Missbrauch evangelisch: „Die Geheimnistuerei verhindert Aufklärung“

Nur selten wird in den evangelischen Kirchen sexueller Missbrauch öffentlich. Dabei könnten, so zeigt es das Vorgehen in Hannover, von einer transparenten Aufklärung alle Beteiligten profitieren.

Im Juli 2020 trat Katharina Kracht unter dem Pseudonym Katarina Sörensen mit ihren Vorwürfen gegen einen Pfarrer der Hannoverschen Landeskirche an die Öffentlichkeit. Ihr Fall ist für den sexuellen Missbrauch in den evangelischen Kirchen aus mehreren Gründen beispielhaft: Typisch für den Tatort Gemeinde war der Täter ein charismatischer Pfarrer, die Betroffene zum Tatzeitpunkt im Jugendalter, Gemeinde und Familie glaubten ihr nicht. Sogar dann noch, als bereits Gerüchte über eine „Affäre“ des Pfarrers im Umlauf waren.

Doch Katharina Krachts Geschichte nimmt eine Wendung, die ihren Fall von vielen anderen Missbrauchsfällen in den evangelischen Kirchen unterscheidet: Nachdem sie sich bei der Kirche gemeldet hat, gehen Kirche und Betroffene gemeinsam an die Öffentlichkeit. Später legt Kracht das Pseudonym ab und engagiert sich unter ihrem richtigen Namen für die Rechte von Betroffenen. Heute gehört sie dem Betroffenenbeirat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) an.

Geräuschlose „Aufarbeitung“

Nicht zuletzt, weil nur wenige Missbrauchsfälle veröffentlicht werden, hält sich unter evangelischen Christen das Vorurteil, die Missbrauchskrise wäre eine katholische Angelegenheit. Das ist erstaunlich, werden doch Betroffenen in den evangelischen Landeskirchen im Monatstakt Anerkennungsleistungen zugesprochen. Diese Zahlungen werden in „Anerkennung des individuellen Leids“ an Betroffene geleistet, deren Fälle nachweislich verjährt sind. Der Tatzeitpunkt liegt viele Jahre, nicht selten mehrere Jahrzehnte zurück. Trotzdem beschäftigten die Fälle die evangelischen Kirchen bis heute.

In den Landeskirchen wurden in den Jahren seit 2010 sogenannte „Unabhängige Kommissionen“ gebildet, die im Auftrag der Kirchen Anerkennungsleistungen an Missbrauchsbetroffene zusprechen (wir berichteten). Die Kommissionen arbeiten von der breiten Kirchenöffentlichkeit nahezu unbemerkt und fast geräuschlos. In der Nordkirche wurden bisher 60 Fälle bearbeitet, in Württemberg gar in 145 Fällen über Zuwendungen entschieden. Mit 120 Missbrauchsfällen hatte es die Kommission in Hannover bisher zu tun, die es schon seit zehn Jahren gibt. Nach und nach traten die anderen niedersächsischen evangelischen Kirchen der Kommission bei. Seit dem vergangenen Jahr gibt es eine neue Kommission, die für alle EKD-Gliedkirchen in Niedersachsen und die Bremische Evangelische Kirche (BEK) zuständig ist.

Nur die wenigsten dieser Fälle, in denen es die evangelischen Kirchen für angemessen hielten, „Anerkennungsleistungen“ zu zahlen, sind bisher öffentlich geworden. Der Weg der gemeinsamen Veröffentlichung durch Kirche und Betroffene ist in den meisten Landeskirchen unbeschritten. Das nützt – sinnlos, um den heißen Brei herum zu reden – vor allem der evangelischen Kirche. Sie kann sich in der Öffentlichkeit bis heute im Windschatten der katholischen Kirche halten. Vielen engagierten Haupt- und Ehrenamtlichen, sogar Mitarbeiter:innen von Landeskirchenämtern und Landessynodalen ist das Ausmaß des Missbrauchs und der (bescheidene) Umfang der Aufklärungsbemühungen in ihren Kirchen nicht bekannt. Dabei würden von Veröffentlichungen alle profitieren.

„Wir brauchen ein ‚Klima der Ermutigung‘“

Nachdem Katharina Kracht sich gemeinsam mit der Landeskirche Hannovers und unter Pseudonym an die Öffentlichkeit wandte, meldeten sich immer weitere Betroffene, die vom gleichen Täter missbraucht wurden. „Nachdem wir in Hittfeld gemeinsam mit Frau Kracht an die Öffentlichkeit gegangen sind, haben sich in Hittfeld und in der früheren Kirchengemeinde des Pastors in Wolfsburg insgesamt acht weitere Betroffene gemeldet“, erklärt Oberlandeskirchenrat Rainer Mainusch. „Und wir wissen, dass es vermutlich noch weitere Betroffene gibt, die sich bisher aber nicht persönlich bei uns gemeldet haben.“ Mainusch leitet die Rechtsabteilung des Landeskirchenamtes der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers und ist seit vielen Jahren mit der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in seiner Kirche befasst.

Katharina Kracht, Mitglied im Betroffenenbeirat der EKD (Foto: privat)

Er erklärt: „Wir brauchen ein ‚Klima der Ermutigung‘, in dem Betroffene Vertrauen gewinnen, dass wir es mit der Aufklärung sexualisierter Gewalt ernst meinen.“ Das Vertrauen in die Kirche ist bei vielen Betroffenen zerstört, müsste mühsam neu erarbeitet werden. Immer wieder berichten Betroffene davon, dass sie, nachdem sie ihren Fall bei der Kirche angezeigt haben, viele Wochen auf Antwort warten mussten. „Ich habe schon zwei Monate auf eine Bestätigung eines Email-Eingangs warten müssen“, erzählt Katharina Kracht. „Der Landesbischof hat damals in einem Fernsehinterview öffentlich seinen Dank an mich ausgerichtet, für ein persönliches Gespräch mit mir hatte er allerdings keine Zeit.“

Rainer Mainusch, Leiter der Rechtsabteilung der Landeskirche Hannovers (Foto: Lk. Hannovers)

„Die Veröffentlichung von Fällen weckt bei den Betroffenen sehr hohe Erwartungen,“ gesteht Oberlandeskirchenrat Mainusch ein. Diesen Erwartungen können wir zurzeit manchmal nicht vollumfänglich gerecht werden, weil uns dafür genügend und entsprechend qualifizierte Mitarbeitende fehlen. Darum bin ich froh, dass es uns jetzt gelungen ist, die neue Stelle einer Fachkraft für Prävention und Aufarbeitung zu besetzen.“ Mainusch verteidigt die gemeinsame Veröffentlichung von Missbrauchsfällen: „Eltern und Gemeinden haben den Betroffenen nicht geglaubt, als sie sich als junge Menschen und Kinder an sie gewandt haben. Betroffene brauchen teilweise viele Jahre, bis sie sich melden.“ Die Kirche wolle aber umfassend aufarbeiten, „darum ist es so wichtig, auch in der Öffentlichkeit Signale zu setzen, dass das gewollt ist.“

In vielen Fällen haben wir es in evangelischen Kontexten mit Mehrfachtätern zutun. Die Wahrscheinlichkeit, dass durch eine Veröffentlichung andere Betroffene Mut fassen können, sich ebenfalls zu melden, ist darum hoch. Umso mehr Betroffene sich melden, desto klarer wird auch das Täterprofil und die Hürden für eine notwendige Plausibilisierung der Vorwürfe sinken. „Die Ohnmacht der Betroffenen gegenüber der Institution ist groß“, erklärt Kracht. „Veröffentlichungen können dazu beitragen, dass Betroffene voneinander hören und sich zusammenschließen. Jede Veröffentlichung setzt ein Zeichen: Du bist nicht allein!“ Doch der Gang an die Öffentlichkeit nützt auch Gemeinden und Landeskirche.

Bisher keine einheitlichen Prozesse

„Ja, es gibt teilweise eine Zurückhaltung, sich auf einen öffentlichen Prozess einzulassen“, erklärt Mainusch. „Wenn es in den Gemeinden Zweifel an der Notwendigkeit von Aufarbeitung gibt, müssen wir Überzeugungsarbeit leisten. Ich erlebe aber immer wieder auch Gemeindemitglieder und Angehörige der Täter, die sagen ‚Jetzt verstehe ich manches besser, was mir an dem Verhalten des Täters schon immer aufgefallen ist!‘“ Im Interesse der Kirchen liegt eine zügige Aufarbeitung ohnehin, will sie einmal wenigstens die sogenannten „Altfälle“ als abgeschlossen bewerten.

Aus der Perspektive der evangelischen Kirche wirken die Kommissionen für Anerkennungsleistungen an der „individuellen Aufarbeitung“ von Missbrauchsfällen mit. Betroffenensprecher:innen aus evangelischen Kontexten stellen demgegenüber klar, dass „individuelle Aufarbeitung“ ein Prozess ist, den Betroffene für sich gestalten, und zu dem sie die Kirche als Täterorganisation selbstverantwortet einladen wollen. Die Auszahlung von Anerkennungsleistungen als Teil der „institutionellen Verantwortungsübernahme“ sei nur dann glaubwürdig, wenn auch gründlich aufgeklärt würde.

Wie der Eule Anfang 2021 durch interne Dokumente bekannt wurde, hegen Mitglieder der landeskirchlichen Kommissionen für die Prüfung von Anerkennungsleistungen daran selbst Zweifel. So ist in einigen Landeskirchen völlig ungeklärt, ob und wie möglichen weiteren Missbrauchsfällen nachgegangen werden soll, die im Anerkennungsverfahren bekannt oder angedeutet werden. Eine Verabredung darüber, wie mit Verdachtsfällen in den Gliedkirchen umzugehen ist, gibt es in der evangelischen Kirche nicht. Das begünstigt bis heute Täter, die zum Beispiel die Landeskirche gewechselt haben. „Häufig wissen die Betroffenen, wie auch in meinem Fall, dass sie nicht die einzigen sind, die vom Täter missbraucht wurden“, erklärt Kracht. „Es lohnt sich daher, Hinweisen durch Betroffene konsequent nachzugehen.“

Transparenz herstellen

In der Landeskirche Hannovers versucht man das auf verschiedenen Wegen, die Veröffentlichung von Missbrauchsfällen ist dafür ein notwendiger Schritt. Kolleg:innen und ehemalige ehren- und hauptamtliche Mitarbeiter:innen werden so darauf aufmerksam gemacht, dass Bewegung in Fälle kommt, die sie zum Tatzeitpunkt entweder nicht wahrnahmen oder sogar ignorierten. „Ein erprobter Weg ist es, andere Mitarbeiter:innen und vor allem Ehrenamtliche aus dem Tatkontext zu kontaktieren, z.B. ehemalige Teamer:innen aus der Konfirmandenarbeit. Und die Betroffenen suchen auch selbst und kontaktieren andere mögliche Betroffene, wenn sie Vertrauen in den Aufklärungsprozess gewonnen haben“, erklärt Oberlandeskirchenrat Mainusch.

Bisher sind gemeinsame Veröffentlichungen von Missbrauchsfällen in den evangelischen Landeskirchen noch Ausnahmefälle. „Kein:e Betroffene:r sollte sich unter Druck gesetzt fühlen, mit ihrem Fall an die Öffentlichkeit gehen zu müssen“, stellt Kracht klar, „die Kirche aber muss mit den Fällen möglichst transparent umgehen, will sie ihre Glaubwürdigkeit zurückgewinnen“.

Die evangelischen Landeskirchen gehen bislang nur sehr zögerlich mit Fallzahlen an die Öffentlichkeit. Auch der Umfang der geleisteten „Anerkennungsleistungen“ und Unterstützungszahlungen war lange Zeit ein Rätsel und ist bis heute nicht vollumfänglich transparent dargestellt (wir berichteten). Auf den Websites der Landeskirchen wird zwar über Kontaktmöglichkeiten für Betroffene informiert, eine Auflistung bekannter Fälle und Übersicht über geleistete Zahlungen fehlt aber. So können nicht zuletzt auch engagierte Kirchenmitglieder keinen Eindruck von der Größe und Tiefe des Problems gewinnen.

„Auch die evangelische Kirche muss sich zum Skandal des Missbrauchs bekennen“, fordert Katharina Kracht. Sie ist sich sicher: „Die Geheimnistuerei erhöht die Gefahr der Retraumatisierung für Betroffene und behindert die Aufklärung von Missbrauchsfällen.“


Alle Eule-Beiträge zur Missbrauchs-Krise in den evangelischen Kirchen.