommersemester 2020, als wir diese Szene zwar zur gleichen Zeit, jede:r aber allein vor seinem Laptop zu Hause sitzend, angehört haben, hat uns diese Drastik und die Reflexion über unsere eigene Existenz völlig überfordert.

Heinrich Schütz erzählt in seiner Matthäuspassion ohne Instrumentalbegleitung von der Kreuzigung (ab ca. 43:25 im Hörbeispiel). Die Rollen im Stück sind klar verteilt – der Tenor des Evangelisten, der Bass Jesus und der Chor, der die Worte des Volkes singt. Lautmalereien in den Gesangsstimmen unterstreichen wichtige Stationen des Geschehens. Im Zentrum steht der Text des Evangeliums. Beinahe überirdisch schön erklingt der Chor zum Ende der Kreuzigungsszene, der eine zentrale Aussage transportiert: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“

Die Hörer:innen, so haben die Studierenden später gesagt, können selbst entscheiden, wo sie sich in der Matthäuspassion von Schütz positionieren wollen: Unter dem Kreuz als direkt Beteiligte oder in sicherem Abstand als Beobachtende. Die klare musikalische Umsetzung des Bibeltextes hat uns in der Lehrveranstaltung imponiert, die Schlichtheit und Eleganz, mit der Schütz direkt und schonungslos die Passion und den Tod Jesu erzählte – ohne Unterbrechungen und Interpretationen. Beim Hören der Kreuzigungsszene von Schütz, so haben die Studierenden später gesagt, waren sie während der Seminarsitzung fast andächtig und haben viel intensiver den Text des Evangeliums nachvollzogen als bei Bach.

Und in der Karwoche 2020? Auch wenn uns die halbszenische Aufführung der Berliner Philharmoniker von Bachs Matthäuspassion vielleicht erstmal befremdet – sie macht ein Stück weit sichtbar, was die Aufführenden aus der Musik herausgehört haben und zeigt, wie sie die Matthäuspassion verstehen. So eine szenische Interpretationshilfe kann uns Neues in der Musik entdecken oder auch manches leichter ertragen lassen – gerade dieses Jahr, wieder allein zu Hause und nicht im Konzert.


Alle Eule-Artikel von Andrea Hofmann.


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