Online-Gottesdienste auf dem Prüfstand

Ist der Hype um Online-Gottesdienste schon wieder vorüber? Was können Kirchen und Gemeinden aus den vielen Gottesdienst-Videos lernen? Damit beschäftigt sich ein neues Forschungsprojekt.

Die Gottesdienst-Streams während der Corona-Krise gelten als große Erfolgsgeschichte. Das Erzbistum München und Freising zum Beispiel spricht von einer Reichweite von 1,3 Millionen Aufrufen, die mit insgesamt 125 Streams aus dem Münchener Liebfrauendom erreicht wurden. Werktagsgottesdienste erreichten, so das Erzbistum, durchschnittlich rund 7 500 Menschen, Sonntagsgottesdienste etwa 13 500 Menschen, Gottesdienste zu Feiertagen oder besonderen Anlässen teilweise noch deutlich mehr.

Die „midi“-Ad-hoc-Studie im Auftrag der EKD (wir berichteten) spricht von einem „Nachfrage-Boom“ und einer Steigerung des Gottesdienstbesucherzahl von 287 %. In den vier evangelischen Landeskirchen, die sich an der Studie beteiligten, erreichten digitale Verkündigungsformate eine Reichweite von 6,5 Millionen.

Die „midi“-Studie stellt außerdem einen Digitalisierungsschub fest: 81 % der kirchlichen Akteure haben während der Krise ein digitales Format angeboten. Fast eben so viele gaben an, die Krise habe sie „digitalisiert“ (78 %), damit sei die Digitalisierung „in der Breite der Landeskirchen“ angekommen. Und: 72 % der Befragten gaben an, dass sie die digitalen Formate auch nach der Corona-Krise fortführen wollten, weshalb die „midi“-Studie optimistisch von einer „nachhaltigen Entwicklung“ spricht.

Allerdings ist in den letzten Wochen ein erheblicher Rückgang der digitalen Gottesdienste zu verzeichnen. Das liegt daran, dass vielerorts wieder in den Kirchen Gottesdienst gefeiert werden kann, und sicher auch an einem saisonalen Effekt: Während des Sommers geht der Gottesdienst-Besuch traditionell zurück.

Auch hält das Kirchenjahr zwischen Pfingsten und Erntedank nur wenige Höhepunkte bereit. Nach allem, was wir bisher über Online-Gottesdienste während der Corona-Krise wissen, werden auch im Netz besondere Gottesdienste wie z.B. Diakonen- und Priesterweihen sowie Gottesdienste zu hohen christlichen Festen wie Ostern deutlich stärker nachgefragt als „normale“ Sonntagsgottesdienste.

Nötige Differenzierungen

Alle Zahlen und Studienergebnisse, die wir gegenwärtig zur Verfügung haben, deuten darauf hin, dass digitale Verkündigungsformate gut angenommen wurden. Aber sie sind auch vorläufig und bedürfen der Ergänzung und Differenzierung.

Häufig handelt es sich dabei um jene Analysedaten, die Soziale Netzwerke wie Facebook und YouTube Videoproduzenten zur Verfügung stellen. Hier lohnt ganz sicher ein genauer Blick jenseits der simplen Klick-Zahlen, die nur wenig über das Engagement der Zuschauer*innen aussagen. Oder die Erkenntnisse beruhen wie in der „midi“-Ad-hoc-Studie auf Antworten kirchlicher Akteure, in die immer auch eine gute Portion Sendungsbewusstsein mit eingeht.

Zu den digitalen Verkündigungsformaten zählen neben den Gottesdienst-Streams, die in den Medien überproportional viel Aufmerksamkeit erhielten, auch Audio- und Bildandachten, Lesepredigten und Gottesdienst-Skripte auf Gemeinde-Websites und nicht zuletzt vorproduzierte Videos. Ein genauer Blick auf die riesige Menge des entstandenen Materials ist also notwendig. Eine Analyse der tatsächlich gesendeten Formate kann auch deshalb mehr und anderes zeigen, weil sie weniger von der Selbstwahrnehmung von Befragten und den Vorannahmen von Fragestellern abhängig ist.

Ein gut bestelltes Forschungsfeld

Thomas Renkert vom Diakonie-Wissenschaftlichen Institut (DWI) der Universität Heidelberg fragt darum in einem neuen Projekt nach den Inhalten, die in den Corona-Videos auf YouTube verhandelt wurden. In einem digitalen Werkstattbericht beim neuen TheoLab der Uni Heidelberg informierte er über das Projekt „Corona: Churches coping with crisis. A digital humanities analysis“.

Grundlage der Untersuchung ist die umfängliche YouTube-Liste von Selina Fucker („Lohnt sich das Streamen?“ vom 4. Juni 2020 hier in der Eule). Renkert wertet den YouTube-Algorithmus aus, der automatische Untertitel aus den gesprochenen Worten erstellt: Welche Wörter werden zu welchen Zeitpunkt der Krise genutzt? Zum Vergleich analysiert das Projekt außerdem Fernsehgottesdienste und TV-Talkshows, die während der Hochzeit der Krise ausgestrahlt wurden.

Zumindest bei den Video-Gottesdiensten könnten wir also durch das Projekt erfahren, was während der Corona-Krise gepredigt und wie Gottesdienst gefeiert wurde. Damit wäre zwar nur ein Ausschnitt der digitalen Verkündigungsformate auf diese Weise beschrieben, gleichwohl ließen sich aus den Ergebnissen vielleicht auch Schlüsse für Audio- und Textformate ziehen. So beobachtet Renkert, dass in den Netz-Formaten viel häufiger als in den Fernsehgottesdiensten von Jesus die Rede ist. Dort würde hingegen häufiger von Gott gesprochen. Welche Rückschlüsse auf Akteure und Zuschauer-Interessen lassen sich daraus ziehen?

In den Videos würde, so Renkert weiter, „das Bekannte, das eher Kurze und das eher Moderne“ eine große Rolle spielen: „Gilt ‚Ins Wasser fällt ein Stein‘ noch als modernes Liedgut? Was kann überhaupt noch als bekannt bei den Zuschauer*innen vorausgesetzt werden?“. Die Gottesdienst-Videos bieten wohl einen kirchenhistorisch einmaligen Blick darauf, wie in den Kirchen Gottesdienst gefeiert wird – und damit ein gut bestelltes Forschungsfeld.

„In der Angst rief ich den HERRn an ..“

Einen ersten Eindruck vermittelt zum Beispiel ein Blick darauf, welche Bibeltexte in den Videos Verwendung finden. An der Spitze liegen Psalm 23 („Der HERR ist mein Hirte“), den „noch die Oma im Altersheim mitsprechen kann“, sowie Psalm 118, der in der Lutherbibel als „Bekenntnis zur Hilfe Gottes“ überschrieben ist. In der Krise greifen die Gottesdienst-Gestaltenden also auf bekannte Gebetssprache zurück.

Überhaupt kommen die Video-Gottesdienste traditioneller daher, als man es von digitalen Formaten vermuten könnte. Im Zentrum des Bildes steht fast immer ein*e Pfarrer*in im Talar, die predigt und vorbetet. Häufig wird mit Glockenläuten in den Gottesdienst eingestimmt, die musikalische Untermalung übernimmt die Orgel. Die Untersuchung der Video-Daten könnte zeigen, in wie fern gewöhnliche Hierarchien und liturgische Formen in den „neuen“ digitalen Formaten abgebildet werden, oder ob sie sich – wie Digitalisieruns-Expert*innen seit jeher vermuten – im Netz „verflüssigen“.

In der Corona-Krise jedenfalls greifen die meisten Akteur*innen und Zuschauer*innen auf Formate zurück, die ihnen Vertrautes bieten. Damit unterscheiden sie sich von den Online-Gottesdienst-Formaten, die in den Kirchen seit einigen Jahren entwickelt werden. Erst im weiteren Verlauf der Corona-Krise wanderten von dort bereits erprobte Beteiligungsformen, wie z.B. interaktive Fürbitten, in die Gottesdienst-Streams ein.

Was macht einen Gottesdienst eigentlich zu einem digitalen Gottesdienst?  Wie können digitale Formate inklusiv und partizipativ gestaltet werden? Das sind nicht allein medientheoretische Fragen, sondern Anfragen an das (evangelische) Gottesdienstverständnis. Erschöpft sich die Gottesdienst-Teilnahme digital und analog im Dabeisein und Zuschauen?

Noch handelt es sich um ein Forschungsprojekt im Anfangsstudium, für das weitere Mitstreiter*innen gesucht werden. An einer tieferen, inhaltlichen Analyse der digitalen Verkündigung während der Corona-Krise wird es hängen, ob man im Rückblick auf das Frühjahr 2020 vom christlichen Gottesdienst nicht allein als Risikoquelle, sondern als Resilienzfaktor sprechen wird.