Kurschus: „In Siegen kennt jeder jeden“

Was wusste Annette Kurschus von den Vorwürfen sexualisierter Gewalt, die gegen einen ehemaligen Mitarbeiter der Kirche von Westfalen erhoben werden? Ein neuer Pressebericht stellt die Glaubwürdigkeit der EKD-Ratsvorsitzenden in Frage.

„Was wusste Annette Kurschus?“, fragte am Dienstagmittag die Siegener Zeitung (€) im Kontext der im Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein erhobenen Missbrauchsvorwürfe. Die heutige EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus hatte vor ihrer Zeit im Amt der Präses der Westfälischen Landeskirche als Superintendentin, Pfarrerin und Vikarin in Siegen gewirkt. Seitdem die Vorwürfe Ende letzter Woche – ebenfalls durch Berichterstattung in der Siegener Zeitung (€) – an die Öffentlichkeit kamen, stellt sich die Frage, welche Rolle Annette Kurschus im Kontext der mutmaßlichen Missbrauchstaten spielt.

Im Zentrum der Vorwürfe steht ein ehemaliger Angestellter in einer Kirchengemeinde des Kirchenkreises, die Vorwürfe reichen zwanzig Jahre zurück. Die Westfälische Landeskirche (EKvW) hat nach Beginn der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen den Kontakt zum mutmaßlichen Täter eingestellt und ein Interventionsteam aufgestellt. Die Siegener Zeitung berichtete:

„Die Vorwürfe gegen den Mann wiegen schwer. Über Jahrzehnte soll er im Rahmen seiner kirchlichen Tätigkeit gegenüber jungen Männern sexualisierte Gewalt angewandt und diese missbraucht haben. Dabei soll er seine Position, die ihn auch in Kontakt mit Jugendlichen brachte, ausgenutzt haben. Die Ermittlungen gegen den Mann, der bereits im Ruhestand ist, begannen im Frühjahr. Eine anonyme Strafanzeige aus dem Kirchenkreis löste sie aus.“

Auf der Pressekonferenz der EKD am Sonntag nach ihrem Bericht vor der Synode der EKD musste sich Kurschus daher auch Fragen zum Siegener Vorfall stellen. „In Siegen kennt jeder jeden“, erklärte Kurschus. Sie kenne die Person, der von mehreren Betroffenen sexualisierte Gewalt vorgeworfen wird, sehr wohl, sei deshalb besonders geschockt, da sie „bisher ein anderes Gesicht [dieser Person] gesehen habe“.

Weitere Angaben wollte Annette Kurschus auch gegenüber der Eule zum Fall nicht machen. Die Siegener Zeitung berichtet nun, Kurschus sei „Patin eines Kindes des mutmaßlichen Täters“. Auch die Landeskirche und der zuständige Kirchenkreis verweisen auf die Persönlichkeitsrechte des mutmaßlichen Täters, die zu schützen die laufenden Vorermittlungen der Staatsanwaltschaft gebiete. Es gelte die Unschuldsvermutung und die Kirche wolle nicht in Gefahr geraten, die Identität des mutmaßlichen Täters offenzulegen.

Wann wusste Annette Kurschus was?

Am gestrigen Montag hatte die Staatsanwaltschaft, laut epd, mitgeteilt, „bislang keine nennenswerten Hinweise auf eine strafrechtliche Relevanz gefunden“ zu haben: „Uns ist zumindest nichts bekannt geworden, dass mit körperlicher Gewalt, Drohungen oder mit Androhung von Schlägen oder sonstigem irgendwelche Leute gefügig gemacht worden sein sollen.“ Die Situation stelle sich der Staatsanwaltschaft bisher eher so dar, dass der Beschuldigte sein Stellung ausgenutzt habe, um zum Tatzeitpunkt volljährige Männer „irgendwie zu verführen, dass sie mit ihm homosexuelle Handlungen vornehmen“. Ihre Arbeit zum Tatkontext einstellen wollte die Staatsanwaltschaft allerdings nicht.

Die Siegener Zeitung berichtete von acht mutmaßlich betroffenen Personen. Die Fälle sollen 20 Jahre zurückliegen: also in der Zeit, zu der Annette Kurschus als Pfarrerin (ab 1993) und dann als Superintendentin (2005-2012) in der Stadt wirkte.

Am Dienstagmittag dann berichtete die Siegener Zeitung, ihr liege die Aussage eines Mannes vor, „der bereits Ende der 1990er-Jahre kirchliche Amtsträger in Siegen über die Vorwürfe gegen den heute beschuldigten Kirchenmitarbeiter informiert haben will“. Eine Gesprächspartnerin damals soll nach Aussage des Mannes Annette Kurschus gewesen sein. Der Mann habe, so schildert es die Siegener Zeitung weiter, damals das Gespräch mit Kurschus und einer weiteren Pfarrerin gesucht, „nachdem er von einem sexuellen Übergriff des heute Beschuldigten erfahren hatte“. Bei dem Gespräch selbst sollen noch „drei weitere Männer, welche Kurschus ebenfalls die Missbrauchs-Vorwürfe gegen den Kirchenmann vorbrachten“, dabei gewesen sein – „darunter auch ein mutmaßliches Opfer“.

Erklärung der Ratsvorsitzenden

Während die Synodalen auf der gegenwärtig in Ulm tagenden EKD-Synode vor allem aus den Medien vom Siegener Fall unterrichtet werden, wird in den Leitungsgremien der Evangelischen Kirche seit einiger Zeit um einen guten Umgang mit den Vorwürfen und Annette Kurschus‘ Nähe zum mutmaßlichen Tatumfeld gerungen. Sollten sich die Vorwürfe gegenüber der Ratsvorsitzenden, jahrelang zu einem ihr bekannt gewordenen mutmaßlichen Missbrauchsgeschehen geschwiegen zu haben, als wahr herausstellen, stünde ihre Zukunft als Präses der Westfälischen Kirche und EKD-Ratsvorsitzende in Frage.

Kurschus wies am Dienstagnachmittag die von der Siegener Zeitung verbreiteten „Andeutungen und Spekulationen“ in einem schriftlichen Statement mit Nachdruck zurück: „Dass ich die seit Anfang dieses Jahres beschuldigte Person aus der Zeit meiner jahrzehntelangen Tätigkeit im Kirchenkreis Siegen gut kenne, ist allgemein bekannt. Hinweise auf sexualisierte Gewalt hat es in dieser Zeit mir gegenüber nicht gegeben. Die gegen mich angedeuteten Vorwürfe befremden mich.“ „In Gesprächen vor vielen Jahren ist die sexuelle Orientierung des Beschuldigten, aber zu keiner Zeit der Tatbestand sexualisierter Gewalt thematisiert worden“, teilt die Westfälische Landeskirche im Auftrag von Kurschus mit.

Am Nachmittag berichtete auf der Tagung der EKD-Synode das Beteiligungsforum (BeFo) zur Aufarbeitung der sexualisierten Gewalt in den evangelischen Kirchen. Am frühen Abend erklärte sich dann die Ratsvorsitzende vor der Synode zur den Vorfällen in ihrer Heimat:

Nachdem Kurschus noch einmal darlegte, dass sie zu den Hintergründen – auch ihres persönlichen Verhältnisses zum mutmaßlichen Täter – aufgrund der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen nichts sagen dürfe, was eine Identifikation der Person in der Öffentlichkeit zulasse, erklärte sie, mit der Person nicht einfach nur bekannt gewesen zu sein: „Ich kenne sie sogar sehr gut. Jedenfalls dachte ich das.“ Sie habe „keine Kenntnis von Taten der sexualisierten Gewalt“ gehabt. Zum sog. Gartengespräch erklärte Kurschus, sie „prüfe“ sich intensiv: „Habe ich etwas überhört? Habe ich etwas übersehen? Die Vorwürfe befremden mich sehr.“

Nach ihrer kurzen Erklärung erhielt die Ratsvorsitzende von fast allen Anwesenden einen kurzen Applaus und nach einer weiteren kurzen Atempause meldeten sich drei Synodale zu Wort, um sich danach zu erkundigen, wie es nun weitergehe. Dazu erklärte Kurschus wenig, da sie aus dem Verfahren herausgehalten würde. „Ich finde es auch gut, dass wir da sauber sind“, so Kurschus. Sie versprach abermals eine unabhängige Aufklärung durch Expert:innen, es solle „nichts zurückgehalten werden“.


Die Präses der EKD-Synode, Anna-Nicole Heinrich, hat am Mittwochvormittag Stellung zur Erklärung von Annette Kurschus vor der Synode genommen: Hier in der Eule.


Alle Eule-Beiträge zum Themenschwerpunkt „Missbrauch evangelisch“.

Alle Eule-Beiträge zur Tagung der EKD-Synode in Ulm 2023.


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