Missbrauch evangelisch: Dicke Fragezeichen

Die Evangelische Kirche versteckt sich beim Thema sexueller Missbrauch gerne hinter den Katholiken. Dabei ist ihr Umgang mit Betroffenen bis heute mangelhaft, wie der Konflikt um die „Anerkennungsleistungen“ zeigt:

Da waren es nur noch zehn. Der ursprünglich zwölf Mitglieder umfassende EKD-Betroffenenbeirat, der sich erst im Herbst 2020 konstituiert hat (wir berichteten), hat einen weiteren Abgang zu verzeichnen.

Harald Wiester, aus dem Betroffenen-Netzwerk des Verbands Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder (VCP), hat sich aus dem Gremium zurückgezogen, das die Interessen der Betroffenen gegenüber der Evangelischen Kirche stark machen soll. Zuvor hatte sich bereits ein weiteres Mitglied von der Mitarbeit zurückgezogen. * (siehe Notiz am Artikelende)

Wiester begründet seinen Rücktritt damit, dass die Widersprüche zwischen den Erwartungen der Institution Kirche und von Betroffenen an den Beirat nicht auflösbar erscheinen. „Wir sollen beraten und bekämpfen gleichzeitig“, schildert er das Hin-und-Hergerissen sein, das die Arbeit des Betroffenenbeirates bislang prägt. Für Wiester bleibt dieses Grundproblem bestehen: „Wir sollen der Institution helfen, der wir objektiv gesehen als Betroffene gegenüberstehen.“

Wiester war einer der Betroffenenbeiräte, die in den vergangenen Wochen an der neuen Musterordnung für individuelle Anerkennungsleistungen für Betroffene sexualisierter Gewalt mitgearbeitet haben. Ein Musterordnungs-Entwurf der Kirche war im Herbst beim Betroffenenbeirat durchgefallen (wir berichteten). Gegenwärtig befindet sich „ein aktualisierter Entwurf der Musterordnung in der Abstimmung“, teilt ein EKD-Sprecher auf Nachfrage der Eule mit. Eine eigene Stellungnahme zum Entwurf, die in diesen Prozess eingebracht werden soll, hat der Betroffenenbeirat demnach allerdings noch nicht verabschiedet.

Betroffenenbeirat auf Augenhöhe mit der EKD?

Seit seiner ersten Sitzung Ende September 2020 arbeitet der Betroffenenbeirat zugleich an Sachfragen und an seiner eigenen Konstitution. Im Kern geht es darum, den Betroffenenbeirat arbeitsfähig zu machen und „auf Augenhöhe“ zum „Beauftragtenrat der EKD zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“ zu positionieren. Genau das wurde den Betroffenen vom Beaufragtenrat und seiner damaligen Sprecherin, Bischöfin Kirsten Fehrs (Sprengel Hamburg und Lübeck / Nordkirche), immer wieder zugesagt.

Mehrere Forderungen des Betroffenenbeirates sind jedoch bislang unerfüllt geblieben: So soll nach seinem Wunsch dem erheblichen Zeit- und Kraftaufwand der Beiräte durch eine pauschale Aufwandsentschädigung von 700 Euro pro Monat entsprochen werden. Bisher erhalten sie ein geringes Sitzungsgeld. Außerdem wolle und müsse man sich wesentlich häufiger treffen, als von der EKD in ihrer Ausschreibung für den Beirat vorgesehen. „Die von der Kirche angebotene Sitzungspauschale und die Beschränkung auf vier Sitzungen pro Jahr werden dem [komplexen Themenfeld] nicht gerecht“, heißt es in einem internen Positionspapier des Betroffenenbeirats, das der Eule vorliegt.

Darin betonen die Beiräte ihre Bedeutung für die Glaubwürdigkeit der Aufarbeitung sexueller Gewalt in der Evangelischen Kirche: „Die Betroffenen verleihen dem Beauftragtenrat und allen Bemühungen der Kirche um Aufarbeitung, Aufklärung und Prävention von sexualisierter Gewalt die Legitimierung, die bislang fehlt.“

Streitpunkt Anerkennungsleistungen

Als wichtigstes Projekt der Zusammenarbeit von Betroffenenbeirat und EKD liegt die Verabschiedung einer neuen Musterordnung für die „individuellen Anerkennungsleistungen“ obenauf. Die Kritik der Betroffenen entzündete sich im Herbst vor allem daran, dass der Entwurf einen Nachweis eines „institutionellen Versagens“ der Kirche zum Zeitpunkt des Missbrauchs fordert.

Die EKD beruft sich demgegenüber darauf, dass das „institutionelle Versagen“ bei ausreichender Plausibilität der Tat „mitindiziert“ sei. „Das Versagen der Institution ist [..] eine Voraussetzung für eine Anerkennungsleistung, die ja hier von der Institution und nicht vom Täter oder der Täterin geleistet wird, sie muss aber nicht gesondert belegt oder auch nur plausibilisiert werden“, heißt es in einem internen Protokoll, das der Eule vorliegt.

Wenn ein Nachweis „institutionellen Versagens“ also nicht notwendig ist, warum nimmt er im Entwurf eine solch prominente Stellung ein? Auch im katholischen Äquivalent, der neuen Verfahrensordnung für die Zahlungen in „Anerkennung des Leids“, ist von „institutionellem Versagen“ die Rede, allerdings im Kontext der Leistungsbemessung, nicht bei ihrer Begründung.

Apropos Katholische Kirche: Dort hat im Januar 2021 eine Unabhängige Kommission (UKA), bestehend aus kirchenunabhängigen ExpertInnen und erfahrenen JuristInnen, ihre Arbeit aufgenommen und bereits erste Zuweisungen beschlossen. Die Katholische Kirche hatte im Herbst 2020 ihr Verfahren für Anerkennungsleistungen vereinheitlicht und die Entscheidung über diese individuellen Zahlungen in die Hände der UKA gelegt. Die Diözesen sind verpflichtet, die Zahlungen in der von der Kommission beschiedenen Höhe zu leisten. Damit ist sowohl die institutionelle Verantwortungsübernahme, wie sie eine Empfehlung des „Runden Tischs Sexueller Kindesmissbrauch“ von 2011 vorsieht, als auch die Unabhängigkeit des Verfahrens gewährleistet.

Davon ist die Evangelische Kirche noch weit entfernt. Die neue Musterordnung sollte zunächst bis zur EKD-Synode 2020 vorliegen, dann ging man intern davon aus, dass die Kirchenkonferenz sie im März 2021 verabschieden könnte. Die Kirchenkonferenz besteht aus den leitenden Geistlichen sowie den leitenden JuristInnen der zwanzig EKD-Gliedkirchen. Mit ihrem Beschluss will sich die Kirchenkonferenz eigentlich dem Votum der leitenden JuristInnen anschließen. Nachdem also der Betroffenenbeirat seine Anmerkungen einbringen wird, müssen auch diese nochmals beraten. Ein Beschluss rechtzeitig zur Herbstsynode 2021 ist unwahrscheinlich.

Anschließend müssen dann alle Gliedkirchen die Musterordnung umsetzen oder ihre Verfahren wenigstens „weitestgehend [an ihr] orientieren“, wie es in einem internen Protokoll heißt. Auch dieser Prozess wird Zeit beanspruchen. Mit einer Vereinheitlichung der Standards für die Zusprechung von Anerkennungsleistungen und einem für Betroffene zumindest verlässlichen Verfahren ist nicht vor 2022 zu rechnen.

Entscheidungen zu Lasten der Betroffenen

Gleichwohl verändern nach Informationen der Eule einige Landeskirchen bereits jetzt ihre Verfahren auf Grundlage eines Beschlusses der Kirchenkonferenz vom März 2020, in dem die Landeskirchen gebeten werden, „die Vergleichbarkeit der Anerkennungsleistungen […] sicherzustellen“. Im Rahmen dieses „EKD-weiten Angleichungsprozesses“ werden die „Unabhängigen Kommissionen“ und ihre Vergabepraxis umgestaltet – ohne Beteiligung oder Votum der Betroffenen.

Manche Landeskirchen, die bisher pauschale Anerkennungsleistungen ohne einen Nachweis des „institutionellen Versagens“ gezahlt haben, bestehen nach Informationen der Eule nun auf Gutachten, die die Plausibilität des Missbrauchs belegen, um individuelle Leistungen zuzusprechen. Diese unterscheiden sich in der Höhe allerdings nur marginal von den bisherigen Pauschalleistungen. Den Betroffenen wird so eine Beweislast aufgebürdet, ohne dass sie erkennbare Vorteile zu einem pauschalen Verfahren erhalten.

Bis zur Verabschiedung und Implementierung eines vereinheitlichten Verfahrens gehen die EKD-Gliedkirchen weiterhin sehr unterschiedlich vor: Manche Landeskirchen, wie die Evangelische Landeskirche in Württemberg (ELKWUE) und die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) sprechen Betroffenen pauschal 5000 € Anerkennungsleistungen zu. In Württemberg wurden „im Laufe der Zeit“ auch „Zusatzleistungen (Unterstützungsleistungen) im Rahmen von weiteren 5.000 €“ bewilligt, geht aus einem internen EKD-Protokoll hervor. Andere Landeskirchen zahlen auch jetzt schon eine individuell bemessene Zuwendung, wie sie der Entwurf für die neue Musterordnung für alle EKD-Gliedkirchen vom Herbst 2020 vorsieht. Die aktuell bisher gezahlte Höchstsumme beträgt ausweislich eines internen Protokolls 36 000 €.

„Unabhängige“ Kommissionen

Auch die neuen evangelischen Anerkennungsleistungen sollen von den bereits bestehenden sog. „Unabhängigen Kommissionen“ zugesprochen werden (wir berichteten). Sie wurden in den EKD-Gliedkirchen im Verlauf der letzten zehn Jahre gegründet, manchenorts erst in den Jahren 2019 und 2020. Die Kommissionen setzen sich zumeist aus Beschäftigten der Kirchen zusammen und begründen ihre Unabhängigkeit damit, dass sie nicht weisungsgebunden agieren.

Auch weiterhin sollen sich also Betroffene bei kirchlichen Ansprechpartner:innen melden, um ihr Anliegen im Anschluss entweder schriftlich oder im Gespräch vor weiteren Kirchenmitarbeiter:innen zu vertreten. Dieses Vorgehen wird von BetroffenenvertreterInnen scharf kritisiert (wir berichteten).

Die Landeskirchen berufen sich dabei auf die Empfehlungen des „Runden Tischs Sexueller Kindesmissbrauch“ von 2011 (s.o.). Schon damals trugen die am „Runden Tisch“ beteiligten Betroffenenvertreter:innen diese Empfehlung allerdings nicht mit. Die Katholische Kirche hat aus dem anhaltenden Dissens mit den Betroffenen inzwischen Konsequenzen gezogen und die UKA eingerichtet (s.o.). Auch hier hinkt die Evangelische Kirche hinterher.

Die Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) und das ihr zugehörige Diakonische Werk zum Beispiel haben 2015 eine „Unabhängige Kommission“ eingesetzt: „Es ist uns bewusst, welch großer Schritt es für Betroffene ist, über das zu sprechen oder zu schreiben, was ihnen angetan wurde – so wie es im Rahmen der Antragsstellung erforderlich ist“, informiert die ELKB Betroffene auf ihrer Website. Die Kirche meint es sicher gut: Die Ansprechstelle für Betroffene sexualisierter Gewalt ist mit drei PfarrerInnen und zwei KirchenjuristInnen besetzt, die Betroffene durch das Verfahren begleiten sollen.

Der „Unabhängigen Kommission“ selbst sitzt mit Heinrich Götz ein prominenter Kirchenmann vor. Er war bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand vor zwei Jahren 19 Jahre lang Rektor der Augsburger Diakonissenanstalt, zudem Vizepräsident der Landessynode und Vorsitzender des Diakonischen Rats, dem Aufsichtsgremium der bayerischen Diakonie. Heute ist er Kuratoriums-Vorsitzender der Evangelischen Akademie Tutzing. Gut 60 % der bisher bekannten Missbrauchsfälle in evangelischen Kontexten ereigneten sich in diakonischen Einrichtungen.

Anhaltende Probleme

In den EKD-Gliedkirchen ist man sich der Probleme bei den Anerkennungsleistungen und „Unabhängigen Kommissionen“ zumindest teilweise bewusst. Nicht zuletzt sind es die Betroffenen, die auf Missstände beharrlich hinweisen.

Doch auch Vertreter:innender „Unabhängigen Kommissionen“ selbst nehmen die bisherigen Verfahren, z.B. die Gestaltung der Meldeformulare für Betroffene, als mangelhaft wahr, wie aus internen Dokumenten hervorgeht.

In ihnen dokumentiert sich auch die Ratlosigkeit der Verantwortlichen darüber, wie mit neuen Missbrauchsfällen umzugehen ist. Was tun, wenn Betroffene während der Gespräche mit den kirchlichen Ansprechpartner:innen weitere Missbrauchsopfer benennen? Die der Eule vorliegenden Dokumente lassen darauf schließen, dass es für solche Fälle jedenfalls kein einheitliches Vorgehen gibt. Wenn Missbrauchsfälle öffentlich werden, steigt üblicherweise die Zahl von Betroffenen, die sich ermutigt fühlen sich zu melden. Wie viele Missbrauchsfälle sind bisher unentdeckt und unerforscht geblieben, weil kirchliche Verantwortliche Hinweisen nicht konsequent nachgingen?

Als entscheidende Kriterien für die neue Musterordnung für Anerkennungsleistungen benennt die EKD: „Plausibilität, Unabhängigkeit, individuelle Verfahren, Verjährung“. Hinter jedes dieser vier Kriterien muss bei gegenwärtigem Stand ein dickes Fragezeichen gesetzt werden. Auf der EKD-Synode 2019 sprach Bischöfin Kirsten Fehrs von „Präzision und Sorgfalt“, die es bei der Umsetzung des „11-Punkte-Handlungsplans gegen sexualisierte Gewalt“ brauche. „Und dies wiederum ist nicht möglich ohne die Partizipation von betroffenen Menschen […]. Und Partizipation – die braucht Zeit.“ Doch während der Betroffenenbeirat um Beteiligung ringt, werden hinter den Kulissen der EKD-Gliedkirchen Fakten geschaffen.


Alle Eule-Beiträge zum Thema sexueller Missbrauch in den Kirchen.


* Richtigstellung: Im Absatz hatte es zunächst geheißen, dass der erste Rücktritt aus dem Betroffenenbeirat erfolgte, „weil der Betroffene sein Engagement im Beirat mit seiner Tätigkeit als Pfarrer in einer evangelischen Landeskirche nicht mehr für vereinbar hielt“. Das betreffende ehemalige Mitglied des Betroffenenbeirates erklärte nach Erscheinen des Artikels gegenüber der Eule, dass sein Rücktritt aus „persönlichen Gründen“ erfolgte und mit seiner Tätigkeit als evangelischer Pfarrer in keinem Zusammenhang steht. (9. März 2021, 17:15 Uhr)