Seenotrettung: Das Zögern vor dem letzten Schritt
Über die politische Dimension der Seenotrettung ist erneut Streit ausgebrochen. Auslöser war eine Antifa-Fahne an Bord der „Sea-Watch 4“, unterdessen rettete die Crew auf ihrer letzten Fahrt 455 Menschen. Eine Analyse der christlichen Seenotrettung.
Am 4. Mai erreichte die „Sea-Watch 4“ nach insgesamt sechs Rettungseinsätzen auf ihrer zweiten Mission den Hafen Trapani auf Sizilien, der ihr von den Behörden als sicherer Hafen zugewiesen wurde. An Bord: 455 gerettete Menschen, unter ihnen auch unbegleitete Minderjährige.
Nachdem gestern Nacht unsere Gäste vollständig und sicher an Land gehen konnten, gibt es weitere gute Nachrichten: Alle 455 Geretteten und die 29 Crew-Mitglieder der #SeaWatch4 wurden negativ auf COVID-19 getestet. pic.twitter.com/Qk3OXoX1Im
— Sea-Watch (@seawatchcrew) May 5, 2021
Die zweite Mission der „Sea-Watch 4“, die im Herbst und Winter 2020/2021 über viele Monate hinweg von den Behörden festgesetzt worden war, ist ein ganzer Erfolg. Auf ihrer Mission wurde die Crew erneut Zeugin mehrerer Pushbacks durch die libysche Küstenwache. Womöglich völkerrechtswidrig unterstützt durch Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache. Über die Rolle, die Frontex-Aufklärungsflugzeuge (und wohl bald auch Drohnen) bei den illegalen Zurückführungen spielen, hat zuletzt auch das ARD-Magazin „Monitor“ berichtet.
Seit Monaten und Jahren überschlagen sich rechte Aktivisten im Netz: Die Seenotrettung auf dem Mittelmeer sei „Schlepperdienst“ und ihre Unterstützung durch die Kirchen politisches Handeln, das den Religionsgemeinschaften nicht zustünde. Neues Futter hat der Konflikt in den vergangenen Wochen erhalten, weil auf dem #United4Rescue-Bündnisschiff „Sea-Watch 4“ als Reaktion auf einen Angriff eine Antifa-Fahne aufgehängt wurde. Der aktuelle Streit offenbart ein Missverständnis, welches das kirchliche Engagement für die Seenotrettung auf dem Mittelmeer von Anfang an begleitet.
Ein Blick zurück
„Als Kirche dürfen wir dem Scheitern der europäischen Regierungen nicht zusehen. Kleine symbolische Schritte zur Aufnahme von Flüchtlingen sind wichtig, aber beenden das Sterben im Mittelmeer durch die fehlende Seenotrettung und die fehlenden sicheren Fluchtwege nicht“, heißt es in der Resolution „Schicken wir ein Schiff!“ des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentages (DEKT) von 2019. „Daher fordern wir die EKD und ihre Gliedkirchen auf, selbst mutig zu handeln: Schickt selbst ein Schiff in das tödlichste Gewässer der Welt.“ Eingebracht wurde die Resolution von den DEKT-Präsidiumsmitgliedern Sven Giegold (MdEP, Die Grünen) und Beatrice von Weizsäcker sowie drei PfarrerInnen.
Die Kirchentags-Resolution und der paradigmatische Satz aus der Schlusspredigt des Kirchentages von Sandra Bils – „Man lässt keine Menschen ertrinken! Punkt!“ – lösten innerhalb der Evangelischen Kirche eine Dynamik aus, die der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, aufnahm. „Dass Menschen sterben, ist etwas, was nie jemand hinnehmen kann – erst recht nicht Menschen, die sich dem christlichen Glauben verpflichtet fühlen“, sagte Bedford-Strohm der FAZ im Herbst 2019.
Der Verein Gemeinsam Retten e.V. wurde gegründet und das Bündnis #United4Rescue ins Leben gerufen. Aus der Idee eines „Kirchenschiffs“ wurde die Realität eines „Bündnisschiffs“. Die EKD unterstützt das Anliegen ideell und strukturell – bis heute ist die Vereinsadresse die des EKD-Kirchenamtes in Hannover, die Vereinsmitglieder sind in Leitungsämtern der Evangelischen Kirche engagiert -, eigene Haushaltsmittel aus Kirchensteuereinnahmen aber stellte sie für die Seenotrettung nicht zur Verfügung. Das hatte eine Sitzung des Rates der EKD im Nachgang des Kirchentages ergeben.
Bedford-Strohms öffentlichem Engagement ist es zu verdanken, dass #United4Rescue eine Erfolgsstory wurde. Binnen kürzester Zeit konnte das notwendige Geld für ein neues Seenotrettungsschiff gesammelt werden. Einige Landeskirchen beteiligten sich aus ihren Haushaltsmitteln, z.B. die Evangelische Kirche im Rheinland (EKiR) mit 100 000 €. Auch Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, spendete 50 000 € aus seiner erzbischöflichen Kasse. Den Großteil der Spenden aber trugen Privatleute, Gemeinden sowie kleine Gruppen und Vereine bei.
Ein breites Bündnis für die Seenotrettung
Auf diesem Weg engagierte sich zum ersten Mal eine bunte Mischung von Menschen für die zivile Seenotrettung, die dadurch auch aus der Nische des politisch linken Spektrums heraustrat. Für eine Weile schien es so, dass die Seenotrettung auf dem Mittelmeer ein großes, die politischen Lager transzendierendes Anliegen sei: Ein Projekt, das sowohl von konservativen Evangelikalen als auch liberalen Protestanten, katholischen Lebensschützer:innen und linken Aktivist:innen unterstützt wird.
Auf der EKD-Synode im Herbst 2019 betonte Bedford-Strohm, dass der Einsatz für die Seenotrettung weit über die Grenzen der eigenen Mitgliedschaft und vor allem bei jungen Menschen positive Resonanz findet. Gleichwohl gab es immer auch innerkirchliche Kritik und nicht wenige Kirchenaustritte, die mit dem „politischen Aktivismus“ der Kirche in Sachen Seenotrettung begründet wurden.
#United4Rescue erwarb im Januar 2020 gemeinsam mit der Seenotrettungsorganisation Sea Watch das ehemalige Forschungsschiff „Poseidon“, im Februar 2020 wurde es von der Vizepräsidentin des schleswig-holsteinischen Landtags Aminata Toure (Die Grünen) auf den Namen „Sea-Watch 4“ getauft. „Das Schiff muss unterwegs sein, weil die Staaten Europas es nicht intendieren und schaffen, Menschen im Mittelmeer zu retten“, rechtfertigte Bedford-Strohm, laut KNA, zu diesem Anlass den Einsatz. Das Schiff sei damit auch ein „politisches Zeichen“.
Im Anschluss an die Taufe in Kiel wurde das Schiff in Spanien umgerüstet und lief im August 2020 zu ihrer ersten Rettungsmission aus. Die „Sea-Watch 4“ gehört seit ihrer Taufe den Seenotrettungsorganisation Sea Watch, am operativen Geschäft ist #United4Rescue nicht beteiligt. Doch bereits am Ende ihrer ersten Mission im September 2020 wurde das Schiff im Hafen von Palermo festgesetzt.
Die italienischen Behörden führten als Gründe dafür an, die Rettung von Menschenleben entspräche nicht der Registrierung des Schiffes, es wären zu viele Rettungswesten an Bord und das Abwassersystem sei nicht für die Anzahl der geretteten Personen ausgelegt. Sandra Bils vom Bündnis #United4Rescue hielt gegenüber der FAZ fest, dass „die italienische Regierung nicht nur die Retter, sondern auch die mehr als 600 Partner“ des Bündnisses „kriminalisiere“. Der rheinische Präses Manfred Rekowksi, Vorsitzender der Kammer für Migration und Integration der EKD, bezeichnete die Festsetzung als „humanitäres Armutszeugnis“.
Erfolgreiche Missionen, politische Rückschritte
Damit wurde es zunächst still um die „Sea-Watch 4“ und das kirchliche Engagement für die Seenotrettung. Im Bericht des Ratsvorsitzenden auf der EKD-Synode Anfang November 2020 fand die Seenotrettung kaum Erwähnung. Beobachter:innen war schon vor der ersten Rettungsfahrt des „Bündnisschiffes“ klar, dass eine mögliche, ja sogar wahrscheinliche Festsetzung des Schiffes die eigentliche Nagelprobe des kirchlichen Einsatzes für die Seenotrettung darstellen würde und eine Bruchstelle im breiten gesellschaftlichen Bündnis bedeutet, das die Kirche zusammengebracht hat.
Vereine gründen, Spenden sammeln, viele der eigenen Leute überzeugen, gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Unterstützung generieren, schließlich ein Schiff kaufen und den Seenotretter:innen zur Verfügung stellen – all das vermochte „die Kirche“ vermittels des Bündnisses #United4Rescue. Das Feld des politischen Aktivismus aber betritt sie nur zögerlich. Wohl auch, weil sie darum weiß, dass zwar das Retten von Menschenleben, aber nicht der als politisch links codierte Aktivismus von den innerkirchlichen Partnern mitgetragen wird.
Im Eule-Liveblog zur EKD-Synode 2020 berichtete die Journalistin Constanze Broelemann, die für ref.ch und in den „Seenotizen“ auf evangelisch.de den Einsatz begleitete, von der Festsetzung des Schiffes und den juristischen Bemühungen, die Sea Watch dagegen anstrengte. Das schien Philipp Hahn, dem Einsatzleiter an Bord der „Sea-Watch 4“, „auch der Grund zu sein, warum die EKD sich überhaupt an der ganzen Seenotrettung beteiligt hat. Eben weil man sich zu diesen Zeiten klar positionieren will. Man will auf der „guten Seite“ der Geschichte stehen“. Constanze Broelemann zog trotz der Festsetzung ein positives Fazit: „Natürlich ist die Mission ein Erfolg. Es wurden 354 Menschen aus dem Meer gerettet.“ Die „Sea-Watch 4“ musste sechs Monate lang im Hafen bleiben.
2020 wurden insgesamt sechs Schiffe der zivilen Seenotrettung von den Behörden festgesetzt. Oft, ohne dass die Öffentlichkeit in Deutschland davon große Notiz nahm. Die Seenotrettungsorganisation SOS MEDITERRANEE geht von „mindestens 779 Frauen, Männern und Kindern“ aus, die auf dem zentralen Mittelmeer in dieser Zeit starben oder bis heute vermisst werden. Über 11 000 Menschen wurden laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in libysche Lager zurückgebracht. „Die Einführung einer europäischen Seenotrettung, die internationales Recht einhält, ist der schnellstmögliche Weg, um die humanitäre Katastrophe im Mittelmeer 2021 zu beenden“, erklärt Jana Ciernioch von SOS MEDITERRANEE. „Außerdem brauchen wir in der EU echte Solidarität mit den europäischen Küstenstaaten bei der Verteilung der Geretteten.“
Gegen illegale Pushbacks und für „Sichere Häfen“ in der Europäischen Union setzt sich die Organisation Seebrücke ein. Ihr gehören auch mehrere evangelische Organisationen an. 246 Kommunen in Deutschland haben sich selbst inzwischen zu „Sicheren Häfen“ erklärt, und wollen geflüchtete Menschen aufnehmen. Ein Ansinnen, das bisher von der Bundesregierung unterbunden wird. Die bundesweiten Demos im Juli 2019 zur Unterstützung der Seebrücke unterstützte auch der EKD-Ratsvorsitzende.
Bereits im Juni desselben Jahres hatten Bedford-Strohm und der Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, im sogenannten „Palermo Appell“ zu einer „Koalition der Willigen“ aufgerufen, „denn Menschen ertrinken lassen oder in die Lager Libyens zurückschicken, kann keine Option für Europa sein“. Das Jahr 2019 dürfe „nicht zu einem verlorenen Jahr für die Seenotrettung im Mittelmeer werden“. Orlando erklärte Bedford-Strohm und die Organisation Sea Watch zu Ehrenbürgern seiner Stadt.
„Wir schicken noch ein Schiff“
Mit den Festsetzungen durch die Behörden gehen die Seenotrettungs-Organisationen unterschiedlich um. Sie versuchen, die Auflagen schnellstmöglich zu erfüllen, um möglichst bald wieder im Einsatz zu sein, sie strengen – zum Teil noch anhängige – juristische Verfahren an und sie schicken weitere Schiffe für die Seenotrettung.
Mitte November 2020 gab #United4Rescue bekannt, ein weiteres Rettungsschiff ins Mittelmeer zu entsenden, diesmal gemeinsam mit der Rettungsorganisation Sea Eye. Sea Eye wurde bereits Anfang 2020 von #United4Rescue unterstützt, als das Bündnis mit 79 000 € Kosten übernahm, die durch die lange Blockade- und Quarantänezeit des Sea Eye-Schiffes „Alan Kurdi“ angefallen waren. Bereits im Februar 2021, nach nur vier Monaten Spendenkampagne, konnte #United4Rescue bekannt geben, dass genügend Spenden eingegangen waren, um Kauf und Umbau eines neuen Rettungsschiffs, der „Sea-Eye 4“, zu ermöglichen. Mit 75 000 € beteiligte sich u.a. auch die Evangelische Landeskirche in Württemberg (ELKWUE) an diesem Projekt.
Die „Sea-Eye 4“ ist deutlich größer und besser ausgestattet als die „Alan Kurdi“, das bisherige Rettungsschiff der Organisation Sea Eye. Im April 2021 wurde sie von Rostock nach Spanien überführt, an Bord Bischof em. Michael Wüstenberg, der im Interview mit der KNA von seiner Reise berichtet („Es ist ein Skandal, wie Europa sich verhält“). Kauf und Umbau der „Sea-Eye 4“ wurden maßgeblich von #United4Rescue ermöglicht, auch ein großer Teil der Missionskosten wird vom Bündnis getragen. Die Überfahrt der „Sea-Eye 4“ ins Mittelmeer wurde von den katholischen (Erz-)Bistümern München und Freising, Paderborn und Trier finanziert. Insgesamt beläuft sich die Förderung aus Bündnisgeldern auf fast 900 000 €.
„Die Sea-Eye 4 ist nicht nur ein weiteres Rettungsschiff, welches im Mittelmeer Menschen vor dem Ertrinken rettet“, erklärt Thies Gundlach, Vorsitzender von #United4Rescue und im Brotberuf Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD, „sie ist auch ein Symbol dafür, dass wir […] nicht nachlassen werden im Einsatz für Menschlichkeit.“ In den nächsten Tagen soll die „Sea-Eye 4“ zu ihrer ersten Rettungsmission auslaufen. Unterdessen ist es Sea Eye auch gelungen, die „Alan Kurdi“ auf dem Klageweg frei zu bekommen. Sie wird gegenwärtig in einer spanischen Werft auf ihre nächste Mission vorbereitet.
Während #United4Rescue gemeinsam mit seinen Bündnispartnern neue Seenotrettungsschiffe in Dienst stellt und vorhandene ertüchtigt, gibt es politisch nur weitere Rückschritte zu verzeichnen. Ende April 2021 verlängerte der Deutsche Bundestag das Mandat der Bundeswehr sich weiterhin an der Operation IRINI zu beteiligen, in deren Rahmen die libysche Küstenwache ausgebildet und ausgestattet wird.
Durch die Präsenz der Seenotrettungsschiffe auf dem Mittelmeer und die damit verbundene Berichterstattung rücken jedoch immerhin die völkerrechtswidrigen Pushbacks der libyschen Küstenwächter erneut in den Fokus der Aufmerksamkeit. Solange die Schiffe fahren, werden Menschen aus Not gerettet, und stehen Frontex und die libysche Küstenwache unter verschärfter Beobachtung. Allein, an der politischen Unterstützung für das EU-Grenzregime auch durch die Bundesregierung ändert das bisher nichts.
Proteste gegen die Antifa-Fahne
Zur Unzeit erwischte die Evangelische Kirche und ihren Ratsvorsitzenden darum die Debatte um die an Bord der „Sea-Watch 4“ angebrachte Antifa-Fahne. Mehrere CDU-/CSU-Politiker, darunter der ehemaligen Unions-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder, forderten die EKD auf, die Fahne vom Schiff entfernen zu lassen. Derweil wütete im Netz – aufgestachelt von einschlägigen rechtspopulistischen Medien – der rechte Mob. „Ich würde es ausdrücklich begrüßen, wenn die Flagge alsbald eingeholt wird, da die Diskussion darum das eigentliche Anliegen der Seenotretter zunehmend unsichtbar macht“, erklärte Bedford-Strohm gegenüber dem epd.
Auf Nachfrage der Eule wurde er noch deutlicher: „Die Seenotrettung hat das Ziel Menschen zu retten und ist keine allgemein-politische Erklärung. Ich gehe davon aus, dass [die Fahne] da nicht mehr lange hängen wird – wenn sie überhaupt noch hängt.“ Antifaschismus sei „ein breiter Begriff, und es ist glasklar, dass jeder, der den Begriff Antifaschismus dadurch ruiniert, dass er Gewalt anwendet oder dazu aufruft oder sich nicht klar davon abgrenzt, der Sache schadet“, so Bedford-Strohm weiter.
Das Bündnis #United4Rescue hielt demgegenüber in einer eigenen Stellungnahme fest: „United4Rescue hat wie alle Demokrat:innen ein antifaschistisches Grundverständnis. […] Das Hochziehen eine Antifa-Flagge und das daraus resultierende Bekenntnis zur einer antifaschistischen Grundhaltung ist keineswegs identisch mit der Zustimmung zu Gewalt und Linksextremismus.“ Man sehe daher keinerlei Anlass die Partnerschaft mit Sea Watch in Frage zu stellen, das Schiff befände sich weder im Eigentum von #United4Rescue noch sei man am operativen Einsatz beteiligt.
Konzentration auf das Wesentliche
Alle an der christlichen Seenotrettung Beteiligten – die EKD, das Bündnis #United4Rescue und Sea Watch – wollen dringend, dass die öffentliche Aufmerksamkeit den erfolgreichen Rettungsmissionen gilt. Anfragen der Eule zur Antifa-Fahne wurden daher knapp beantwortet. „Im Gegensatz zu Politiker*innen, die dem massenhaften Sterbenlassen im Mittelmeer tatenlos, schweigend oder hetzend zusehen, haben wir derzeit keine Zeit, uns wochenlang über eine Fahne an Bord eines Schiffs auszulassen“, teilte Sea Watch der Eule mit.
Gleichwohl gibt es durchaus die Sorge, dass Aufrufe wie die von Volker Kauder bis zur Klärung des Sachverhalts nicht weiter für die Seenotrettung zu spenden, nicht ungehört verhallen. Konservative christliche Gemeinden und Organisationen könnten sich dadurch verunsichert fühlen. Wie die Eule erfahren hat, musste das #United4Rescue-Bündnis in den vergangenen Tagen diesbezüglich Anfragen von Unterstützer:innen beantworten. Die Kampagne gegen die Seenotrettung trägt also durchaus Früchte.
Sie macht sich einen Widerspruch in der kirchlichen Kommunikation zu Nutze, der seit den Festsetzungen der Rettungsschiffe im vergangenen Jahr offenbar geworden ist. #United4Rescue hat ein breites gesellschaftliches Bündnis für die Seenotrettung geschmiedet, das praktische Handeln aber ist weiterhin vor allem Sache linker Aktivist:innen. Kirche und Aktivist:innen eint das gemeinsame Anliegen Menschenleben zu retten, aber sie trennt eine unterschiedliche politische Kultur.
Um politische Veränderungen zu provozieren, gehen linke Aktivist:innen auf Konfrontationskurs auch mit den nationalen und europäischen Behörden. Die Evangelische Kirche mahnt und warnt, aber zum lauten Protest oder gar Widerstand gegen staatliche Akteure ruft sie nicht auf. Die Seenotrettungsmissionen sind ein Erfolg, weil Menschen gerettet werden. Politisch haben sie bisher zu wenig ausgetragen. Und das liegt auch daran, dass die Kirche die Grenze zum politischen Aktivismus nicht überschreiten will.
Mehr politischen Einsatz wagen?
Nach dem Willen der Seenotretter:innen soll es um die Rettungsmissionen gehen, nicht um die Beschwerden von Rechtsradikalen, die von konservativen Politiker:innen aufgenommen werden. Aber es ist damit eben nicht genug: Es muss dringend auch um die Politik hinter den Pushbacks, hinter dem EU-Grenzregime gehen. Heinrich Bedford-Strohm war mit seiner vormaligen Einschätzung, die Rettungsschiffe seien auch „politische Zeichen“, auf dem richtigen Pfad. Demgegenüber stellt seine Distanzierung von einer mit der Seenotrettung verbundenen „allgemein-politischen Erklärung“ einen Rückschritt dar.
Natürlich ist die Seenotrettung politisch. Soll das langjährige Engagement, sollen die vielen Spenden nachhaltigen Erfolg zeitigen, muss die Kirche sich viel stärker gegen das EU-Grenzregime verwenden. Das würde bedeuten, sich bei den im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien für die Aussetzung des Bundeswehreinsatzes bei der IRINI-Mission einzusetzen und auf vielen Ebenen gegen Frontex zu opponieren. Die EKD-Vertretungen in Berlin und Brüssel müssten auf einen weitaus konfrontativeren Weg gegenüber den Regierungen einschwenken, der von den Seenotrettungs-Organisationen vorgegeben wird. Immerhin sind nicht wenige Bundestagsabgeordnete und ist sogar EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) Mitglied der Evangelischen Kirche.
Die Evangelische Kirche zögert in ihrem Engagement für die Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen vor dem letzten, nur konsequenten Schritt: Mit dem Geld vieler Christen und Kirchen werden auf dem Mittelmeer Menschenleben gerettet, um der völkerrechtswidrigen EU-Grenzpolitik aber ein Ende zu setzen, braucht es ihren politischen Einsatz.