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Staatsversagen in der Flüchtlingspolitik

Deutschland verrät in der Flüchtlingspolitik Recht und Gesetz. Unserer Grundwerte und die Zukunft des Landes werden einer nach Rechts schielenden Politik geopfert.

Die Rede vom Staatsversagen in der Flüchtlingspolitik ist unter Rechten und Konservativen eine beliebte Übung. Gefüttert wird dieses Vorurteil von immer neuen, zu Skandalen aufgeputschten Nachrichten über misslungene Integration oder Gewalt von Geflüchteten, die einschlägige Medien in Umlauf bringen und begierig aufgenommen werden. Das eigentliche Staatsversagen in der Flüchtlingspolitik ist jedoch ein anderes.

An zwei aktuellen Beispielen ist dies besonders zu beobachten: Dem Bremer BAMF-„Skandal“ und dem Angriff auf das Kirchenasyl.

Skandal ganz anderer Art

Der Bremer BAMF-„Skandal“ beschäftigte die Medien vor allem, als es um den Vorwurf ging, es wäre tausendfach zu Unrecht Asyl gewährt worden. Die Ergebnisse der angestrengten Untersuchungen spielen demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle. Zur Erinnerung: Die Staatsanwaltschaft sprach im April von  1 200 unrechtmäßigen Anerkennungsbescheiden, die in Bremen zwischen 2013 und 2016 erteilt wurden.

In einem vertraulichen Abschlussbericht des BAMF heißt es nun, dass unter allen seit dem Jahr 2000 erteilten 18 315 Annerkennungsbescheiden in 165 Fällen ein „grobes Hinwegsetzen über Vorgaben“ festgestellt wurde. Das entspricht 0,9 % aller Bremer Anerkennungsbescheide. Dem Bundesminister des Inneren und für Heimat Horst Seehofer (CSU) reicht das nicht. Die Bevölkerung müsse sich darauf verlassen können, dass die Asylrechtsverfahren „rechststaatlich einwandfrei“ abliefen.

Völlig aus dem Blick des Bundesministers und weiter Teile der Öffentlichkeit rutschen nach wie vor tausende Fälle fälschlich abgelehnter Asylgesuche. Unter dem politischen Druck, bestehende Asylverfahren schnell abzuarbeiten, fabriziert das BAMF Unmengen von fehlerhaften Bescheiden, die von den Verwaltungsgerichten gekippt werden. Das BAMF ist ohne die Gerichte außerstande, geordnete Asylverfahren „rechtsstaatlich einwandfrei“ zu garantieren.

Auf eine Anfrage der Fraktion der Linkspartei im Bundestag gestand die Bundesregierung zu Beginn des Jahres ein, dass in 40 % der 328 000 (!) eingereichten Klagen gegen ablehnende Bescheide Gerichte zu Gunsten der Geflüchteten entschieden. „Bei Flüchtlingen aus zwei der wichtigsten Herkunftsländer, Syrien und Afghanistan, ist die Erfolgsquote vor Gericht noch höher: jeweils mehr als 60 Prozent“, berichtet u.a. die Süddeutsche Zeitung.

Der eigentliche BAMF-„Skandal“ sind nicht die wenigen Dutzend oder Hundert fehlerhaft positiven Bescheide in Bremen und anderen Außenstellen der Bundesbehörde, sondern die massive Fehlerquote der Verfahren zu Ungunsten von Geflüchteten. Dieses Behördenversagen hat systemische Ursachen, die z.B. von ProAsyl regelmäßig und fundiert beklagt werden.

Statt dem Versagen seiner Bundesbehörde abzuhelfen, fällt Bundesminister Seehofer mit immer neuen Forderungen in der Flüchtlingspolitik auf. Das BAMF und das ihm übergeordnete Innenressort leiden unter einer jahrelangen inkompenten Führung durch Multi-Versagens-Minister Thomas de Maizère (CDU), Hans-Peter Friedrich (CSU), noch einmal de Maizère und nun Seehofer. Eine „rechtsstaatlich einwandfreie“ Arbeit des BAMF scheint unter Ministern der Union nicht durchführbar zu sein, stattdessen wird das BAMF für eine Politik missbraucht, die Stärke und Entschlossenheit bei der Bekämpfung von Zuwanderung zeigen will.

Kirchenasyl als Chimäre

Dass es den Unions-Innenministern nicht erst seit gestern darum geht, lässt sich am zweiten Beispiel beobachten: Nachdem unter Thomas de Maizère von Kirchen und BAMF ein geordnetes Verfahren zur Bearbeitung von Kirchenasylfällen verabredet wurde (s. #LaTdH vom 26. August), befleißigten sich Seehofer und seine „Law-and-Order“-Kollegen aus den Bundesländern dieser Tage, Kirchenasyle für Kirchengemeinden und die unter ihrem Schutz stehenden Geflüchteten nahezu zu verunmöglichen.

Unter dem Vorwand, es gäbe massenhaften Missbrauch des verabredeten Verfahrens, nimmt sich das BAMF auf Weisung der Innenminister nun bis zu 18 Monate Zeit, die Fälle zu bearbeiten. Im Extremfall sollen Menschen also anderthalb Jahre im Kirchenasyl ausharren, bis die erneute Prüfung ihrer Fälle abgeschlossen ist.

Denn darum geht es beim Kirchenasyl: Es gibt dem Staat die Möglichkeit, seine einmal getroffene Entscheidung noch einmal zu überprüfen, während die Geflüchteten zumindest in Sicherheit sind. Dabei wird das Kirchenasyl nicht außerhalb des Rechtsstaats durchgeführt, natürlich könnten auch aus Kirchen und Gemeindehäusern heraus Geflüchtete abgeschoben werden.

Laut der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche endeten von 725 dokumentierten Kirchenasylen, die 2017 beendet werden konnten, 716 Fälle mit einem positiven Ergebnis für die Geflüchteten (d.h. zumindest mit einer Duldung). Das entspricht einer „Erfolgsquote“ des Kirchenasyls von 98 %. Das Kirchenasyl ist kein Rechtsbruch, es hilft dem Recht auf die Sprünge. Manfred Rekowski, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, kritisiert die Verschärfungen im Kirchenasyl darum zu Recht als „Quäleinheiten für die Schutzsuchenden“: „Jedes einzelne Kirchenasyl erinnert den Rechtsstaat daran, dass er seine Praxis noch einmal überprüfen muss.“

Laut dem BAMF befinden sich zurzeit 1 009 Personen im Kirchenasyl (Stichtag: 5. Juli 2018). Die im Vergleich zu anderen Verfahren geringe Anzahl von Betroffenen und die hohe Quote von Korrekturen an den Asylverfahren lassen fragen, warum die Innenminister und ihr Rädelsführer Seehofer sich ausgerechnet auf das Kirchenasyl einschießen. Zugrunde liegt auch hier die wahnhafte Vorstellung, eine asyl-kritische Öffentlichkeit verlange ein hartes Vorgehen gegenüber Geflüchteten und Migranten.

Das alles ist ein unmäßiges Hinterherrennen hinter denen, die der Bundesregierung zu Unrecht Rechtsbrüche vorwerfen. Was jene eigentlich meinen, ist, dass ihnen eine humane Flüchtlingspolitik und Zuwanderung generell nicht passen. Mit Recht und Ordnung hat die Gängelung von Kirchgemeinden und Geflüchteten im Kirchenasyl nichts zu tun.

Fehlende Opposition

An beiden Beispielen wird überdeutlich, dass das eigentliche Staatsversagen darin besteht, dass Deutschland seinen vom Grundgesetz und internationalen Verträgen gebotenen Verpflichtungen gegenüber Geflüchteten und Migranten nicht nachkommt.

Ein sogar doppeltes Staatsversagen ist die gegenwärtige Flüchtlingspolitik darum, weil durch sie nicht „nur“ Gesetze unter die Räder kommen, sondern sie der Staatsräson des Landes zuwiderläuft. Besonders augenfällig wird das bei Abschiebungen von gut integrierten Geflüchteten und Migranten. Vom Versagen der Bundesregierung bei der Verabredung einer humanen, europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik und der vielbeschworenen Bekämpfung der Fluchtursachen ganz zu schweigen.

Die sich nur augenscheinlich an Gesetzen orientierende harte Flüchtlingspolitik ist dabei vor allem dem unsinnigen Ziel der Abschottung Deutschlands von Flüchtlingströmen und Migrationsbewegungen verpflichtet. Sie folgt nicht Humanität, Recht und Gesetz, sondern einem vermeintlichen „Volkswillen“, der sich nach Seehofer & Co. vor allem rechts der Mitte artikuliert.

Unterdessen ist die kritische Öffentlichkeit damit beschäftigt, gefährliche „Narrative“ der Rechten zu identifizieren und zu demaskieren, nicht ohne permanent selbst Bezug auf sie zu nehmen. Opposition gegen den Rechtsdrall und eine inhumane Flüchtlingspolitik sollte sich nicht an den Reden der Rechtsextremen und gewendeten Konservativen orientieren, sondern an den auf den Straßen liegenden Fakten und den Schicksalen der Geflüchteten.

Die Sozialdemokratie ist in der Flüchtlingspolitik gespalten und dazu noch durch die Regierungsbeteiligung im Bund an der Formulierung scharfer Oppositionspositionen gehindert. Gespalten auch die Linkspartei, und von der oppurtunistischen FDP und den beseelten Grünen ist auch deshalb wenig zu hören, weil sie sich nicht trauen, dem vermeintlichen Volkszorn eine „flüchtlingsfreundliche“ Politik entgegen zu stellen. Wer repräsentiert eigentlich die Mehrheit der Bürger dieses Landes, die sich noch bei der letzten Bundestagswahl für eine ebensolche Politik entschieden haben?

Selten konnte man darum in Deutschland angesichts der politischen Stellungnahmen der großen Kirchen dankbarer sein, die sich immer wieder auf die Seite der Geflüchteten stellen. Der Angriff auf das Kirchenasyl muss darum auch als Schlag gegen das Eintreten der Christen für die Geflüchteten verstanden werden. Ein Schlag, der von sich christlich schimpfenden Politikern geführt wird.