Essay Kultur

Gnadenhammer und Zärtlichkeit

In Gesangbüchern des Barock begegnet uns eine unerwartete Vielfalt an Frömmigkeiten und Kirchengeschichte. Doch sie können noch heute einfach Trostbüchlein sein.

Irgendwann, aber jedenfalls vor Beginn meines Konfirmationsunterrichts, bekam ich auf meinen Wunsch hin von meinen Paten ein eigenes Gesangbuch geschenkt. Es war ein Evangelisches Gesangbuch mit dem gemeinsamen Regionalteil für Baden, die Pfalz und die Kirchen im Elsass und Lothringen.

Mein Wunsch selbst war gemischt aufgenommen worden und selbst in meinem persönlichen Umfeld wurde immer wieder betont, wie ungewöhnlich der Wunsch für ein Kind sei. Der Einband war, passend zu meinem Namen, mit einem Blumenmuster verziert.

Meine Enttäuschung darüber, dass es nicht die in schlichtem Grün gehaltene Ausgabe meiner Heimatgemeinde war, legte sich mit der Zeit. Von da an begleitete mich das Gesangbuch durch meinen Konfirmationsunterricht, mein Abitur, den Freiwilligendienst und sogar nach Berlin sowie Anfang dieses Jahres sogar in ein Krankenhaus.

Zu dem floralen badischen Exemplar ist inzwischen ein zweites Gesangbuch, wie es in meiner Kirchengemeinde in Berlin verwendet wurde, hinzugekommen. Da es an den Orten, die ich in den letzten beiden Jahren besucht habe, wenig gut erreichbare Angebote gab, nutzte ich während des Krankenhausaufenthaltes jeden Morgen und Abend den Andachtsteil des Gesangbuches um eine kleine Privatandacht für mich selbst abzuhalten.

Tageslosung, ein kleiner Impuls und Musik von diversen Musikkanälen konnten und können den Austausch vor und während eines Gottesdienstes nicht vollständig ersetzen, aber gerade in stressigen Zeiten sind diese Kurzandachten ein wichtiges Ritual für mich geworden, um mit meinen inneren Spannungen umzugehen und mir da Trost und Zuversicht zu schenken, wo ich es am nötigsten hatte.

Über das Evangelische Gesangbuch und meine eigenen Präferenzen zu schreiben, birgt grundsätzlich ein Risiko. Zum einen, weil das Benennen von Vorlieben in der Regel sehr wenig über den Gegenstand, wohl aber sehr viel über diejenigen aussagt, die sie benennen. Die Antwort auf die Frage nach Lieblingskünstler*innen, Lieblingsliedern etc. ist nicht von meinem Selbstbild zu trennen.

Ähnlich verhält es sich auch mit vielfach geäußerten Wunsch, „kulturelle Kontinuitäten“ zu erhalten (so der Kieler Kirchenhistoriker Johannes Schilling). Wie komplex die Frage sein kann, von wessen Kontinuitäten in der Liedauswahl des Gesangbuchs wir eigentlich sprechen, demonstrierte Andrea Hofmann im „Eule-Podcast“ im Oktober 2024. Evangelische Gesangbücher, erklärt sie, seien maßgeblich von der Frömmigkeit von Frauen geprägt. Ein Umstand, der sich in der gegenwärtigen Auswahl barocker Lieder nicht widerspiegelt.

Ferner machte Hofmann auf ein weiteres Problem aufmerksam: Barocke Gesangbücher zeigen eine Vielfalt an Variationen zu Melodien und Texten. Kirchenlieder wurden immer wieder umgeschrieben, neu gestaltet oder mit anderen Melodien versehen. Gerade im Kontext des neuen Evangelischen Gesangbuchs gilt, was die Literaturwissenschaftlerin Andrea Geier in einem anderen Kontext über Kanondiskurse so prägnant formuliert hat: „Texte werden kanonisiert im Rahmen von Deutungstraditionen und Deutungsmacht.“

Das gilt gerade im Kontext des Gesangbuches für die romantische Musiktradition und ihre „Wiederentdeckung“ barocker Musik. Der protestantische Barock, wie er uns in den (Landes-)Kirchen begegnet, ist ohne seine Rezeption im 19. Jahrhundert im allgemeinen und insbesondere die Bach-Renaissance zur gleichen Zeit kaum denkbar. Dieser Disclaimer soll keineswegs von eigenen spirituellen Erkundungen abbringen, aber er führt zu wichtigen Anfragen: Wessen Frömmigkeit eigne ich mir an und wen lasse ich zu Wort kommen?

Ein Steinbruch für die eigene Frömmigkeit

Über einen Kurs zur Harmonielehre und Generalbassnotation, den ich im Sommer 2020 belegte, kam ich das erste Mal mit dem von Georg Christian Schemelli herausgegebenen „Musicalisches Gesang=Buch“ (1736) in Kontakt. Schemellis Gesangbuch dürfte wohl das heute noch bekannteste aus dem Barock sein, und diese Bekanntheit verdankt es fast ausschließlich der umfangreichen Mitarbeit von Johann Sebastian Bach und den von ihm veröffentlichten Sätzen.

Musicalisches Gesang-Buch von Georg Christian Schemelli, 1736 (gemeinfrei)

Weniger bekannt sind die Texte in Schemellis Gesangbuch. Mit 954 Liedern gehört es nicht zu den umfangreichsten barocken Gesangbüchern, das „Freylinghausensche Gesangbuch“ zum Beispiel umfasst ca. 1500 Lieder. Aber es ist umfangreich und durchsuchbar genug, um es als Steinbruch der eigenen Frömmigkeit nutzen zu können. Schemellis Gesangbuch deckt eine faszinierende Bandbreite reformatorischer, nachreformatorischer und barocker Frömmigkeit ab.

Das Gesangbuch ist eine für den Barock typische Kompilation von bereits bekannten und weniger bekannten Variationen von Kirchenliedern. Bekannte (Kirchenlied-)Dichter wie Johann Rist, Paul Gerhardt, Martin Luther, Erdmann Neumeister, Johann Arndt, Martin Opitz stehen einer Reihe an anonymen Autoren gegenüber. Eine kurze Recherche konnte bislang keine Autorin ausfindig machen.

Grundsätzlich gehen die meisten Lieder von einer bekannten Melodie aus, sodass selbst mit einer groben Kenntnis des heutigen Evangelischen Gesangbuches weite Teile einfach mitgesungen werden können.

Der Aufbau von Schemellis Gesangbuch ähnelt durchaus dem aktuellen Evangelischen Gesangbuch. So finden sich Lieder nach Jahres- und Tageszeiten, zu besonderen Feiertagen, Trost- und Sterbelieder, Lieder zur Nachfolge und protestantischen Glaubensgrundsätzen, etwa zur Rechtfertigung oder vom „wahren und falschen Christentumb“. Den Zeitabstand von fast 300 Jahren bemerkt man jedoch, wenn etwa „Von Christi zukunft ins fleisch“ als Bezeichnung für Adventslieder auftaucht. Daraus ergibt sich ein spannendes Muster von konstruktiven und destruktiven Interferenzen, von Nähe- und historischen Verfremdungserfahrungen.

Der Reiz des Barocken

Neben meiner eigenen Affinität für barocke Themen und die barocke Theologie, gibt es auch noch andere Gründe, warum sich die Lektüre barocker Gesangbücher lohnen kann. Zum einen konstituieren Gesangbücher Sing- und Hörgemeinschaften, dienen also als möglicher Kompromiss binnenkirchlicher Pluralität. Gesangbuchforschung kann wichtige Beiträge zu einer umfänglicheren Frömmigkeits- und Kirchengeschichte leisten, die nicht selten unsachgemäß auf wenige (männliche) Zentralgestalten fokussiert.

Andererseits bilden Lieder und Gebete auch mögliche Ausgangs- und Anknüpfungspunkte für die eigene Spiritualität, weil Lesende mit ihnen die eigene religiöse Sprachfähigkeit einüben und erweitern können. Gerade letzteres ist besonders hilfreich, denn ich kann als Christin selbstbestimmt Themen setzen und erkunden, während ich gleichzeitig sprachlich anschlussfähig bleibe. Barocke Gesangbücher haben ohnehin den Vorteil, dass ihre Sprache einerseits noch verständlich genug ist, ohne dass es eines einsemestrigen Kurses in einer älteren Sprachstufe des Deutschen bedarf, gleichzeitig aber der historische Abstand groß genug ist, dass ich mühelos in jedem Gesangbuch viel Neues für mich finden kann.

Und auch wenn der Gedanke zunächst abwegig scheint: Vielleicht sind der Barock, seine Theologie und auch seine Lieder doch gegenwartsmächtiger, als es auf den ersten Blick scheint? Allgegenwärtig in den Liedern sind Erfahrungen von Kriegen, Seuchen, Existenz- und Zukunftsängste. Es ist auffällig, wie viel Raum Trostliteratur und glaubenspraktische Texte (Meditationen, Lieder etc.) einnehmen. Auch die Kapitelstruktur des Gesangbuchs reflektiert diese Prioritäten. So gibt es eine eigene Kategorie „Trostreiche Jesuslieder“ (s.u.), in der vorrangig mystische Lieder aus dem Bereich der Herz-Jesu-Frömmigkeit abgedruckt wurden.

Typisch barock leben auch die Lieder in Schemellis Gesangbuch vom Ausbalancieren der Extreme. Die überfließende sprachliche Pracht und die existenziell verängstigte Daseinsbewältigung bilden die Pole der religiösen Literatur dieser Zeit. Ihr assoziatives Aneinanderreihen von Erfahrungen, biblischen Bildern und Gedanken kommt mir oft fremd vor – das Bemühen um Halt in einer unhaltbaren Welt und ihr sprachliches Changieren zwischen Aphorismus und 29 Strophen übergreifender Argumentation.

Kriege, Seuchen, bedrohliche klimatische Veränderungen – diese existenziellen Ängste und der Raum, den sie in barocken Liedern einnehmen können, wie sie teils ernst, teils halbironisch überbordend gespiegelt werden, all das kann mir Trost spenden, weil ich die Notlagen und die Bedrängnis ihrer Verfasser:innen ernst nehmen kann. Mit ihnen schaut man in den Abgrund Gottes – und der Abgrund schaut zurück (bei Schemelli heißt es: „thränen, wenn sich Gott verstecket: Thränen, wenn er grausam scheint“ Schemelli, 672, 6).

Verletzlich und Queer

Barocke Gesangbücher können aber auch im Lichte gegenwärtiger Diskussionen mit Gewinn gelesen werden. In den letzten Jahren haben Theolog*innen queere Symboliken und Traditionen sichtbarer gemacht, auch sie finden sich in Schemellis Gesangbuch reichlich. In mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kontexten hat vor allem die Seitenwunde Christi eine gewisse Prominenz erreicht. Dabei handelt es sich um Darstellungen, in denen diese Wunde als Vulva dargestellt wird.

Als körperlicher Ausweis der „weiblichen Eigenschaften“ Jesu war die Seitenwunde ein Schutzraum vor Ängsten und inneren und äußeren Gefahren. Bisweilen wird die Seitenwunde Christi in protestantischen Diskursen als skurrile Eigenheit von Nikolaus von Zinzendorf (1700-1760) und den Herrnhutern dargestellt, meistens im Kontext von Zinzendorfs Kreuz-Luft-Vögelein-Lied. Wie die Historikerin Anna Diagileva in einem lesenswerten Artikel gezeigt hat, war diese Frömmigkeit selbst für das 18. Jahrhundert herausfordernd, wenn auch Spuren eines erotischen Seitenhöhlchenkults sich im protestantischen „Mainstream“ finden lassen.

So schreibt kein geringerer als Johann Gerhard in seinen „Meditationes sacrae“ (1603/1604): „Ich höre im Hohelied eine Stimme; die treibt mich an, daß ich mich in den Felsenritzen verberge. Du bist der allerfesteste Fels, und die Felsenritzen sind deine Wunden; in denen will ich mich verbergen gegen die Anklagen aller Creaturen.“ Auch in Schemellis Gesangbuch finden sich reichlich Anspielungen, wohl am deutlichsten in Lied 740, 1-3, 6 (zu singen auf „Jesu, meine Freude“):

Jesu, deine wunden seh ich alle stunden mir eröffnet stehn.
Daraus kömmt mir freude, wenn in meinem leide ich fast will vergehn:
Gottes sohn, mein gnadenthron, ohne dich will ich nicht leben,
weil ich hier muss schweben.

Deine wundenhölen, sind ja meiner seelen sichrer aufenthalt.
Sie sind meine schirmen, wenn die feinde stürmen, lauf ich hin alsbald.
Hier ist schutz, da ich mit trutz, mich allzeit kan sicher decken
für der feinde schrecken.

Wenn ich ängstlich schwitze von der sonnenhitze, wenn sie mich saugt aus.
Wenn mich nagt und quälet, und fast gar entseelet der Gewissensbraus,
laben mich herzinniglich, Jesu, deiner wunden flüsse,
deines blutes güsse.

[…]

Jesu, deine ritzen sind mir starke stützen, da fliehe ich hin.
Deine wunden fächer sind mir breite dächer, da ich sicher bin.
Ob der feind für grimme greint, ob er blitz und feuer speyet,
höllenmarter dräuet.

Lied Nr. 740, das insgesamt 19 Strophen umfasst, ist weder das einzige Lied, das der „Vulva Jesu“ gewidmet ist. Hier und in weiteren Liedern erscheint sie als erotisch aufgeladener Sehnsuchtsort („O! wie rein ist doch dein blut, Jesu, meine wonne, schneeweiß ist die wunderfluth, heller denn die sonne. Ganz und gar hell und klar werden dort die deinen durch dein blut erscheinen“ Schemelli, Lied Nr. 777, 11).

Jesu „fluide“ Geschlechtsidentität begegnet der Seele nicht als abstraktes, realitätsfernes Ideal, sondern als seelsorgerischer Bezugsraum, der aufgesucht, und eingefordert werden kann. Zudem war die Seitenhöhle in barocken Gesangbüchern kein Fetisch verirrter Pietisten: Als Symbol für Taufe und Abendmahl lässt die dort geschilderte sinnliche Erfahrung auch andere Abendmalslieder in einem konkreteren Licht erscheinen (Lied Nr. 128, M: Herr Jesu Christ, ich schrei zu dir):

„Tilg allen haß und bitterkeit, O Herr, aus meinem herzen, laß mich die süend in dieser zeit bereuen ja mit schmerzen, du heisgebratnes osterlamm, du meiner seelen bräutigam, laß mich dich recht geniesen.“

Die Queerness Christi war kein skurriles Randthema, sondern in das Sakramentsverständnis einbezogen. Lieder wie diese mögen skurril und manchmal unfreiwillig komisch erscheinen, aber sie spenden Hoffnung. Auch wenn der Barock viel, aber sicher keine intersektionale queerfeministische Utopie war, lernen wir – in all seinen Stärken und Schwächen – dass eine andere Kirche möglich ist, und auch jeder ernste Traditionalist queeren Perspektiven Raum einräumen sollte.

Damit sollte auch klar sein, dass das Lesen barocker Gesangbücher und die folgenden Sprachspiele keinem traditionell-kulturprotestantischen Selbstzweck dienen sollten. Barocke Theologie hält kein Rezept für die Rettung oder Rekonstitution der einstigen kirchlichen Relevanz bereit: Vielmehr gilt es, mit ihren sprachlichen und gesanglichen Versatzstücken zu spielen und zu experimentieren. Ohnehin scheint mir dieser Zugang am geeignetsten, der Spannung zwischen Ernst und (unfreiwilligen) Komik der barocken Texte und ihren Sprachbildern gerecht zu werden.


mind_the_gap – Vergessene Kapitel der Kirchengeschichte

In der Serie „mind_the_gap“ stöberte Flora Hochschild in der Eule im Frühjahr / Sommer 2024 vergessene Kirchengeschichte(n), gottesfürchtige Abenteurer:innen und verborgene Wahrheiten aus der Frühen Neuzeit auf.

Alle „mind_the_gap“-Kolumnen von Flora Hochschild hier in der Eule.

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