„So wahr mir Gott helfe“ und Identitätspolitik
Wer ist in der neuen Bundesregierung wie gut repräsentiert? Und was hat es zu bedeuten, dass der Kanzler und mehrere MinisterInnen auf die Formel „So wahr mir Gott helfe“ verzichten? Ein Kommentar.
Gestern wurde der neue Bundeskanzler Olaf Scholz gewählt, anschließend wurden er und seine Regierung ernannt und vereidigt. In den vergangenen Tagen brodelten die Nachrichten und Sozialen Medien von Diskussionen über unterschiedliche Repräsentanz-Probleme über und gestern wurde, zumindest unter den religionsinteressierten Beobachter:innen, über die religiöse Beteuerung am Ende des Amtseides von Kanzler und MinisterInnen diskutiert – oder vielmehr über ihr Fehlen.
Bei den Grünen nutzte keineR der fünf neuen MinisterInnen die religiöse Formel „So wahr mir Gott helfe“, dafür alle vier FDP-MinisterInnen. Bei der SPD beließen es Kanzler Scholz, Svenja Schulze (Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) und Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt bei der Version ohne Gott, der Rest (fünf) beteuerte mit seinem Beistand. Darunter der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der die Hilfe des Höchsten bei der Pandemie-Bekämpfung sicher gut gebrauchen kann.
In beiden Diskussionen offenbart sich eine erstaunliche Naivität gegenüber der Regierungsbildung. Da wird zum ersten Mal in der Geschichte des wiedervereinigten Landes eine Drei-Parteien-Regierung gebildet – mit allen Schwierigkeiten, die das gerade bei den Personalfragen mit sich bringt – und das Volk in den Sozialen Medien verliert sich in identitätspolitischen Fragestellungen. Ich bin erstaunt, wer diesen – im Kern rechten – Diskursen auf den Leim geht. Ein kurzer Durchgang:
Zu wenig Ossis, kein Bayer und NRW en masse
Es sind genügend „Ossis“ in der Regierung: Nicht nur sind da die neuen Bundesministerinnen Steffi Lemke (Grüne, Umwelt, Sachsen-Anhalt) und Klara Geywitz (SPD, Bauen, Brandenburg), auch der Ostdeutschland-Beauftragte Carsten Schneider (SPD, Freistaat Thüringen) und die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Reem Alabali-Radovan (SPD, Mecklenburg-Vorpommern), beide im Rang von StaatsministerInnen, gehören der Ampel-Regierung an. Dass ausgerechnet die Integrationsbeauftragte aus dem Osten kommt, ist vielleicht Zufall, könnte aber ein Wink des Schicksals sein.
Es hat sich kein:e Sächs:in für ein Regierungsamt gefunden. Auch das ist wenig verwunderlich, kommt man doch im Freistaat kaum an der CDU vorbei. Davon können SPD, FDP und Grüne ein Lied singen, die dort in wechselnden Koalitionen mit der „Sachsenunion“ regieren müssen. Dass insbesondere die SPD bei der letzten Bundestagswahl dank Scholz-Bonus und Mindestlohn-Versprechen sehr gut abgeschnitten hat, kann durchaus ein Solitär bleiben. Jedenfalls deuten die Performances von SPD und Grünen in der sächsischen Landesregierung nicht darauf hin, dass man die Gunst der Stunde zu nutzen vermag.
In Nordrhein-Westfalen hingegen wohnen nicht nur echt viele Menschen, sondern engagieren sich auch parteipolitisch – anders als im institutionenkritischen Osten. Da finden sich neben Sozialdemokrat:innen und Christdemokrat:innen sogar so viele Grüne, dass sie ihren neuen Bundestags-Fraktionsvorstand ganz mit Frauen aus dem bevölkerungsreichsten Bundesland besetzen konnten. Also: Wer mehr Sachsen und Ossis in der Bundesregierung sehen will, muss im Osten mehr Parteipolitik wagen.
Außer der neuen Kulturstaatsministerin und alten Punkerin Claudia Roth (Grüne) ist auch kein:e weitere Bayer:in Teil des Teams. Buhu! Das müsste doch all diejenigen nachdenklich stimmen, die die neue Regierung nach solchen Partikular-Kriterien durchleuchten, oder? Wer wünscht sich ernstlich eine:n Minister:in wie den ehemaligen Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU), der noch bis in die letzten Minuten seiner Dienstzeit sein Ministeramt vor allem als Versorgungsstelle für seine unmittelbare Community missversteht?
Nicht Partikularinteressen, sondern dem Lande dienen
Auch die Kirchen können sich über mangelnde Repräsentation in der neuen Regierung übrigens nicht beklagen: Nicht nur befinden sich unter den MinisterInnen natürlich Kirchenmitglieder, das EKD-Ratsmitgied Kerstin Griese (SPD) wurde erneut zur Parlamentarischen Staatssekretärin im Ministerium für Arbeit und Soziales von Hubertus Heil (SPD, evangelisch) berufen. In beiden Ämtern wird sie die Neuerungen beim (kirchlichen) Arbeitsrecht mitzugestalten wissen, die auf der Agenda stehen.
Heil selbst gehört dem Präsidium des Evangelischen Kirchentages an, genauso wie Sven Giegold (Grüne), der beim „säkularen Christen“ Robert Habeck Staatssekretär im Wirtschafts- und Klimaschutzministerium ist. Und auch die neue Bauministerin Klara Geywitz ist nicht nur im Osten, sondern auch in der evangelischen Kirche verwurzelt und hervorragend vernetzt. Als Landespolitikerin in Brandenburg hat sie in der Vergangenheit sehr segensreich gewirkt, eine Abraham-Geiger-Plakette erhält man nicht umsonst. Für Diakonie und Caritas ergeben sich als Partnerinnen der Regierung bei ihrem Ziel von 400 000 neuen Wohnungen ungeahnte Möglichkeiten, eigene Überzeugungen von sozialem Wohnungsbau und Gemeinschaftsleben einzubringen.
Ja, Repräsentationsfragen sind wichtig! Ich würde behaupten, sie sind mir persönlich sogar wichtiger als der Mehrheit der Bevölkerung. Ich freue mich, dass mit dem Regierungswechsel so viele Frauen wie nie zuvor in Deutschland in herausragenden Positionen politisch wirken werden. Es ist mir auch nicht egal, wenn der Osten, Menschen mit Einwanderungsgeschichte und religiöse Minderheiten überhaupt nicht repräsentiert werden.
Aber erstens ist das schlicht nicht der Fall und zweitens torpediert ein Beharren auf Proporzen, wenn man den Ansatz konsequent zu Ende denkt, den sicher nicht unsinnigen Gedanken, dass hier eine neue Bundesregierung angetreten ist, die sich vorgenommen hat, das ganze Land zu regieren – und nicht Partikularinteressen zu bedienen. Auch muss man sich einmal von dem Gedanken emanzipieren, dass nur eine Person, die mit den Aufgaben ihres neuen Ministeriums von der Wiege an vertraut ist, einen guten Job machen kann.
Mit oder ohne Gottes Hilfe
Dieser schwierigen Aufgabe stellen sich nun also mitten in der „größten Krise, die dieses Land seit dem 2. Weltkrieg erlebt hat“ (O-Ton Jens Spahn bei der Amtsübergabe an Lauterbach) mutige Frauen und Männer. Dabei kann ein wenig Hilfe von oben nicht schaden, oder?
Mit Sicherheit haben darum einige der MinisterInnen gestern die religiöse Formulierung „So wahr mir Gott helfe“ gewählt. Insgesamt haben übrigens nicht mehr MinisterInnen die „Gottesformel“ ausgelassen, als es von einer Ampel-Regierung zu erwarten war. Bitte, wer gerne 100 % religiöse Beteuerung will, der mag CSU/CDU wählen und schauen, wie weit man mit dem Versprechen einer christlichen Politik kommt!
Man kann sich auch wie Hedwig Richter und Antje Schrupp fragen, ob in der Formel nicht mehr als der persönliche Glaube, nämlich vor allem Demut vor der Aufgabe, ausgedrückt wird. Man kann darauf hinweisen, dass eine Eides-Bestätigung kein Hilferuf der gläubigen Seele ist, sondern eine Verzweckung Gottes.
Man darf sich ebenso darüber wundern, dass der aus der römisch-katholischen Kirche ausgetretene neue Bundesminister der Finanzen Christian Lindner (FPD) die Formel sprach, während die neue Bundesministerin des Auswärtigen Annalena Baerbock (Grüne) auf sie verzichtete, obwohl sie doch Mitglied in der evangelischen Kirche ist. So sieht sie aus, die Selbstsäkularisierung des Protestantismus.
Aber dann ist auch wieder gut mit diesen Spitzfindigkeiten. Wie fromm oder unfromm ein Mensch ist, kann man anhand der Nutzung der Formel gerade nicht ablesen. So gab und gibt es tief gläubige Christ:innen, die auf die Nutzung verzichten, weil davon in der Bergpredigt explizit abgeraten wird. All das ist Teil unserer auch religiös pluralen Gesellschaft. Ich freue mich übrigens auf den Tag, da ein:e gläubige:r Muslim:a den Amtseid samt „So wahr mir Gott helfe“ sprechen wird.
Ob jemand sich für fromm hält oder nicht, aus welchen Gründen sie/er die religiöse Beteuerung nutzt oder nicht, ist für den Dienst in einer Bundesregierung von untergeordneter Bedeutung. Wer anders denkt, dem sei ein Blick auf den evangelikalen Präsidenten Brasiliens oder den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump empfohlen. Trump ist nicht fromm und ganz sicher nicht von christlicher Moral beseelt, aber kann sich bis heute der Unterstützung der „Frommen im Lande“ sicher sein, weil er die richtigen Schalter umzulegen versteht. Auf das Niveau einer solch naiven, rechten Identitätspolitik will ich mich nicht herunterziehen lassen. Ich halte es da lieber mit Dietrich Bonhoeffer, der dichtete:
Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,
sättigt den Leib und die Seele mit seinem Brot,
stirbt für die Christen und Heiden den Kreuzestod
und vergibt ihnen beiden.
Wer sich um die neue Regierung sorgt oder darum, wie christlich sie regieren wird, dem bleibt, was die EKD-Ratsvorsitzende, Präses Annette Kurschus (Westfalen), und der Vorsitzende der römisch-katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing (Limburg), gestern getan haben: Dem neuen Kanzler und seiner Regierung Gottes Segen zu wünschen – und sie in das eigene Gebet einzuschließen.
Ergänzung 9.12.2021, 10:20 Uhr: Der Artikel wurde um die Mitgliedschaft von Hubertus Heil und Sven Giegold im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages (DEKT) ergänzt.