Bild: Katharina Zell und der lange Weg zur Frauenordination (gemeinfreie Werke, CC BY-SA 3.0)
Kirche

Mutter. Ehefrau. Predigerin?

Die Geschichte des kirchlichen Engagements von evangelischen Frauen im Ersten Weltkrieg zeigt: In Krisenzeiten verändern sich Rollenmodelle – manchmal ganz unabsichtlich.

Am 11. Januar 1548 geschah auf einem Strasbourger Friedhof etwas Außergewöhnliches: Nachdem der berühmte Reformator Martin Bucer seine deutsche Predigt zur Beerdigung des Strasbourger Pfarrers Matthäus Zell noch einmal in lateinischer Sprache gehalten hatte, erhob sich die Ehefrau des Verstorbenen, Katharina, und hielt spontan die dritte Leichenpredigt auf ihren Mann Matthäus.

Katharina Zell brach mit den Konventionen des 16. Jahrhunderts und zeigte rund 400 Jahre vor den ersten Frauenordinationen in deutschen evangelischen Landeskirchen, dass auch Frauen in der Lage waren, das Wort Gottes zu verkündigen.

Das Engagement von Frauen im kirchlichen Leben ist oft ein Randthema der Kirchengeschichte. Für die Reformationszeit gibt es mittlerweile Forschungen zu einzelnen Frauen wie Katharina Zell, die aufgrund ihrer Tätigkeiten sogar als Reformatorinnen bezeichnet werden. Überblickt man die kirchenhistorischen Forschungen von der Reformationszeit bis heute, so fehlen jedoch häufig Informationen zum kirchlichen Engagement „ganz normaler“ Frauen.

Obwohl Frauen häufig wichtige Beiträge zum kirchlichen Leben leisteten und dort immer wieder gängige Geschlechterstereotype außer Kraft setzten, wird an sie nur selten erinnert. Quellen über die alltägliche Frömmigkeit der Menschen zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Kontexten müssen in Zukunft noch viel ausführlicher aus den Archiven erschlossen und analysiert werden.

Evangelische Frauen im Ersten Weltkrieg

Eher zufällig bin ich bei Recherchen zu Kriegspredigten in Archiven auf Hinweise zum kirchlichen Engagement von Frauen im Ersten Weltkrieg gestoßen. Zwei Quellentexte zeigen eindrücklich, dass Frauen sich im Ersten Weltkrieg (nicht nur) im kirchlichen Bereich in einem Spannungsfeld bewegten. Sie waren einerseits immer noch geprägt durch gängige Geschlechterbilder aus dem 19. Jahrhundert und andererseits durch die Not des Krieges dazu herausgefordert, gerade diese Rollenbilder durch ihre Versuche aufzuweichen, das kirchliche Leben während des Krieges aufrecht zu erhalten.

Die Tätigkeitsfelder von Frauen im kirchlichen, vor allem diakonischen Bereich hatten sich im 19. Jahrhundert erweitert: So verrichteten Diakonissen vermehrt „christliche Liebestätigkeit“ und beeinflusst durch die internationale Frauenbewegung gründeten sich auch in der evangelischen Kirche Frauenbünde und -vereine. In der evangelischen Kirche stand man der Frauenbewegung zunächst skeptisch gegenüber. Eine zu starke Emanzipation der Frau wurde als Gegensatz zur gottgewollten Schöpfungsordnung empfunden.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs stellte die Bevölkerung und speziell ihre Kirchengemeinden vor neue Herausforderungen. Männer zogen in den Krieg, Frauen blieben in der Heimat zurück. Sie mussten das wirtschaftliche und soziale Leben aufrecht erhalten. Immer mehr Frauen übernahmen in der Kriegszeit Berufe und Tätigkeiten ihrer Männer.

Frauen, Kinder und Alte bildeten in vielen Gottesdiensten nun die Kerngemeinden. Sie besuchten die neu eingeführten Kriegsandachten und waren Adressaten der zahlreichen Kirchenzeitungen und Erbauungsschriften, die für die Kriegszeit verfasst wurden. Diese Erbauungsschriften, meist günstig zu erwerbende Heftchen, enthielten Material für alltägliche Frömmigkeitsübungen, oft zugeschnitten auf bestimmte Personengruppen.

„Eine Witwe bittet für ihren Sohn“

So verfasste zum Beispiel der Tübinger Theologieprofessor Paul Wurster ein „Kriegsbetbüchlein für Soldaten im Felde“ und ein „Kriegsbetbüchlein für Haus und Familie“, wobei letzteres einen Schwerpunkt auf das Gebetsleben der Frauen legte. Beide Schriften transportierten gängige Rollen- und Geschlechtermuster: Männer sollten als Soldaten notfalls ihr Leben fürs Vaterland opfern, Frauen wurden dazu komplementäre Rollen zugewiesen.

In einem Gebet aus dem „Kriegsbetbüchlein für Haus und Familie“ mit dem Titel „Eine Witwe bittet für ihren Sohn“ heißt es:

„Allwissender und allmächtiger Gott, du weißt wohl, wie nahe mir die Sorge geht um meinen lieben Sohn draußen im Feld. […] ich darf dich auch um den Schutz seines teuren Lebens bitten. Du hast mir ihn geschenkt, hast die starke Mutterliebe mir ins Herz gepflanzt, […].

Herr, du weißt, daß es mir oft um Trost sehr bange ist. Bleibe bei mir und stärke meinen Glauben. Bleibe aber auch bei ihm, meinem lieben Kind, wenn die Gefahren des Kriegs ihn umringen und die Schrecken des Kampfs um ihn toben. Gib ihm einen hellen Blick und einen tapferen Mut. Er soll dem Vaterlande Ehre machen und soll dir, Herr, wohl gefallen. […]

Wenn es möglich ist, so laß den Kelch der Trauer um sein junges Leben an mir vorüber gehen und erhalte mir ihn zum Trost und zur Hilfe in meinem Witwenstand. […]

Du hast mich nach deiner Weisheit durch schweres Leid geführt. Ich danke dir dafür, daß du mich nicht verlassen hast in der Zeit meiner Witwenschaft. Ich habe manchmal verzagen wollen; du hast meinen Unglauben beschämt durch deine wunderbare Treue. Ich habe oft gemeint, du fassest mich zu hart an und lassest zu viel über mein Haupt kommen; aber du hast mich nie versucht über mein Vermögen. So will ich auch jetzt stille sein und auf deine Güte hoffen. […]

Willst du ihn mir nehmen, mein Herz zittert bei diesem Gedanken, aber: dein Wille geschehe. […]“ (Paul Wurster, Kriegsbetbüchlein für Haus und Familie, Stuttgart 1914, 24f.)

In dem auf die Bedürfnisse einer Witwe zugeschnittenen Gebet einer Frau, deren Sohn ins Feld gezogen war, erwies sich diese als leidgeprüfte, aber fromme und duldsame Mutter, die in Liebe das Leben ihres Sohnes in die Hand Gottes legte. Während die Frau in der Heimat für ihren Sohn betete und damit ihre Pflicht als treue Mutter erfüllte, leistete der Sohn im Krieg seinen Dienst fürs Vaterland.

Die Rollen von Frau und Mann waren damit klar definiert: Der Mann als tapferer Held im Krieg, der bereit war, sein Leben zu opfern. Die Frau als Daheimgebliebene, die ihren Kriegsdienst durch das Loslassen des Sohnes erfüllte. Gebete wie das oben zitierte dienten als Angebote für die private Frömmigkeit und zur Sinnstiftung im Krieg. Zugleich halfen sie dabei, bestimmte Ideale, gerade was die Geschlechterrollen und Familienbilder anging, zu festigen und eine traditionelle Ordnung und Rollenverteilung beizubehalten.

Rollenwechsel wider Willen

Dass diese traditionellen Ordnungen in der Praxis aufgeweicht werden mussten, zeigen andere Quellen. Was passierte, wenn Pfarrstellen verwaisten, weil Pfarrer in den Krieg zogen? Akten des Berliner Oberkirchenrates belegen, dass dieses Thema von der Kirchenleitung mehrfach diskutiert und unterschiedliche Lösungsvorschläge gegeneinander abgewogen wurden:

Pensionierte Pfarrer sollten Vertretungen übernehmen oder mehrere Gemeinden zusammengelegt werden. Der Vorschlag, Kandidaten des 1. Theologischen Examens zur Vertretung einzusetzen, wurde abgelehnt, weil diesen Personen die Ordination fehlte – nur ein Ordinierter dürfe das Evangelium auslegen. Eine aktive Beteiligung von Frauen an den Gottesdiensten und der Predigt wurde von den Berliner Oberkirchenräten deshalb nicht in Betracht gezogen, wohl aber andere Möglichkeiten der Partizipation von Frauen im kirchlichen Bereich.

An Frauenschulen in Trägerschaft der Inneren Mission wurden Frauen bereits zu Gemeindehelferinnen ausgebildet. Diese Frauen konnten auch Aufgaben in der Seelsorge, vornehmlich an Frauen und Kindern, übernehmen und damit die Pfarrer entlasten. Die Arbeit der Frauen wurde vom Träger begleitet und gelenkt. Daneben gab es aber auch spontane und in der damaligen Zeit unkonventionell erscheinende Initiativen von Frauen.

Eine sehr pragmatische Lösung für den Pfarrermangel während des Krieges, abseits von Empfehlungen der Kirchenleitungen, zeigt ein Leserbrief vom 24. November 1914 aus dem Evangelisch-protestantischen Kirchenboten für Elsaß-Lothringen, der unter dem Titel „Kriegszeit und allgemeines Priestertum“ veröffentlicht wurde. Eine Frau aus einer elsässischen Diasporagemeinde berichtete an Pfarrer Robert Will, den Herausgeber der Zeitung:

„Ich habe in Abwesenheit fast aller Männer aus unserer Kirchgemeinde den Religions- und Konfirmandenunterricht unserer protestantischen Kinder übernommen […].

Dies ist auch ein Zeichen der Zeit und der Verwandlung der Mentalitäten: so sehr mir von jeher jegliches Eingreifen der Frau in das Lehramt des Pfarrers mißfiel, so sehr muß ich begreifen lernen, daß selbst das Lächerliche, das dabei zu fürchten ist, im Ernst der Zeit wegfällt. Du wirst vielleicht lachen, wenn ich dir sage, daß ich heute morgen in der Kirche den ganzen Gottesdienst gehalten habe: Gebet, Predigt und alles. Das Kirchlein war ganz voll von Frauen, und die Andacht war eine vollständige und tiefgehende. Ich habe eine deiner Predigten aus ‚Schönheit des Glaubens‘ , die Passionspredigt, auf die jetzigen Verhältnisse umgeändert und vorgelesen […].

Du darfst aber nicht meinen, daß ich die einzige Frau bin, die solches übernähme; ich habe mich stets gesträubt und wollte nicht; aber zuletzt mußte jede an ihre Reihe kommen. […]: jedes gibt eben nach seines Geistes Richtung, was ihm gut scheint, und immer war es allen gut und tröstlich.“ (Brief an Robert Will, Evangelisch-protestantischer Kirchenbote für Elsaß-Lothringen mit regelmäßiger monatlicher Gratisbeilage: Elsaß Lothringischer Gustav-Adolf-Bote 47 (21.11.1914), 347f.)

Fast in vollem Umfang übernahmen Frauen die Aufgaben des Gemeindepfarrers während seiner kriegsbedingten Abwesenheit – neben dem Religions- und Konfirmandenunterricht die Abhaltung von Gottesdiensten, die das Predigen miteinschloss. Die Verfasserin betonte, dass sie eine Predigt von Robert Will vorgelesen habe. Da die erwähnte Predigt aber ursprünglich für die Passionszeit bestimmt war, hatte die Frau mit Sicherheit eigene Änderungen vorgenommen, um sie an den Kontext anzupassen.

Interessant ist, dass die Frau darauf verwies, dass sie eigentlich für diese Aufgabe nicht geeignet sei. Sie begründete ihr Tun mit den Gegebenheiten der Zeit und der Not, in die der Krieg die Gemeinde aufgrund des fehlenden Pfarrers gebracht hatte. Sie ging davon aus, dass nach dem Krieg alles wieder in die rechte Ordnung kommen und allein der Pfarrer die Gottesdienste halten werde. Jetzt aber, 1914, hatte der Krieg als Krisensituation alle bestehenden Ordnungen außer Kraft gesetzt – auch im Hinblick auf Geschlechter und ihnen traditionell zugeordnete Berufe.

Tabubruch mit Folgen

Was in der elsässischen Diasporagemeinde geschah, hebt sich vom vorherrschenden Frauenbild jener Jahre ab, das auch durch die Frömmigkeit der Frauen vorgegeben wurde. Es ist nur ein Beispiel für die Spannung zwischen zugeschriebener Geschlechterrolle und tatsächlicher Tätigkeit von Frauen im Bereich der Kirche, die bei Quellenrecherchen zutage tritt. Gerade im Blick auf den Ersten Weltkrieg könnte die Reihe von Beispielen noch weiter fortgesetzt werden.

Nach Kriegsende schien es zunächst so, als ob die alten Berufs- und Geschlechterordnungen aus der Vorkriegszeit wieder griffen. Trotzdem blieben Frauen in den Gemeinden präsent, nämlich im Ehrenamt und in den neuen Berufen, für die sie weiterhin in den Frauenschulen ausgebildet wurden. Frauen arbeiteten als Diakonissen, als Fürsorgerinnen für Arme und Kranke, aber auch als Religionslehrerinnen, Katechetinnen und in der Seelsorge.

Ab 1919 griff das Frauenwahlrecht nach und nach auch in den evangelischen Landeskirchen und führte ebenfalls zu einer stärkeren Einbeziehung von Frauen in das kirchliche Leben. Der Erste Weltkrieg hatte diese Entwicklung mitbewirkt, indem er den Frauen Möglichkeiten zum Experimentieren geliefert hatte – auch wenn sie selbst ihre Tätigkeiten als Ausnahme in einer besonderen Situation verstanden hatten.

Das Evangelium ausrichten

Als Katharina Zell 1548 auf der Beerdigung ihres Mannes predigte, war ihr bewusst, dass sie etwas Ungewöhnliches tat. Trotzdem sah sie es als ihre Aufgabe an, am Grab ihres Mannes die Botschaft des Evangeliums weiterzutragen – gerade in ihrer Rolle als dessen Ehefrau. Als die Frau aus der elsässischen Diasporagemeinde im Krieg den Pfarrer auf der Kanzel vertrat, tat sie es, damit die Verkündigung des Evangeliums auch in Kriegszeiten weitergehen konnte – gerade von und für die Frauen in der Heimat.

Die Verkündigung des Evangeliums galt beiden Frauen aus dem Elsass als wichtigstes Ziel. Das Evangelium sollte ausgerichtet werden, auch wenn dafür andere Ordnungen außer Kraft gesetzt wurden und beide mit der Predigt das höchste Gut der evangelischen Kirche nutzten, das zu ihren Zeiten männlichen Pfarrern vorbehalten war. 1943, also mitten im Zweiten Weltkrieg, wurde Ilse Härter als eine der ersten Frauen in einer deutschen evangelischen Landeskirche ordiniert.


Zum Weiterlesen:

Irene Dingel / Matthieu Arnold, unter Mitarbeit von Andrea Hofmann (Hrsg.), Predigt im Ersten Weltkrieg. La prédication durant la „Grande Guerre“, Göttingen 2017 (VIEG.B 109).

Ute Gause, „In Arbeit und Gebet ein Heer hinter der Front! Krieg, Kirche und protestantische Christinnen zwischen 1914 und 1918, in Friedhelm Boll (Hrsg.), Volksreligiosität und Kriegserleben, Münster 1997, 90-115.

Ute Gause, Kirchengeschichte und Genderforschung. Eine Einführung in protestantischer Perspektive, Tübingen 2006.

Doris Kaufmann, Frauen zwischen Aufbruch und Reaktion. Protestantische Frauenbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, München 1998.

Rajah Scheepers (Hrsg.), Vorgängerinnen im Amt. Der Weg von Frauen in das geistliche Amt. Festschrift zum Jubiläum 45 Jahre Gleichstellung von Frauen und Männern im Pfarramt der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Berlin 2019. https://www.ekbo.de/themen/themenfrauenordination.html (18.30.2020).