Muslime und die Bundestagswahl: Ein schwieriges Verhältnis

Fünf Millionen Muslime nennen Deutschland ihre Heimat. Eine parteipolitische Heimat haben sie oftmals nicht. Das liegt auch daran, dass sich Politiker:innen kaum für ihre Anliegen interessieren.

Ob Clan-Hochzeiten, islamistische Gefährder oder Kopftuchverbote: Islam und Muslime gehören zu den Dauerbrennern deutscher Parteipolitik. Für Musliminnen als potenzielle Wähler interessieren sich die großen Parteien hingegen auch bei dieser Bundestagswahl kaum. Während in den Wahlkampagnen von Linken, Grünen und SPD muslimische Themen so gut wie gar nicht auftauchen, finden Islam und Muslime in den Programmen von CDU/CSU, FDP und AfD vor allem als Bedrohung statt.

Dabei gibt es genügend Gründe, um auf Wählerinnen muslimischen Glaubens zuzugehen. Etwa fünfeinhalb Millionen Muslime und Musliminnen leben in Deutschland. Rund die Hälfte von ihnen hat einen deutschen Pass. Doch ihre Wahlbeteiligung liegt deutlich unter der der Gesamtbevölkerung.

Zu diesem Ergebnis kommt eine Zählung des Sachverständigenrates für Integration und Migration (SVR). Dieser verglich nach der Bundestagswahl 2017 das Wahlverhalten von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Während 86 Prozent der Deutschen ohne Einwanderungsgeschichte an den Wahlen teilnahmen, waren es bei Wahlberechtigten mit Wurzeln im Ausland nur 65 Prozent. Türkeistämmige Personen, die das Gros der muslimischen Bevölkerung Deutschlands ausmachen, brachten es sogar nur auf eine Wahlbeteiligung von 56 Prozent.

Für viele muslimische Anliegen findet sich keine Partei, die sie vertritt

Ein Grund für das vergleichsweise geringe muslimische Interesse an den Bundestagswahlen: Für viele spezifisch muslimische Anliegen findet sich schlicht keine Partei, die sie vertritt: eine liberalere Regelung für doppelte Staatsbürgerschaften, wirksame Maßnahmen gegen Diskriminierung am Arbeitsmarkt, rechtliche Gleichstellung islamischer Religionsgemeinschaften, islamischer Religionsunterricht an Schulen …

Parteien müssen die Interessen von Einwanderergruppen effektiver vertreten. Dies ist das Resümee einer Untersuchung des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung. Dieses untersuchte Anfang des Jahres, wie sich die Parteibindungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Auch hier stechen Gruppen mit hohen muslimischen Anteil hervor:

Galt die SPD beispielsweise noch bis in die 1980er-Jahre als typische „Gastarbeiter“-Partei, hat sie diese Wählergruppe in den letzten beiden Jahrzehnten weitgehend verprellt. Neue Bindungen entstanden hingegen im Rahmen der sogenannte „Flüchtlingskrise“: Menschen, die in den letzten Jahren aus Syrien nach Deutschland kamen, sympathisieren überdurchschnittlich stark mit der CDU. Über alle Migranten-Gruppen hinweg lässt sich aber vor allem eines sagen: Sie fühlen sich deutlich seltener einer Partei zugehörig als der Rest der Bevölkerung.

Neben fehlenden Inhalten dürfte ein weiterer Grund dafür darin liegen, dass das politische Selbstverständnis vieler Muslime sich nicht mit dem der großen Parteien deckt: Die Linke setzt sich zwar gegen Islamfeindlichkeit und Diskriminierung ein, schreckt aber mit ihrer Erdoğan-Kritik und Kurdenpolitik viele türkeistämmige Wähler ab. Mit der Klima- und Umweltpolitik der Grünen können sich auch viele muslimische Wähler identifizieren, nicht aber mit der LGBTIQ*-Politik der Partei. Familienmodell und Traditionsbewusstsein der CDU würden auch vielen konservativen Muslimen zusagen, wären da nicht ständige islamfeindliche und rassistische Äußerungen von CDU-Politikerinnen.

Diese fehlende Vereinbarkeit von muslimischer und mehrheitsdeutscher politischer Wirklichkeit zeigt sich auch beim politischen Personal. Glaubt man den offiziellen Angaben des Bundestages sind gerade einmal drei Bundestagsabegordente muslimischen Glaubens. Zählt man auch Aleviten sowie jene Politikerinnen hinzu, die ihren muslimischen Glauben zwar offenbar gegenüber der Bundestagsverwaltung, nicht aber gegenüber der Öffentlichkeit verschweigen, kommt man immerhin auf sieben Abgeordnete. Das macht bei 709 Abgeordneten aber immer noch nicht einmal ein Prozent. Zum Vergleich: Der muslimische Anteil an der Gesamtbevölkerung beträgt rund 6,5 Prozent.

Karriere in der Politik: Beschimpfungen und Forderungen

Daran dürfte sich auch nach der Bundestagswahl nicht viel ändern. Selbst bei Parteien, die für und mit Vielfalt werben, muss man lange suchen um einen muslimischen Kandidat auf einem aussichtsreichen Listenplatz zu entdecken. Auf der Berliner Landesliste der Grünen beispielsweise findet sich der erste und einzige Kandidat mit Migrationshintergrund auf einem völlig aussichtslosen 20. Platz. Zum Vergleich: In der Berliner Gesamtbevölkerung hat mehr als jeder Dritte einen Migrationshintergrund.

Die wenigen muslimische Kandidaten, die es gibt, werden zudem häufig mit Hürden konfrontiert, die Politikerinnen ohne migrantischen oder muslimischen Background fremd sind. Wenige Wochen nachdem der syrienstämmige Tareq Alaows im Februar seine Kandidatur für die Grünen bekanntgab, zog er diese aufgrund rassistischen Anfeindungen und Bedrohungen auch schon wieder zurück.

Auf ein anderes Problem machte Anfang des Jahres der türkeistämmige Hamburger Bülent Güven aufmerksam. Unter der Überschrift „Konservative Muslime in den Bundestag“ beklagte der Politik-Berater mit SPD-Parteibuch in einem Gastbeitrag für DIE ZEIT, Muslime könnten bestenfalls dann politisch Karriere machen, wenn sie sich von ihrer Religion und ihrem Herkunftsland distanzieren. Es wundere deshalb nicht, „dass die stille Mehrheit der Muslime sich von den aktuellen Abgeordneten wenig bis gar nicht repräsentiert fühlt.“

Selbsternannte Islam-Gelehrte rufen zum Boykott der Wahl auf

Neben der auch bei nicht-muslimischen Deutschen weit verbreiteten Politikverdrossenheit, führt dieser Mangel an Repräsentation und Vorbildern bei manchen Muslimen auch zu einer bewussten Abwendung vom politischen System. „Warum es Muslimen verboten ist, in Deutschland zu wählen“. Mit solchen Aufrufen finden selbsternannte Islam-Gelehrte in Online-Foren und Sozialen Medien viel Aufmerksamkeit. Mal begründen sie dies mit der Diskriminierung von Musliminnen, mal mit der generellen „moralischen Verkommenheit“ des Westens, ein anderes mal theologisch:

Vor allem in salafistischen Kreisen beliebt ist die Vorstellung, wonach Koran und Sunna bereits alle relevanten Vorgaben für das gesellschaftliche Zusammenleben enthalten. Die göttliche Gesetzgebung mache jedes politische System, das sich nicht auf die Lehren des Islams beruft, von vornherein illegitim.

Bei solchen Aufrufen zum Wahl-Boykott handelt es sich allerdings um eine absolute Minderheitenmeinung, die weder von irgendeinem relevanten seriösen islamischen Theologen, noch von den islamischen Interessenvertretungen in Deutschland vertreten wird. Im Gegenteil: Größere muslimische Organisationen wie der Verband Zentralrat der Muslime (ZMD), die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) oder der Verband Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland rufen regelmäßig öffentlich und in ihren Moscheen dazu auf, wählen zu gehen.

Den muslimischen Wähler gibt es nicht

Bleibt die Frage: Aber wen? Darauf versuchen auch Muslime eine Antwort zu finden und Angebote jenseits der etablierten Parteien zu schaffen. Der bisher ausdauerndste Versuch ist das Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit (BIG). Die 2010 in Köln gegründete Partei versucht vor allem muslimische Wähler im bürgerlichen und konservativen Milieu anzusprechen.

Einige Inhalte wie die Ablehnung der Ehe für alle und des Adoptionsrechts für Homosexuelle ähneln dem Programm von CDU/CSU. Andere Punkte adressieren die spezifischen Anliegen vieler Muslime, die durch andere Parteien unbeantwortet bleiben: Recht auf doppelte Staatsangehörigkeit, erleichterte Familienzusammenführung, kommunales Ausländerwahlrecht, Türkisch als Fremdsprache an Schulen, staatliche Anerkennung islamischer Religionsgemeinschaften.

Zu mehr als zwei Mandaten im Bonner Stadtrat brachte es die Partei trotz zahlreicher Wahlteilnahmen auf Bundes-, Landes und kommunaler Ebene allerdings bisher nicht. Auch in diesem Jahr wird sie ihre Ankündigung von 2011, „In zehn Jahren sind wir in der Regierung“, nicht wahrmachen. Der Bundeswahlleiter hat BIG aufgrund fehlender Rechenschaftsberichte von der Bundestagswahl 2021 ausgeschlossen.

Die Erfolglosigkeit von BIG, das auch von vielen Muslimen als zu konservativ und türkeifreundlich kritisiert wird, deutet noch auf einen anderen Aspekt muslimischen Wahlverhaltens hin. Die muslimische Wählerin gib es nicht. Wie der Rest der Bevölkerung stammen auch Muslime aus völlig unterschiedlichen Lebenswelten und interessieren sich für ganz unterschiedliche Themen. Und in den seltensten Fällen beschränken die sich auf ihr Muslimsein. Auch muslimische Bürgerinnnen und Bürger sorgen sich vor Arbeitslosigkeit oder zu hohen Steuern, fordern mehr oder weniger Corona-Maßnahmen, haben Angst vor dem Klimawandel oder zu hohen Benzinpreisen.

Bunte Welt der Klein(st)parteien

Wie vielfältig das politische Spektrum auch aus migrantischer und muslimischer Sicht ist, zeigen auch Kleinparteien wie Die Urbane. Die „HipHop Partei“ will Werte aus der Hip Hop-Kultur in die politische Arbeit übersetzen. „Mitgestaltung und Mitsprache marginalisierter Menschen, Selbstermächtigung, Befreiung, Kampf gegen weiße Vorherrschaft, Antirassismus, Weltoffenheit, Vielfalt, das sind die Prinzipien, um die es uns geht, wenn wir von ‚Verankerung in der Hip Hop Kultur‘ sprechen“, heißt es im Wahlprogramm.

Allein der Vorstand der Partei hat mehr Diversität zu bieten als der gesamte Bundestag: eine ghanaisch-deutsche Beauftragte für „dekoloniale Klimagerechtigkeit“, ein Kulturbeauftragter mit muslimisch-münchnerischen Background, ein norddeutsch-arabischer Mobilitätsbeauftragter mit Behinderung …

Mit vielen Zielen der Partei dürften sich auch viele junge urbane Wählerinnen ohne muslimischen oder migrantischen Background anfreunden können: Entkriminalisierung von Cannabis, kostenloser Nahverkehr, mehr Hip Hop im Schulunterricht. Bei ihrer ersten und einzigen Teilnahme an einer Bundestagswahl im Jahr 2017 trat Die Urbane allerdings nur in Berlin an und brachte es auch dort nur auf 0,16 Prozent der Stimmen.

Social-Media-Hit „Team Todenhöfer“

Verfolgt man die Diskussionen zur kommenden Bundestagswahl in den Sozialen Medien, steht eine andere Partei bei jungen urbanen Muslimen und Musliminnen aber momentan weitaus höher im Kurs. Team Todenhöfer will unter anderem Waffenexporte unter Strafe stellen, in Schulen Anti-Rassismus unterrichten und die AfD verbieten. Namensgeber, Gründer und Vorsitzender der Partei ist der frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Jürgen Todenhöfer. Der sorgte in den letzten Jahren und Jahrzehnten mit Reisen durch die islamische Welt und Kritik an der Nahost-Politik des Westens für zahlreiche Bestseller und hat Millionen Follower in den Sozialen Medien.

Würde die Wahl anhand von Likes auf Instagram und Facebook entschieden, Team Todenhöfer wäre der Einzug in den Bundestag sicher. Sicher ist hingegen jetzt schon: Eine der populärsten Parteien unter jungen netzaffinen Muslimen und Musliminnen ist die eines 80-jährigen Ex-CDU-Politikers. Vielleicht ist das der beste Beweis dafür, dass Islam und Muslime auch parteipolitisch mittlerweile Teil Deutschlands sind.

Coram Mundo: Eule-Serie zur Bundestagswahl 2021

In einer siebenteiligen Serie von Analysen und Kommentaren widmen wir uns in diesem Jahr der Bundestagswahl am 26. September. Unsere Autor:innen beleuchten verschiedene Aspekte der politischen Landschaft vor dem Urnengang. Dabei schreiben sie aus unterschiedlichen politischen und thematischen Perspektiven. Diskutiert gerne mit, hier in den Kommentaren und auf unseren Social-Media-Kanälen!