Nukleare Abschreckung: Was sagt die Friedensethik?

Wie sind nukleare Abschreckung und die „nukleare Teilhabe“ Deutschlands aus Perspektive der evangelischen Friedensethik zu bewerten? Michael Haspel klärt auf:

Aufgrund der russischen Offensive in der Ukraine und der kaum verhohlenen Drohung mit Atomwaffen durch den russischen Präsidenten und den Führer Nordkoreas ist die Frage nach der Notwendigkeit atomarer Abschreckung wieder neu aktuell. In deutscher Perspektive ist damit das Problem der nuklearen Teilhabe verbunden, also die Konstruktion, dass Deutschland zwar selber über keine nuklearen Waffen verfügt, aber über Flugzeuge, die mit in Deutschland gelagerten Atomwaffen der USA bestückt werden können (mehr erfahren).

Darüber hinaus werden in der Diskussion Stimmen laut, die im Anschluss an den Politikwissenschaftler Herfried Münkler gar eine deutsche Beteiligung an einer europäischen Atombewaffnung fordern. Deshalb hat der Wiener Systematische Theologe Ulrich Körtner zu Recht gefordert, dass die Frage der nuklearen Bewaffnung friedensethisch neu diskutiert werden muss. Allerdings, so meine hier über Körtner hinaus formulierte These, wird dies nicht durch eine Rückkehr zu den Heidelberger Thesen möglich sein.

Die friedensethische Problematik nuklearer Rüstung

In der neu entfachten friedensethischen Debatte ist dies mit der Frage verbunden, ob der Abschied von den Heidelberger Thesen in der Friedensdenkschrift 2007 denn haltbar sei. Das war bei der Veröffentlichung gar nicht so sehr beachtet worden, weil damals die Frage der Legitimität humanitär begründeter militärischer Intervention im Fokus des Interesses stand. Die 8. Heidelberger These konstatiert:

„Die Kirche muss die Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise anerkennen.“

Von dieser Position grenzt sich die Friedensdenkschrift von 2007 in ihren sicherheitspolitischen Forderungen deutlich ab:

„Aus der Sicht evangelischer Friedensethik kann die Drohung mit Nuklearwaffen heute nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung betrachtet werden“ (Ziff. 162).

Übersehen wird dann allerdings oft, dass in den folgenden Abschnitten, zwei unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen werden. Zum einen die Forderung nach völliger atomarer Abrüstung (Ziff. 163), zum anderen das politische Festhalten an der Abschreckung:

„Insofern bleibt die Abschreckung gültiges Prinzip. Ihr dienen konventionelle und nukleare Waffen, wobei nukleare Waffen als politische und nicht als Kriegführungswaffen angesehen werden“ (Ziff. 164).

Wie öfter in der Denkschrift spürt man die Spannung der unterschiedlichen Positionen dem Text ab und vermeintlich eindeutige Positionen werden dann wieder relativiert.

Allerdings beschreibt die Friedensdenkschrift der EKD das moralische Dilemma damit implizit sehr präzise. Denn es handelt sich um ein wirkliches Dilemma. Die us-amerikanischen römisch-katholischen Bischöfe haben schon 1983 in ihrem Hirtenwort „The Challenge of Peace. God’s Promise and Our Response“ festgehalten, dass jeglicher Einsatz, also auch der sogenannte Zweitschlag, von Atomwaffen moralisch verwerflich ist (Ziff. 150-153). Denn bei einem Einsatz würde die Verhältnismäßigkeit der Güter, die Verhältnismäßigkeit der Mittel und die Diskriminierung zwischen Kombattant:innen und Zivilpersonen in einem Ausmaße verletzt, das durch nichts rechtfertigbar wäre.

Gleichwohl lehnen sie den Besitz und die Abschreckung mit Atomwaffen politisch nicht gänzlich ab, sondern binden sie, wie auch die Heidelberger Thesen, an bestimmte Bedingungen wie Abrüstungsbemühungen, diskriminierende Zielauswahl, Verzicht auf Überlegenheit etc. (Ziff. 154-199). Nota bene, die gegenwärtige Nukleardoktrin der USA und der NATO erfüllen diese Kriterien in erheblichem Maße nicht.

In einer anderen gesellschaftlichen Konstellation haben die evangelischen Kirchen in der DDR auf der Bundessynode 1987 radikal formuliert:

„Weil wir Gott, den Herrn, bekennen, widersprechen wir dem Geist der Abschreckung. […] Daraus folgt: Kein Mensch und kein Staat darf durch Drohung mit Massenvernichtungsmitteln Angst und Abhängigkeitsverhältnisse schaffen, um sich so seinen Frieden zu erkaufen und Macht auszuüben.“

Daran knüpfen die entsprechenden Passagen der Denkschrift von 2007 an.

Auf Grund der nicht-diskriminierenden Wirkung und lange fortwährenden Schädigung durch die im Falle eines Einsatzes freigesetzten nuklearen Substanzen (fallout) ist in moralischer Perspektive der Besitz, die Drohung mit und der Einsatz von Atomwaffen abzulehnen. Das gilt auch für sogenannte taktische, also kleine Atomwaffen, deren Sprengkraft zwar begrenzt ist, die aber so wirksam sein müssen, wenn sie einen operativen Mehrwert gegenüber konventionellen Waffen haben sollen, dass sie gleichwohl nicht-diskriminierend sind und unabsehbare langfristige Folgen haben.

Die bleibende politische Notwendigkeit nuklearer Abschreckung

Der aktuelle Krieg Russlands gegen die Ukraine macht dieses Problem in doppelter Weise deutlich. Zum einen ist die Ukraine erst durch den Verzicht auf die auf ihrem Gebiet verbliebenen sowjetischen Atomwaffen in eine Situation gekommen, Opfer eines konventionellen Angriffs zu werden. Zum anderen sind die teils versteckten, teils offenen Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen durch die russische Föderation ein Zeichen dafür, dass auch in einem konventionellen Konflikt nukleare Waffen eine entscheidende Rolle spielen könnten.

In diesem Szenario würden alle Staaten, die nicht glaubwürdig unter einem nuklearen Abwehrschirm sind, zu potentiellen Opfern auch von konventionellen Angriffen von Atommächten. In dieser Konstellation auf die nukleare Option gänzlich zu verzichten, wäre sicherheitspolitisch nicht zu verantworten. Wenig beachtet scheint mir in diesem Zusammenhang, dass das Konzept der „strukturellen Angriffsunfähigkeit“ gerade auf die Komponente der nuklearen Abschreckung angewiesen ist.

Probleme der nuklearen Abrüstung

Mit dem Wechsel vom Singular in den Plural wird eine weitere Problemlage angezeigt, welche die atomare und konventionelle Rüstungsbegrenzung erschwert. Auch wenn viele den Ukraine-Krieg nach dem Muster der Block-Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR wahrnehmen, hat sich die weltpolitische Konstellation in den letzten 20 Jahren grundlegend geändert. Es wird inzwischen von zwei nuklearen Dreiecken gesprochen (USA-Russland-China; China-Indien-Pakistan)

Wirksame Rüstungskontrollinstrumente müssten also mehr als zwei Partner umfassen und eine sehr komplexe Matrix nuklearer und konventioneller Rüstungsbegrenzung entwickeln. Unabhängig davon, dass nicht erkennbar ist, dass China daran derzeit ein Interesse hat, wäre dies auch ein sehr langwieriger Prozess. Wenn bislang atomare Bewaffnung interimsethisch unter der Maßgabe der Bemühung um nukleare Abrüstung als „noch“ verantwortbar galt, wird man realistisch davon ausgehen müssen, dass dies kurzfristig nicht erfolgreich sein wird.

Die Rechtfertigung der Atombewaffnung kann also im strengen Sinne nicht mehr interimsethisch erfolgen, wie dies noch bei den Heidelberger Thesen der Fall war. For the time being ist keine Änderung dieses Dilemmas zu erwarten.

Das Problem der „Schmutzigen Hände“

In der ethischen Debatte werden solche Situationen, in denen entweder alle Handlungsoptionen, die politisch oder militärisch Verantwortliche haben, moralisch verwerflich sind, oder die moralisch unbedenklichen hinsichtlich der Folgen als unverantwortbar erscheinen, als Dirty Hands-Problem bezeichnet. Im Anschluss an das Drama „Les mains sales“ von Jean-Paul Sartre von 1948 hat dies Michael Walzer 1973 in einem grundlegenden Aufsatz behandelt, der eine bis heute währende Debatte ausgelöst hat. Walzer argumentiert, dass politisch Verantwortliche in manchen Situationen das offensichtlich moralisch Falsche tun müssen, weil es nicht zu tun, politisch unverantwortlich wäre. (Max Webers Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik adressiert dasselbe Bezugsproblem.)

Um ein solches Dirty-Hands-Dilemma handelt es sich hier: Der Besitz von Atomwaffen ist politisch notwendig und zugleich moralisch verwerflich, weil ihr Einsatz ethisch durch nichts zu rechtfertigen wäre. Die moralisch eindeutig richtige Option wäre, einseitig kategorisch auf Atomwaffen zu verzichten. Dies wäre politisch wiederum unverantwortlich.

In diesem Fall stimmt tatsächlich, dass egal welche Option gewählt wird, die Verantwortlichen Schuld auf sich laden. Hier kann man mit Bonhoeffer sehr spezifisch von einer bewussten Schuldübernahme für das geringere Übel sprechen. Es ist moralisch falsch, aber im Rahmen einer Abwägung vernünftig. Hier kommt die strikt deontologische Ethik an ihre Grenzen und das Ergebnis der Abwägung, also einem konsequentialistischen Instrument, ist verantwortbar (aber nicht rechtfertigbar).

Es geht also nicht darum, zu den Heidelberger Thesen zurückzukehren, sondern über sie hinaus zu gehen. Deshalb ist auch der von Ulrich Körtner vorgeschlagene Rückgriff auf das Konzept der Komplementarität, das die Ablehnung und interimsethische Rechtfertigung aufeinander bezieht, nicht weiterführend. Hans-Richard Reuter hat schon vor über 20 Jahren darauf hingewiesen, dass das physikalische Theorem der Komplementarität ethisch in die Irre führt.

Nukleare Teilhabe oder europäischen Atomwaffen?

Zweifelsohne ist unabhängig von der zukünftigen politischen Verlässlichkeit der USA ihre Nuklearstrategie hochproblematisch, da sie auf Überlegenheit und Führbarkeit eines Atomkrieges zielt sowie keine hinreichend diskriminierende Zielauswahlstrategie verfolgt und einen Erstschlag nicht ausschließt. Aber würde man diesen Problemen durch den Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe entkommen?

Dies ist fraglich, denn Deutschland und die europäischen Staaten blieben ja in die Nuklearstrategie der NATO eingebunden. Gegen einen Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe sprechen – zumindest gegenwärtig – aber folgende Gründe:

Sie bietet ein hohes Maß an nationaler Mitbestimmung. Nur wenn Deutschland aktiv die dafür vorgesehenen Flugzeuge zur Verfügung stellt, sie bewaffnen lässt und einen Einsatz anordnet, kommt es zur Beteiligung Deutschlands. Dies bildet wiederum die Basis für eine zumindest begrenzte Mitbestimmung an der Gesamtstrategie.

Bei einer europäischen Lösung, die im Post-Brexit-Europa wohl nur eine Beteiligung an der force frappe sein könnte, ist dies nicht unbedingt gegeben. Denn sollte Proliferation vermieden und der Atomwaffensperrvertrag nicht noch mehr unterhöhlt werden, könnte Deutschland schwerlich unter eigener Flagge Atommacht werden. Da Frankreichs Militärdoktrin aber erheblich von der deutschen abweicht, mithin militärische Einsätze zur Absicherung neo-kolonialer Interessen insbesondere in Afrika und Ambitionen weiterhin als Großmacht wahrgenommen zu werden, nicht auszuschließen sind, böte eine solche Kooperation vermutlich weniger Kontrollmöglichkeiten oder zumindest erhebliches Konfliktpotential.

All dies zusammen genommen spricht dafür, dass Deutschland for the time being an der bestehenden Form der nuklearen Teilhabe festhält, aber zugleich versucht, auf eine Änderung der Nuklearstrategie der NATO und eine signifikante Verringerung der atomaren Gefechtsköpfe der USA hinzuwirken.